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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2015

 

Nach Syrien oder nach Kurdistan?

Der revolutionäre Prozessauf der Suche nach Partnern

von Christian Zeller

Die andauernde Schlacht um Kobanê hat der Weltöffentlichkeit den kurdischen Befreiungskampf in Syrisch-Kurdistan bekannt gemacht. Im Schatten des Bürgerkriegs findet hier seit drei Jahren ein beeindruckender revolutionärer Veränderungsprozess statt. Dieser ist auf eine breite Solidaritätsbewegung angewiesen ist, wobei die Widersprüche nicht zu unterschätzen sind.Am 19.Juli 2012 gelang es kurdischen Kräften, die Truppen des Assad-Regimes aus Kobanê zu verdrängen. Gestützt auf eine beachtliche Mobilisierung der Bevölkerung entwickelte sich in den nachfolgenden Wochen in allen mehrheitlich kurdisch bewohnten Gebieten in Syrien eine revolutionäre Dynamik und die nunmehr offiziell gegründeten Volksverteidigungseinheiten (YPG) übernahmen Schritt für Schritt die Kontrolle über die Gebiete um die Stadt Efrîn und über die weite Region Cizîrê von Serê Kaniyê/Ras al-Ain bis zur irakischen Grenze.

Die Offensive der PYD (Partei der Demokratischen Union) und der TEV-DEM (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft) stützte sich auf zwei Voraussetzungen: Erstens hatte die PYD seit der Aufstandsbewegung im Jahr 2004 systematische Anstrengungen unternommen, die Bevölkerung zu organisieren. Die von der PYD initiierte und breit gestützte Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) übernahm hierbei eine Schlüsselrolle. Zweitens öffnete der demokratische Aufbruch und revolutionäre Prozess in Syrien seit Frühjahr 2011 auch in Syrisch-Kurdistan den Spielraum, um das politisch und militärisch geschwächte Assad-Regime zurückzudrängen.

Anfang 2013 mehrten sich die Angriffe der al-Nusra-Front, einzelnen Fraktionen der FSA und später des Islamischen Staates (IS) auf die sich entwickelnde Selbstverwaltung in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten. Gestützt auf eine breite Mobilisierung der Bevölkerung gelang es den Volksverteidigungseinheiten (YPG) und den anschließend gebildeten Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) weitgehend, die Kämpfe von den Städten und den meisten Dörfern fernzuhalten. Das ermöglichte den Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen, die sich auf Räte in den Gemeinden stützen, voranzutreiben.

Volksmacht und wirtschaftliches Überleben

Vor allem TEV-DEM entwickelte sich zu einem wichtigen organisatorischen Werkzeug, um Rätestrukturen in den Kommunen und Städten aufzubauen. Die Kommunen wählen Delegierte in thematisch verantwortliche Komitees und in übergeordnete Stadträte. Diese sind zuständig für Bereiche wie Gesundheit, Wirtschaft und öffentliche Dienste, ein System, das nur mit einer beträchtlichen Mobilisierung der Bevölkerung und einem weit überdurchschnittlichen Engagement von Kadern funktionieren kann. Wie diese zahlreichen lokalen und regionalen Aktivitäten einen demokratischen Ausdruck auf der Ebene der Kantone und gar von Rojava finden können, bleibt vorerst offen.

Die Dynamik ist wohl von einer Art Doppelmacht gekennzeichnet: Auf der einen Seite bestehen die lokalen Strukturen, auf der anderen Seite gibt es in den drei Regionen Rojavas eine Koalitionsregierung, wobei TEV-DEM die tonangebende Organisation ist. Hinzu kommt die vom Duhok-Abkommen vom 22.Oktober 2014 vorgesehene Schaffung einer neuen kurdischen Versammlung, zu der TEV-DEM und der Kurdischen Nationalrat (ENKS, ein Oppositionsbündnis aus 14 kurdischen Parteien in Syrien) je zwölf Delegierte entsenden und diese wiederum sechs weitere «unabhängige» Mitglieder ernennen.

