Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2014
Vor einer bedeutenden Kraftprobe

von DANIEL TANURO*

Der 24-stündige Streik, der die belgische Arbeiterklasse am Montag, den 15. Dezember mobilisiert hat, war ein enormer Erfolg. Das ganze Land ist vollkommen paralysiert worden: in Flandern, in Wallonien und in Brüssel, die Privatwirtschaft und die öffentlichen Betriebe, die Industrie und die Dienstleistungen, das Transportwesen und der Handel, die großen und die kleinen Unternehmen. Eine so massive Bewegung hat es seit dem Streik vom November 1993 (24-Stunden-Streik gegen den „plan global“ nicht mehr gegeben, doch mit dem Unterschied, dass dieser Streik des 15. Dezember hat ohne Fortsetzung bleiben dürfte.

In der gemeinsamen gewerkschaftlichen Front (front commun syndical aus FGTB, CSC, CGSLB, dem sozialistisch-sozialdemokratischen, dem christlichen und dem liberalen Gewerkschaftsdachverband) organisiert, ist dieser Streik tatsächlich die (vorläufig) letzte Etappe eines Aktionsplans gegen die unsoziale Sparpolitik der aus den Wahlen vom 25. Mai dieses Jahres hervorgegangenen Rechtsregierung. Dieser Aktionsplan wurde auf die Beine gestellt, sobald die neue von Charles Michel geführte Regierungskoalition installiert worden. Ihre erste Mobilisierung war eine Massendemonstration am 6. November in Brüssel, an der 130.000 teilgenommen haben. Dem folgten regionale Schwerpunkt-Streiktage in den Provinzen (am 24.11., am 1.12. und am 8.12.) Bei jeder neuen Etappe gab es mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

2011 hatte die von der sozialdemokratischen PS geführte Regierung seitens der Welt der Arbeit schwere Schläge einstecken müssen.

Um die Ereignisse verständlich zu machen, muss an den politischen Kontext erinnert werden. In Belgien werden die Angriffe auf die abhängig Beschäftigten seit 25 Jahren von Regierungen mit sozialdemokratischer Beteiligung durchgeführt. Nach der langen politisch-institutionellen Krise nach den Wahlen von 2010 mit dem Wahlsieg der flämisch-nationalistischen NVA in Flandern, meinte der sozialdemokratische Premierminister, er müsse, „um das Land zu retten“, diese Angriffe noch verschärfen, damit die traditionelle flämische Rechte die Liberal-Nationalisten schlagen und eine Koalition mit der Sozialdemokratie erneut zustande kommen könnte. Diese Politik – die die abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen die „Bagatelle“ von 20 Milliarden Euro kostete – war ein furchtbares Fiasko. Noch im Mai schien eine Erneuerung der Regierungskoalition mit sozialdemokratischer Beteiligung die wahrscheinlichste Variante. Doch zur allgemeinen Überraschung hat die französischsprachige liberale Partei, vom Königshaus mit der Regierungsbildung beauftragt, eine homogene Rechtskoalition mit den flämischen Christdemokraten, den liberalen Flamen und der NVA. Letztere hat sich einverstanden erklärt, ihre separatistischen Forderungen zurückzustellen, um dafür ein ultra-liberales Programm einzutauschen.

Heute will diese rechte Regierung das seit 1945 bestehende Sozialsystem vernichten.

Auf sozial-ökonomischer Ebene verlängert und vertieft das Programm der von Charles Michel geführten Regierung die unsoziale Sparpolitik ihrer Vorgängerregierung. Deren brutale Austeritätspolitik wird noch verschärft. Ins Werk gesetzt wird eine Kur des sozialen Rückschritts in Höhe von 11 Milliarden Euro. Lohnabhängige, Beamte, Sozialhilfeempfänger, Rentnerinnen und Rentner, Kranke und Invalide, Arbeitsplatzsuchende und Asylbewerberinnen und -bewerber: alle diese werden schwer getroffen, und ganz besonders die Jüngeren und die Frauen.

