Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2015
Bevölkerung fordert den Rücktritt des Präsidenten

von Ricardo Loewe

Nichts wird wieder so sein wie vor dem unheilbringenden 26.September, als die Polizei der Stadt Iguala sechs junge Menschen exekutierte, einen schwer verwundete und 43 verschwinden ließ – allesamt friedliche und unbewaffnete Menschen. Dieser entsetzliche Angriff war für die Gesellschaft ein Wendepunkt.Das Verschwinden der 43 jungen Lehramtsstudenten der pädagogischen Hochschule «Raúl Isidro Burgos» in Ayotzinapa, die Unglaubwürdigkeit und Langsamkeit der Regierungsbehörden, die danach einsetzende Gewalt gegen tausende Demonstrierende, die forderten, dass die jungen Männer zurückkommen, der Fund von über dreißig Massengräbern mit unbekannten Leichen und die herrschende Straflosigkeit – all dies hat in den letzten zwei Monaten die mexikanische Gesellschaft polarisiert.

Für die Menschen auf der Straße ist es empörend, dass die Bundesregierung unter der Präsidentschaft von Enrique Peña Nieto (vergeblich) versucht, die Schuld für dieses Staatsverbrechen auf die Beamten der Bundesstaaten und Gemeinden und auf die sog. organisierte Kriminalität abzuwälzen. Äußerst grotesk finden sie es auch, wie Peña versuchte sich zu tarnen, indem er erklärte: «Wir sind alle Ayotzinapa», obwohl er mitten in der fieberhaften Suche nach den Zwangsverschwundenen auf Geschäftsreise nach China flog und die Presse sein neues 7-Millionen-US-Dollar-Luxushaus in Mexiko-Stadt entdeckte.

Ende November – zwei Monate nach den tragischen Ereignissen – verkündete Präsident Peña einen Zehn-Punkte-Plan, um «Sicherheit, Gerechtigkeit und den Rechtsstaat zu verbessern». Er soll aber nur Polizeistaat, Korruption und Menschenrechtsverletzungen kaschieren. Nebenbei hat der Präsident noch Steuervergünstigungen für die Unternehmen in den wichtigsten Touristenzentren Guerreros angekündigt. Bei den zehntausenden protestierenden Bürger kam er damit sehr schlecht an.

Inzwischen wurden der ehemalige Bürgermeister von Iguala und seine Frau aufgespürt und in Untersuchungshaft gebracht. Der Nationale Bevollmächtigte für Sicherheit verkündete, im Fall Iguala seien alle Verdächtigen bereits identifiziert, es seien nur noch neun Haftbefehle auszustellen. Bislang seien 80 Menschen, unter ihnen 50 Polizisten und über 20 Mitglieder der Bande «Guerreros Unidos», verhaftet worden. Diese Nachrichten wurden jedoch kaum beachtet, die wichtigste Forderung ist immer noch die, die 43 Studierenden lebend aufzufinden, dicht gefolgt vom Ruf nach Rücktritt des Präsidenten.

Außerdem beschäftigt sich die mexikanische «Justiz» fleißig mit der Geiselnahme: Bei jeder Kundgebung werden systematisch unschuldige Menschen unter dem Vorwand verhaftet, sie seien Terroristen, hätten den öffentlichen Frieden angegriffen, oder gar wegen versuchten Totschlags – alles gestützt auf polizeiliche Aussagen. Nichtsdestotrotz fordern die Investoren heftigere Maßnahmen gegen das, was sie unter «Vandalismus» verstehen, d.h. ein paar zerbrochene Schaufenster, in Brand gesteckten Fahrzeuge und sonstigen Schäden, die von den Provokateuren verursacht werden und mit dem Ausmaß der Staatsverbrechen überhaupt nicht vergleichbar sind. Auch ein neues, verfassungswidriges Gesetz wurde verabschiedet, um die Demonstrationen zu kontrollieren.

Offensichtlich haben die Regierenden Angst vor ihrem eigenen Handeln, denn der Friedensdiskurs rollt wie eine Schlammlawine aus dem Rachen der Politiker, der Bischöfe, der Unternehmer, der zufriedenen Intellektuellen und der Medien. Man verspricht soziale Maßnahmen und versucht sogar, die Eltern der 43 zwangsverschwundenen Studenten zu bestechen. Herr Peña will den Schmerz per Dekret eindämmen, während sich die Menschen draußen auf den Straßen, in den Gassen und auf den Pfaden im ganzen Land zu Tausenden sammeln um zu protestieren, sich für einen langen Widerstand zu organisieren und sich einig darüber zu werden, für welche Gesellschaft der Zukunft sie kämpfen wollen.

Massenproteste

Trotz der Drohungen und Verfolgungen hat es in Iguala und in vielen Hauptstädten der Bundesländer riesige Kundgebungen gegeben. Ayotzinapa hat Studierende aus mehr als 65 Universitäten, Gewerkschaften, soziale Organisationen und einfache Bürger in Bewegung gebracht. Auch die internationale Unterstützung ist äußerst wichtig!

Die Studenten von Ayotzinapa haben drei Informationsbrigaden mit je ca. 50 Mann organisiert: Eine fuhr in den Norden Mexikos, eine in den Süden und die dritte blieb im Bundesland Guerrero. Am 20.November, dem Nationalfeiertag zum Gedenken an die mexikanische Revolution, trafen sich die genannten Brigaden mit hunderttausenden Menschen am zentralen Platz der Stadt Mexiko. An diesem Feiertag gibt es jedes Jahr eine Militärparade, aber diesmal hat die Regierung darauf verzichtet, so stark war der politische Druck!

Am 6.Dezember gab es wieder eine große Kundgebung, diesmal mit der Nachricht, das Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck habe die Überreste eines der 43 verschwundenen Studenten der Pädagogischen Hochschule aus Ayotzinapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero identifiziert. Es handelt sich um den 19jährigen Alexander Mora Venancio. Von seinen Kommilitonen fehlt nach wie vor jede Spur. Seine Überreste wurden auf der Müllhalde von Cocula, einem Nachbarort von Iguala, gefunden. Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong wusste, wovon er sprach, als er vor einigen Wochen erklärte, die Studierenden seien ermordet und ihre Leichen dort verbrannt worden.

Felipe, der Vater von Alexander Mora Venancio, sagte: «Wir sollten um Alexander nicht weinen. Er soll wissen. dass wir nicht ruhen werden, bis es Gerechtigkeit gibt. Es fehlen 42, und wir wollen sie lebend zurück... Peña ‘raus! Ab dem heutigen Tag erkennen wir seine Präsidentschaft nicht mehr an, weil er ein Mörder ist.»

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