Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2015
 Bei der Lufthansa: Spiel über Bande

von Jochen Gester

Immer, wenn ein Verkehrssystem, das von Millionen Menschen und für den Gütertransport genutzt wird, plötzlich nicht mehr verfügbar ist, schlägt dies in der Öffentlichkeit Wellen. So auch beim Streik des Kabinenpersonals der deutschen Lufthansa und ihrer Töchter. Die Piloten, die Bordstewards und -stewardessen können keinen Arbeitskampf führen, ohne die Bewegungsfreiheit der Passagiere einzuschränken.Die betroffenen Arbeitgeber und die ihnen Interessen verbundenen Medien mühen sich redlich, diesen Umstand zur Stimmungsmache gegen die Streikenden zu nutzen, was jedoch nicht im erhofften Maße gelingt. Sie zeichnen ein Zerrbild von den Streikenden als einer «überversorgten Elite» und vermögen doch nicht zu verdecken, dass ein solcher Sozialtypus eher auf der anderen Seite des Verhandlungstischs seinen Platz hat.

Die von der Gewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) vertretenen Beschäftigten bringen deutlich zum Ausdruck, dass es ihnen ernst ist. An der Urabstimmung am 20.März über den Erhalt des Vergütungstarifvertrags und des Tarifvertrags zur Übergangsversorgung beteiligten sich über 95% der Gewerkschaftsmitglieder. Für den Kampf um den Vergütungstarif stimmten 97,2%, für den zur Übergangsversorgung 99,1%. Der Vergütungstarifvertrag wurde 2012 von der Lufthansa gekündigt und ist in der Nachwirkung. Und auch der Tarifvertrag zur Übergangsversorgung wird von der Fluggesellschaft in Frage gestellt.

«Konzernchef Spohr muss pro Jahr 700 Millionen Euro Kosten einsparen», schreibt die Süddeutsche Zeitung vom 9.7.2014. Hier wird eine zwingende Logik suggeriert. In Wirklichkeit erleben wir die sattsam bekannte Obsession, höchste Profitabilität erreichen zu müssen. Auch wenn der von der Lufthansa im Mai prognostizierte Gewinn von einer Mrd. Euro durch Einbrüche in den Folgemonaten nicht gehalten werden konnte, geht es dem Konzern gut. Doch gut ist nicht gut genug. Deshalb soll der Bereich der Billigflieger deutlich ausgeweitet werden. In diesem Operationsbereich liegen die Kosten heute um 40% niedriger als bei der Kernmarke.

 Zwei Kampfplätze

Das Interessante am Konflikt ist, dass die Arbeitskampfparteien auf zwei Arealen gegeneinander antreten. Auf dem ersten Kampfplatz – er bezeichnet das Feld der öffentlichen Kommunikation insbesondere der Gewerkschaft – wird um die beiden oben genannten Tarifverträge gerungen. Auf dem zweiten Kampfplatz geht es um die Umstrukturierung des Konzerns.

Und hier liegt die eigentliche Konfliktursache. Cockpit ist dabei in einer rechtlichen Situation, mit der auch andere Gewerkschaften in den letzten Jahren konfrontiert waren. Bekannt ist sie von den Arbeitskämpfen gegen Massenentlassungen oder Werksschließungen bei BSH, AEG und Heidelberg Druck.

Weil die bestehende Rechtsordnung solche Standortentscheidungen als freie Verfügungsgewalt der Unternehmenseigner über ihr Eigentum schützt, haben Gewerkschaften keine rechtliche Handhabe, dagegen vorzugehen. Sie müssen eine Ausweichstrategie einschlagen. Im Organisationsbereich der IG Metall haben die betroffenen Belegschaften deshalb versucht, die Kosten für einen rechtlich möglichen Sozialtarifvertrag so in die Höhe zu treiben, dass die vom Unternehmen getroffenen Umstrukturierungsentscheidungen ihren ökonomischen Sinn verlieren.