 

Die Führungsfigur der NVA, Bart de Wever beschreibt sich selbst als politischen Arm der VOKA, des flämischen Unternehmerverbands. Er ist nicht Minister geworden, aber er gibt den Ton an.

Diese ganze Regierung erscheint als Erfüllungsgehilfin der Bosse, mit einer wesentlichen Mission: die gewerkschaftlichen Organisationen in die Ecke zu drängen, ihr Gewicht im politischen Leben und in der Gesellschaft im Allgemeinen drastisch zu reduzieren. Doe großen Medien unterstützen dieses Projekt voll und ganz: angesichts des Streiks am 15. Dezember ganz besonders haben sie Kübel von Hasspropaganda über die Streikenden und die Gewerkschaften ausgegossen.

Die belgische Gewerkschaftsbewegung ist wenig politisiert, auf Klassenzusammenarbeit (Sozialpartnerschaft) ausgerichtet, ist aber sehr mitgliederstark (3,5 Millionen Mitglieder bei 10 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern) und gut organisiert. Sie beruht im Alltag auf der Aktivität von von Zehntausenden Aktivistinnen und Aktivisten, Vertrauensleuten und Verantwortlichen. Diese haben verstanden, dass sie mit etwas Neuem konfrontiert werden: mit dem Versuch die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft qualitativ zu ändern. Das alte Projekt des „starken Staats“ steht wieder auf der Tagesordnung, und in dessen Mittelpunkt steht das Vorhaben, das Streikrecht seines Inhalts zu betrauben.

Mehrere Zehntausend Aktive
organisieren den Kampf an der Basis

Es ist dieses Bewusstsein der Gefahr ebensosehr wie die Empörung der Aktiven angesichts der sozialen Regression, die die Gewerkschaftsführungen dazu gebracht hat, sich zusammenzutun und einen wirklichen Aktionsplan vorzuschlagen, und dieser Aktionsplan hat seinerseits die Aktiven dazu ermutigt, mit immer größerer Energie und wachsendem Enthusiasmus in Aktion zu treten. Zehntausende Männer und Frauen sind aktiv geworden, haben fliegende Streikposten organisiert, Straßensperren errichtet, Gewerbegebiete und Industriezonen im ganzen Land lahm gelegt.

Die Bewegung wird in der Bevölkerung sehr stark unterstützt. Das war schon bei der Demonstration am 6. November spürbar und hat sich seitdem immer weiter verstärkt. Diese Unterstützung kommt zum Beispiel durch breite Unterstützerkomitees von Künstlerinnen und Künstlern, Intellektuellen und Verbänden zum Ausdruck, die zur fortschreitenden Delegitimierung der Austeritätspolitik beitragen. Auf der ideologischen Ebene beginnt der Wind sich zu drehen. Enthüllungen über die rechtsextremistische Vergangenheit mehrerer NVA-Minister haben dabei eine Rolle gespielt, aber das Wesentliche ist die Ablehnung der sozialen Ungerechtigkeit, symbolisiert durch die Tatsache, dass Belgien ein Steuerparadies für die Recien und eine Steuerhölle für die anderen ist.

Sechs Monate nach den letzten Wahlen wird die von der NVA angeführte flämische Regionalregierung (die ebenfalls drastische Einschnitte im Haushalt vorgenommen hat) nur noch von ungefähr 35% der Bevölkerung unterstützt. Alle Regierungsebenen sind diskreditiert, auch die von der Sozialdemokratie geführte wallonische Regionalregierung, deren „Sparpolitik“ sich in keiner Weise von der „Austeritätspolitik“ der Bundesregierung unterscheidet. Die sozialdemokratische PS hatte davon geträumt, sich in der Opposition zu regenerieren, aber das aktuelle Klima der Radikalisierung und der Bewusstwerdung hindert sie daran. Die gemeinsame Gewerkschaftsfront stellt vier Forderungen: 1 Die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Kaufkraft durch freie Tarifverhandlungen und die Rücknahme des Aussetzens des Index, der automatischen Anpassung der Löhne an die Preisentwicklung 2 ein starkes bundesweites soziales Sicherheitssystem 3 Investitionen in den wirtschaftlichen Wiederaufschwung und in dauerhafte Erwerbsarbeitsplätze, was öffentliche Dienste in ansprechender Qualität mit einschließt 4 Steuergerechtigkeit.

