von Paul Kleiser
In den Koalitionsverhandlungen in Thüringen verlangten die Grünen von den Verhandlungspartnern SPD und LINKE ultimativ, die vor 24 Jahren untergegangene DDR müsse im Koalitionsvertrag als «Unrechtsstaat» charakterisiert werden. Der «Einigungsvertrag» zwischen der BRD und der DDR von 1990 sprach noch von einem «Unrechtsregime», womit vor allem die Herrschaft der SED gemeint war.
Nun besteht keine Zweifel, dass Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung und viele andere Menschen in der DDR von Stasi und Polizei kujoniert wurden und politische Verfolgung erlitten haben. Nicht umsonst ist das «gelbe Elend» von Bautzen, der frühere Knast für Dissidenten, zu einer problematischen Attraktion für Besucher geworden. Außerdem ärgern sich viele Verfolgte verständlicherweise darüber, dass frühere Angehörige der Stasi und der Repressionsorgane der DDR nach der «Wende» schnell Karriere gemacht haben und ihren früheren Opfern zumeist arrogant gegenübertreten. So schreibt Roland Jahn, der Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde: «Aber unglaublich wenige Verantwortliche der Stasi und auch ihres Auftraggebers, der SED, haben sich zu ihrer Verantwortung für das begangene Unrecht in der DDR bekannt. Bis heute gibt es viel zu viel Beschönigung, Rechtfertigung, Schwamm-drüber-Mentalität. Und Schweigen.» (Bild am Sonntag, 3.Oktober 2014.) Dieser Sachverhalt ist nicht zu bestreiten, doch politische Kampfbegriffe wie «Unrechtsstaat» haben eben ihre eigene Geschichte, die bei solchen Charakterisierungen mitbedacht werden sollte.
In der Moderne spielt – das zeigen alle Massenbewegungen vom Mai 1968 bis hin zum «arabischen Frühling» – die Empörung über Unrecht und die Frage der Gerechtigkeit (auch in ihrem oft konfliktbeladenen Verhältnis zur Rechtsprechung) eine äußerst wichtige Rolle. So etwa die Verteilungsgerechtigkeit in der Kampfformel von Blockupy gegen das eine Prozent der Superreichen: «We are the 99%». Die Empörung über Unrecht steht am Beginn jedes wirklichen Kampfes um Emanzipation.
Das Unrecht ist nicht nur auf einer Seite
Hinsichtlich der historischen Einordnung der Konzeption von Rechtsstaat ist auffällig, dass sowohl das Grundgesetz wie auch die Verfassung der DDR in den liberalen und demokratischen Denktraditionen und Erfahrungen von sozialen Bewegungen stehen, wie sie in der Aufklärung und im Gefolge der Französischen Revolution entstanden sind und auch von der Arbeiterbewegung aufgenommen wurden. So spricht die DDR-Verfassung in Abschnitt II von der «Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit», die laut Artikel 30 «unantastbar» sind, der Meinungsfreiheit (Art.27), der Versammlungsfreiheit (Art. 28), der Vereinigungsfreiheit (Art.29), der Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art.31) usw.
Beide Verfassungen haben außerdem (dezidierter die DDR-Verfassung) einen antifaschistischen Charakter, was nach den blutigen Erfahrungen mit dem NS-Regime, vor allem aber der verheerenden Niederlage der Arbeiterbewegung, auch nicht verwunderlich ist. Das NS-Regime wollte im übrigen – in den Worten von Joseph Goebbels – die Ergebnisse von 1789 rückgängig machen.
In mehreren Urteilen hat das Karlsruher Verfassungsgericht verkündet, was es für den Kern eines Rechtsstaats hält: Die Achtung der («unveräußerlichen») Menschenrechte, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip sowie das Recht auf Bildung und Ausübung von Opposition. Sozialisten wissen nur zu gut, dass zwischen diesen Normen und der Realität der bürgerlichen Gesellschaft häufig große Gegensätze bestehen. Wer dies bezweifelt, möge die Bücher von Heinrich Hannover über die politischen Verfolgungen im westdeutschen Adenauer-Staat lesen. Oder aber die zahllosen Berichte und Erfahrungen über die Ausbeutungsmechanismen am Arbeitsplatz.
Doch in (post)stalinistischen Regimen wurde der Gegensatz zwischen der formalen Anerkennung der Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Solidarität und der Realität der Privilegien der Bürokratenkaste, die mit Repression und allgemeiner Bespitzelung verteidigt wurden, auf die Spitze getrieben. Insofern hat Werner Schulz von den Bündnisgrünen recht, wenn er von «organisiertem Unrecht» sprach, das der «SED-Herrschaft» diente.