In diese Richtung geht auch die Gewerkschaft Cockpit. Die Süddeutsche Zeitung kommentiert das am 2.12.2014 wie folgt: «Die Piloten der Lufthansa haben ein Geheimnis, aber sie legen keinen Wert darauf, es zu hüten. Und so weiß mittlerweile jeder, der es wissen will, dass sie diesmal nicht wegen des Streits um ihre Versorgung im Alter die Arbeit niederlegen. Sie müssen zwar so tun, als streikten sie allein deshalb – ein Streik ist in Deutschland nur so lange rechtmäßig, wie er Teil einer Tarifauseinandersetzung ist. Diesmal jedoch wollen die Piloten Druck auf den Aufsichtsrat ausüben, der am Mittwoch das Billigfliegerkonzept des Vorstands genehmigen soll. Zu den Säulen der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland gehören Tarifautonomie und Mitbestimmung. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen Löhne und ihre Arbeitszeiten untereinander aushandeln, ohne dass der Staat sich einmischt, und Arbeitnehmer sollen in Betriebs- und Aufsichtsräten an Entscheidungen beteiligt werden. Die Vereinigung Cockpit, die Gewerkschaft der Piloten hat sich nun vorgenommen, den Begriff der Mitbestimmung äußerst weit auszulegen. Was zwei Cockpit-Vertreter im 20köpfigen Aufsichtsrat der Lufthansa niemals ausrichten könnten, sollen die Piloten in ihrer Gesamtheit bewirken: per Streik das Gremium derart beeindrucken, dass es sich die Flotte aus Billigfliegern lieber noch einmal überlegt. Legitim? Naiv? Anmaßend? Dieser Streik ist von allem etwas. Aber verhindern wird Cockpit das Konzept nicht.» Denn, so liest man an anderer Stelle in der SZ: «Es gilt als ausgeschlossen, dass der Aufsichtsrat (dem Vorstandsvorsitzenden) Spohr die Unterstützung verweigert.»

Wofür streiken die Piloten?

Damit ist die Geschichte aber nicht einfach zu Ende. Die Vereinigung Cockpit (VC) ist kein Bettelorden, sondern eine Organisation selbstbewusster berufstätiger Menschen. Sie sind kampf- und auch kommunikationsfähig. Die Streiktage wurden bei hoher Beteiligung durchgehalten und der Arbeitskampf gilt schon jetzt als schärfster Streik in der Geschichte der Lufthansa. Seit April mussten um die 6000 Flüge abgesagt werden, was den Konzern die stattliche Summe von 170 Mio. Euro kostete. Die Webseite von VC ist ein Vergnügen für Journalisten. Man wünscht sich, dass Gewerkschaften wie die GDL sich davon etwas abschauen. Es gibt mehrere FAQs, die das gewerkschaftliche Anliegen überzeugend vorbringen und die Argumente der Gegenseite zerlegen.

Die VC begründet darin u.a., warum sie den Tarifvertrag zur Übergangsversorgung verteidigt:

«Die Piloten streiken nicht für höhere Gehälter! Gegenstand des Arbeitskampfes ist ausschließlich die sog. Übergangsversorgung. Der Lufthansa-Vorstand will diese streichen. Nachdem das Lufthansa-Management in den letzten Jahren und nur mit dem Ziel der Gewinnmaximierung immer mehr profitable Arbeitsplätze von Deutschland ins Ausland verschoben hat, wurde im letzten Jahr mit dem Angriff auf die Versorgungssysteme aller Lufthansa-Mitarbeiter begonnen. Als erstes möchte man bei den Cockpitmitarbeitern anfangen. Für jeden Piloten werden während seiner Firmenzugehörigkeit Gehaltsbestandteile rückgestellt, die es ermöglichen, die berufliche Tätigkeit vorzeitig beenden zu können. Menschen altern unterschiedlich schnell und die Belastungen im Beruf des Piloten sind nicht zuletzt aufgrund der ständigen Zeitverschiebungen, der Nachtflüge, des Extremschichtdienstes, der Klimaverschiebungen, der Strahlenbelastung etc. sehr hoch. Deshalb muss es den Piloten möglich sein, individuell entscheiden zu können, ob sie sich den Belastungen noch gewachsen fühlen. Das ist vor allem auch im Interesse der Sicherheit der Passagiere. Oder möchten Sie mit Piloten fliegen, die sich nicht mehr fit fühlen, aber aus finanziellen Gründen weiterfliegen müssen?» (Siehe www.vcockpit.de/presse/uebersicht.html.)