Diese Palttform ist unzureichend (sie widerspricht weder der Lebensarbeitszeitverlängerung auf 67 Jahre noch fordert sie die Zurücknahme der massiven Ausschlüsse von sozialen Transferleistungen bei Arbeitslosigkeit, die von der vorhergehenden Regierungskoalition beschlossen worden waren. Doch die Regierung kann sich nicht erlauben, diesen Forderungen auch nur in einem Punkt nachzugeben. Vom ökonomischen Standpunkt aus, könnte sie auf die Aussetzung der Anpassung der Löhne an die Preise verzichten, die für die Unternehmer nur von minimaler Bedeutung ist. Doch vom politischen Standpunkt aus, würde ein solcher Rückzug als Zeichen der Schwäche gewertet und könnte so das ganze Regierungsprojekt gefährden. Sie könnte auch eine ausgewogenere Steuerpolitik versprechen, aber das würde nur der elementaren Gerechtigkeit zugutekommen, ohne neue Opfer zu Lasten der Welt zu rechtfertigen.

Die Gewerkschaftsapparate ihrerseits, können sich ohne wirkliche Erfolge vorzuweisen nicht vor ihre Basis hinstellen, die durch den Kampf an Selbstvertrauen gewonnen hat. Zurzeit versuchen sie, die Verhandlungen mit den Unternehmerverbänden wiederaufzunehmen, denen sie vorschlagen, ein gemeinsames Papier auszuarbeiten und der Regierung vorzulegen, eine „roadmap“ insbesondere zur Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, zu Lohnentwicklung und Reenten. Doch scheint die Verwirklichung dieses Szenarios unwahrscheinlich. In jedem Fall lässt die Regierung keinen Zweifel daran, dass sich eine solche „roadmap“ im Rahmen ihres eigenen Programms bewegen müsste.

Eine Konfrontation steht an

Alles deutet also auf das Herannahen einer bedeutenden Kraftprobe hin. Der halb-spontane Ausbruch eines Generalstreiks nach dem Bild desjenigen von 1960/61 ist kurzfristig nicht das wahrscheinlichste Szenario. Doch wenn die Regierung in den nächsten Tagen ihre Maßnahmen vom Parlament verabschieden lässt, werden die Gewerkschaftsführungen ihren Aktionsplan fortsetzen und radikalisieren müssen, was für sie darauf hinausläuft, den Tiger zu reiten. In diesem Fall, und wenn die Gewerkschaftseinheit dabei beibehalten wird, werden viele Dinge möglich.

Die radikale Linke findet in nicht zu unterschätzendem Maße Gehör, aber die Dynamik der Vereinigung, die für die Wahlen des 25. Mai ihren Ausdruck in der PTB-GO! gefunden hatte, fand keine Fortsetzung. Zum Teil ist das das Ergebnis der Entscheidung der PTB, vor allem auf ihren eigenen Aufbau zu setzen und ihre Beziehung zu den Gewerkschaften nach sozialdemokratischem Vorbild zu gestalten (indem sie sich vom Aufruf der FGTB Charleroi distanziert). Es gibt aber auch andere Orientierungen und Forderungen in der Bewegung; Im Gegensatz zur PTB verteidigt die LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire, Sektion der Vierten Internationale) die Idee, dass die Regierung Michel so schnell wie möglich gestürzt werden muss, und dass in der Gewerkschaftsbewegung eine Debatte über ein antikapitalistisches Dringlichkeitsprogramm begonnen werden muss, in der Perspektive des Kampfs für eine soziale Regierung.

* 15. Dezember 2014

 

 

 

 

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