Wir sollten jedoch eher von der «bürokratischen Diktatur der SED» sprechen, statt den polemischen Begriff «Unrechtsstaat» zu gebrauchen, den viele (frühere) DDR-Bürger als beleidigend empfinden, weil sie dadurch in den Worten von Gesine Schwan ihr Leben «unter Generalverdacht gestellt» sehen. Denn in vielen Bereichen der DDR-Gesellschaft waren ja tatsächlich rechtsstaatliche Verfahren vorherrschend, solange die «führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse» nicht in Frage stand.
Historische Wurzeln
Die Begriffsgeschichte von «Unrechtsstaat» reicht weit ins 19.Jahrhundert zurück. In Preußen, das sich als protestantische Vormacht im Deutschen Reich (bzw. Deutschen Bund) verstand, wurde der Begriff nach der Revolution von 1848 mehrfach von Führern der Katholischen Partei gebraucht, die dem Staat vorwarfen, ihre Bevölkerungsgruppe systematisch zu benachteiligen und als Verräter am Staat zu verdächtigen. Monarchisten und andere rechte Kreise verdächtigten wiederum die Weimarer Republik, ein «Unrechtsstaat» zu sein, weil sie die alte Ordnung beseitigt hatte.
Nach dem Krieg wurde der Begriff von verschiedenen Strömungen der Linken gebraucht, die häufig brutaler politischer Verfolgung ausgesetzt waren. Vor allem im Verbotsurteil gegen die NS-Nachfolgeorganisation Sozialistische Reichspartei (SRP) von 1952 jedoch wurde aus den genannten Prinzipien der Demokratie der Schluss abgeleitet, dass es sich bei dem von den Nationalsozialisten beherrschten «Deutschen Reich» um einen «Unrechtsstaat» gehandelt habe. Im Prozess gegen den SRP-Führer Remer vor dem Braunschweiger Landgericht, den der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer, der Ankläger im späteren Auschwitz-Prozess, angestrengt hatte, griff das Gericht den in Bauers Plädoyer benutzten Begriff «Unrechtsstaat» auf und bestimmte, es habe sich bei den Verschwörern des 20.Juli 1944 nicht um «Verräter und Verbrecher» gehandelt. Solches hatte Remer behauptet, denn diese Verschwörer hätten «den Eid auf den Führer» gebrochen.
Da in der neueren Geschichte nach 1945 der Begriff «Unrechtsstaat» eindeutig auf den Nationalsozialismus angewandt wurde, suggeriert dessen Übertragung auf das SED-Regime das Konzept der «zwei deutschen Diktaturen», also de facto die Totalitarismustheorie, die nicht nur die extreme Gewalt des NS-Regimes verharmlost, sondern vor allem die grundlegenden ökonomischen Unterschiede (kapitalistisch bzw. nichtkapitalistisch) zwischen den beiden Regimen unterschlägt.
Es ist wohl kein Zufall, dass diese Theorie gerade bei den Grünen im Prozess ihrer Transformation von einer linken zu einer neoliberalen Partei (wozu natürlich auch das Ende der DDR beigetragen hat, man schlägt sich auf die Seite der «Sieger») so wichtig geworden ist.
Es kommt hinzu, dass die Frage der sozialen Gerechtigkeit in vielerlei Hinsicht nur im historischen Zusammenhang gedacht werden kann. Der Kampf der Frauen für ihre rechtliche Gleichstellung und soziale Emanzipation wurde lange von einer kleinen, unbotsmäßigen Minderheit geführt; bis in die 1970er Jahre hinein wurde es als «gerecht» empfunden, dass der Mann über Wohnsitz und Berufstätigkeit der Frau und Familie bestimmen konnte. (In vielerlei Hinsicht war die DDR hier weiter als die BRD!)
Besonders deutlich wird dieses Problem beim Kampf der Homosexuellen, deren Verfolgung zumindest bis vor kurzem von einer Mehrheit der Bevölkerung als richtig angesehen wurde und gegen die weiterhin zahlreiche Vorurteile bestehen.
Der Begriff «Unrechtsstaat» wird der Realität der DDR-Gesellschaft nicht gerecht, er bezweckt eine Herabsetzung – offenkundig ist das Gespenst doch nicht so tot, wie die Propaganda glauben machen möchte.
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