Zur Behauptung der Lufthansa, diese könne sich eine solche «kostspielige» Übergangsversorgung nicht leisten, heißt es: «Die Übergangsversorgung ist für das Unternehmen fast kostenneutral. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass die älteren Kollegen ein höheres Gehalt bekommen als die jüngeren. Gehen die Älteren in die Übergangsversorgung, werden an deren Stelle junge Piloten [mit deutlich geringeren Gehältern] eingestellt und nachgeschult. Dieser Prozess senkt die Kosten pro Durchschnittspilot und somit die Cockpit-Personalkosten deutlich ab.»

Interessant ist es auch, zu wissen, dass die Piloten trotz 55er-Regelung im Durchschnitt mit 59 Jahren in Rente gehen. Damit sorgen sie dafür, dass für die Kollegen, die früher aufhören wollen oder müssen, ausreichend Mittel im «Solidartopf» sind, der wie eine Versicherung funktioniert. Bis 2012 gab es ferner eine gesetzliche Regelung, die die Erteilung einer Fluggenehmigung nur bis zum 60.Lebensjahr ermöglichte. Die Lufthansa möchte gerne die Beträge, die von den Piloten über Jahrzehnte angespart wurden und Teil ihres erarbeiteten Vermögens sind, zu Betriebsvermögen machen.

Nicht auf Kosten der Neueingestellten

Schule machen sollte die Haltung, die Cockpit zur herrschenden Gewerkschaftspraxis einnimmt, den Besitzstand des Stammpersonals durch eine Prekarisierung von Neueingestellten zu erkaufen. VC will, dass auch alle zukünftig Eingestellten in den Genuss der erkämpften Versorgung kommen: «Eine Spaltung des Cockpitpersonals ist für die Vereinigung Cockpit nicht akzeptabel.» Als Zeichen des Entgegenkommens hat die Gewerkschaft dem Arbeitgeber das Angebot gemacht, die Kosten der Übergangsversorgung zukünftig zu deckeln. Die leichte Abnahme der Ansprüche, die dadurch entsteht, soll von allen gleichmäßig getragen werden. Doch die Lufthansa zeigt wenig Interesse, darüber zu verhandeln.

Der Ausgang des Konflikts ist offen. Über ihm schwebt auch die Drohung der «Tarifeinheit», die gerade Organisationen wie VC in ihrer Existenz bedroht. Die Arbeitgeberverbände und ihre politischen Lobbyisten lieben die Gewerkschaftsvielfalt nur, wenn sie zum Lohndumping beiträgt.

Der Ressortleiter Innenpolitik der SZ, Heribert Prantl, stellte in einem Samstagessay der Zeitung den Streik der Piloten in den Kontext des Kampfes der Arbeiterbewegung um Einfluss auch auf wirtschaftliche Entscheidungen in Unternehmen. Er erwähnt dabei die blutige Niederschlagung von Demonstrationen für Wirtschaftsdemokratie am 13.1.1920 in Preußen. Prantl möchte das Thema nicht begraben sehen und erinnert SPD-Parteichef Gabriel an seine Aussage im Wahlkampf, die demokratische Teilhabe von Beschäftigten in den Betrieben müsse gefördert werden. Er sieht die Piloten als Pioniere auf diesem Wege – gegen eine fast hundertjährige Geschichte.

Doch zu dieser Geschichte gehört auch die Erfahrung, dass die Zunahme von Mitbestimmung sehr schnell die Frage aufwirft, ob die Rechte der Lohnabhängigen dauerhaft gestärkt werden können, ohne die bestehenden Eigentumsverhältnisse zu verändern. Die Eigentümer haben die Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit nur in wenigen Ausnahmefällen und vorübergehend geduldet. Zumeist dann, wenn sie dadurch «Schlimmeres» verhüten konnten. In einer solchen handlungsoffenen, historischen Situation sind wir wohl gerade nicht.

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