In der mit weit über 200000 Einwohnern größten Stadt Qamislo ist die Situation noch komplizierter. Hier verfügt das Regime weiterhin über einen gewissen Einfluss und kontrolliert den Flughafen. Eine regimetreue Miliz patrouilliert in einem arabischen Stadtviertel.

Die wirtschaftliche Entwicklung ist durch den Krieg geprägt. Die Autonomiebehörden erzielen Einnahmen durch den Verkauf von Öl und Diesel, weitgehend für den Konsum in Rojava. Die relativ einfache Raffinerie bei Rimelan arbeitet weit unter den Kapazitätsgrenzen, da Öl und Diesel aufgrund des Wirtschaftsembargos der Türkei und der kurdischen Regionalregierung in Irak kaum exportiert werden können. Die Kantonsregierung von Cizîrê betreibt zudem eine neue Getreidemühle – strategisch sehr wichtig, denn damit ist eine Selbstversorgung mit Mehl möglich.

Probleme und Herausforderungen

Trotz der unbestreitbaren Erfolge in Rojava und des emanzipatorischen Potenzials der «Demokratischen Autonomie» gibt es einige Herausforderungen.

Die arabische Bevölkerung konnte nur ansatzweise für das Projekt «Demokratische Autonomie» gewonnen werden. Besonders deutlich wurde das bei den militärischen Auseinandersetzungen südlich von Qamislo und südwestlich von Serêkaniyê/Ras al-Ain. Die YPG haben große Mühe, vom IS befreite Gebiete wirklich stabil zu halten. Teile der arabischen Bevölkerung tendieren dazu, sich der jeweils stärkeren Kraft zuzuwenden. Hinter diesem Problem verbirgt sich allerdings auch eine weitergehende Herausforderung. Wie kann eine politische Strömung, die sich in ihren Inhalten und ihrer Symbolik auf die Tradition des langen kurdischen Befreiungskampfs stützt, eine Programmatik, Sprache und Symbolik entwickeln, die alle nichtkurdischen Bevölkerungsgruppen anspricht?

Die mit dem Projekt der «Demokratischen Autonomie» verbundenen Organisationen betreiben einen Diskurs, der widersprüchliche Züge anzunehmen scheint. Einerseits werden die einzelnen ethnischen, religiösen und Sprachgemeinschaften immer wieder positiv genannt und ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Leben hervorgehoben. Selbstverständlich ist das zu begrüßen. Die Teilhabe aller ethnischen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften ist eine zentrale Voraussetzung für eine solidarische gesellschaftliche Transformation.

Andererseits könnte genau dieser Diskurs zu einer Festschreibung spezifischer ethnischer Identitäten führen, was sich längerfristig als problematisch erweisen könnte. Die Betonung derartiger Identitäten kann andere wesentliche gesellschaftliche Bruchlinien wie beispielsweise Klassenkonflikte überdecken.

Damit ist auch eine strategische Orientierung verbunden. Die PYD und TEV-DEM scheinen sowohl eine syrische Perspektive als auch eine kurdische Perspektive zu verfolgen. Ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorstellungen für ein neu gestaltetes Syrien sind nur undeutlich erkennbar. Gegenwärtig und in näherer Zukunft ist die gesamte ökonomische Entwicklung den Verteidigungserfordernissen untergeordnet. Da Rojava eine Landwirtschaftsregion ist, können die elementaren Bedürfnisse befriedigt werden. Doch welche Rolle Rojava in der innersyrischen, innerkurdischen und internationalen Arbeitsteilung einnehmen soll, bleibt weitgehend offen. Ausführliche Debatten darüber scheinen nicht stattzufinden.

Diese Herausforderungen und Fragen sind jedoch kein Grund, die erforderliche Solidarität mit dem revolutionären Prozess einzuschränken, sondern zeigen, dass die europäische Linke in einen offenen Dialog mit den Protagonisten dieses Prozesses treten sollte.

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