von Florian Osuch
Am 8.Dezember 2014 begann in Dresden der Prozess gegen den Berliner Antifaschisten Tim H. wegen Beteiligung an Protesten gegen Neonazis am 19.Februar 2011. Damals verhinderten Sitzblockaden des Bündnisses «Dresden nazifrei», an dem sich bis zu 21000 Menschen beteiligten, darunter mehrere hundert Antifaschisten aus Nordrhein-Westfalen, einen Neonaziaufmarsch.Tim H. wird vorgeworfen, ein Megafon getragen und Demonstranten mit dem Ruf «Kommt nach vorne!» zum Durchbrechen einer Polizeikette aufgerufen zu haben. In einem ersten Verfahren wurde er im Januar 2013 u.a. wegen Landfriedensbruch zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und zehn Monaten ohne Bewährung verurteilt, welche er jedoch nicht antreten musste, weil er dagegen Rechtsmittel einlegte.
Die Anklage…
Nun wird vor dem Landgericht Dresden das gesamte Verfahren neu verhandelt. Die Anklage stützt sich vor allem auf Videomaterial der Polizei und die Aussagen eines Anwohners, der einen «großen Mann mit Megafon» gesehen haben will.
Zunächst sah es so aus, als ob der Prozess zügig beendet werden könnte. Kurz nach der Prozessbeginn zogen sich der Vorsitzende Richter und seine zwei Schöffen, die Staatsanwältin sowie die beiden Verteidiger zu Gesprächen zurück. Hinter verschlossener Tür wurde offenbar darüber verhandelt, Tim H. zu einer geringen Bewährungsstrafe zu verurteilen. Immerhin liegen die Geschehnisse fast vier Jahre zurück und ähnliche Prozesse, wie etwa gegen den Jugendpfarrer Lothar König aus Jena, wurden in diesem Jahr eingestellt. Doch die Staatsanwaltschaft blieb stur.
Zu Beginn des Verfahrens bezeichnete der Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff den ersten Prozess als «juristisch fehlerhaft», das Verfahren habe «alle Merkmale für eine politisch motivierte Verurteilung» getragen. Er bat das Schöffengericht, den Angeklagten «nicht stellvertretend zur Verantwortung zu ziehen». Auch der Angeklagte ergriff noch vor Eröffnung der Beweisaufnahme das Wort. Im Februar 2011 sei es einem «großen zivilgesellschaftlichen Bündnis» gelungen, einen der größten Neonaziaufmärsche in Europa zu verhindern. Die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe habe er als «politisches Willkürurteil» empfunden.
…demontiert
Das Rechtsanwaltsduo Ulrich von Klinggräff und Sven Richwin machte auf die dünne Beweislage gegen Tim H. aufmerksam und warf der Polizei Manipulation der Videobeweise zuungunsten des Angeklagten vor. Damit sei die Neutralitätspflicht in den Ermittlungen verletzt worden, weil entlastende Sequenzen herausgeschnitten worden waren.
Widersprüche gab es auch in der Befragung eines Polizeizeugen aus Nordrhein-Westfalen. Der Beamte war mit einer Gruppe am 19.2.2011 in Dresden im Einsatz gewesen. Das Vorgehen der Antifaschisten sei besonders gewalttätig gewesen. Er und seine Kollegen seien massiv mit Steinen, Flaschen, Latten und Feuerwerkskörpern beworfen worden. Er selbst habe Verletzungen durch einen Tritt davongetragen. Dem Beamten, der inzwischen nicht mehr der geschlossenen Polizeihundertschaft aus Düsseldorf angehört, wurde der manipulierte Videoausschnitt von dem Durchbruch der Polizeiabsperrung gezeigt. Darauf war jedoch zu sehen, wie seine Kollegen Demonstranten massiv mit Pfefferspray besprühen und mit Schlagstöcken traktieren. Zu diesem Zeitpunkt war noch kein Objekt gegen die Polizei geworfen worden, außer einem Schneeball, der mehrere Meter vor den Ordnungskräften auf dem Asphalt landete.
Nach einem kurzen, aber heftigen Tumult, bei dem die Polizei erneut Schlagstöcke und Pfefferspray einsetzte, Demonstranten Feuerwerkskörper und andere Gegenstände schleuderten, gelang einem Teil der Gruppe, die Polizeikontrollstelle zu überwinden. Einige nun abgedrängte Polizisten schlugen auf flüchtende Demonstranten ein, woran sich der Beamte jedoch nicht mehr erinnerte. Auf dem Video ist zu sehen, wie Polizisten ihre Schlagstöcke auch gegen Personen einsetzten, die bereits am Boden lagen oder gestürzt waren.
Die Befragung des Hauptbelastungszeugen, einem Anwohner aus Dresden, endete eher als Entlastung für Tim. H. Der Pensionär gab an, einen Mann mit Megafon gesehen zu haben, der ein Basecap trug. Die Person, hinter der sich laut Anklage Tim H. verbergen soll, trug jedoch eine Wollmütze. Daraufhin erklärte Rechtsanwalt Klinggräff, dass angesichts manipulierter Videoausschnitte, bis zu fünf Personen mit Megafonen und eines einzigen Zeugen, der zudem Tim H. noch entlaste, die Anklage demontiert sei. Davon unbeeindruckt beharrte die Vertreterin der Staatsanwaltschaft auf die Fortführung des Verfahrens. Der Prozess wird am 19.12. und Anfang Januar 2015 fortgesetzt.
Vor dem Gebäude des Landgerichts hatten sich ab dem frühen Morgen rund hundert Menschen versammelt, um sich mit dem Angeklagten zu solidarisieren. Auf Transparenten und Bannern forderten sie «Freispruch für Tim». Die Antifaschisten waren u.a. aus Berlin angereist, zudem kam der Jenaer Jugendpfarrer Lothar König mit Unterstützern.
Solidaritätsarbeit und zwei Rechtsanwälte kosten viel Geld. Spenden an: Netzwerk Selbsthilfe e.V., IBAN DE12100900007403887018, Berliner Volksbank, Stichwort: "FREISTAAT".
Mehr Infos unter: www.kommt nach vorne.com.
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