von Alain Bihr
Wie soll man – über die unvermeidliche Gefühlsreaktion und die angebrachte Verurteilung hinaus – auf die Ermordung eines großen Teil der Redaktion von Charlie Hebdo, gefolgt vom Mord an vier Personen in einem koscheren Supermarkt, reagieren? Was sollte getan werden? Und vor allem: Was sollte nicht getan werden?Es kommt nicht in Frage, mit den Wölfen der extremen Rechten jedweder Couleur zu heulen, die schon jetzt alle Muslime, die in Frankreich leben, wenn nicht überhaupt alle Muslime auf der Welt in Sippenhaft nehmen und zu den erwiesenen Schuldigen erklären – im Namen einer angeblich dem Islam inhärenten, kriminellen Natur oder eines angeblichen «Kampfes der Kulturen», wonach der Islam mit der Modernität des Westens unvereinbar sei.
Damit setzen diese Strömungen nur ihre übliche rassistische Propaganda fort und verschärfen sie. Islamophobie ist ein wesentlicher Teil davon. Sie werfen alle Muslime mit «Migranten» in einen Topf und stempeln sie zu Sündenböcken, auf die sie alle wirklichen oder eingebildeten Übel, die uns bedrängen, abladen. Die Muslime sind ihre Zielscheibe nicht erst seit gestern, sie vergreifen sich an Moscheen, Lebensmittelgeschäften oder Restaurants, in denen Muslime verkehren.
Angesichts dieser politischen Instrumentalisierung des Rassenhasses sei daran erinnert, dass der Islam, wie alle Religionen, in Raum und Zeit ganz verschiedene Erscheinungsformen aufweist und nicht auf seine fundamentalistischen und extremen Strömungen reduziert werden und noch weniger mit gewaltbereiten jihadistischen Bewegungen, Gruppen und Individuen ineins gesetzt werden kann.
Mit solchen Richtungen bildet der Islam auch keine Ausnahme: Vergleichbare Strömungen gibt es noch heute im Buddhismus, im Judaismus und im Christentum (um bei den Religionen mit universellem Anspruch zu bleiben) – wofür im übrigen einige Bewegungen der extremen Rechten selbst ein Beispiel sind. Deshalb bleibt die Kritik an der Religion, an allen Religionen, auch notwendig und legitim, insbesondere dann, wenn sie Intoleranz praktizieren oder versuchen, theokratische Regime zu errichten.
Die Heilige Allianz
Es kommt aber auch nicht in Frage, unsere Stimme unter jene zu mischen, die heute wie vor hundert Jahren die Heilige Allianz predigen, gleich ob in der rechten Variante, als Verteidigung der Nation oder von Recht und Ordnung, oder in der linken Variante, als Verteidigung der Republik.
Die grundlegende Spaltungslinie verläuft nicht zwischen Franzosen und Nichtfranzosen, oder solchen, die formell Franzosen sind, aber verdächtigt werden, es nicht wirklich zu sein oder nicht verdienen es zu sein. Die Spaltungslinien verlaufen zwischen Lohnabhängigen und Kapitalisten, zwischen Männern und Frauen, Einheimischen und solchen, die nicht alle deren Rechte genießen, zwischen «reichen» Weltregionen und solchen, die deshalb zu einer stetig größer werdenden Unterentwicklung verurteilt sind.
Die Republik, von der I. bis zur V., war immer nur ein Schirm für verschiedene Versionen bürgerlicher Herrschaft und wird dies bleiben, in ihrem Namen wurden die unteren Klassen unterdrückt und Kolonialkriege geführt, deren Folgen die Nachkommen noch heute auszubaden haben – in den Herkunftsländern ebenso wie in Frankreich.
Vor allem entbindet die «heilige Allianz» die politischen Führungen von gestern und heute, der Linken wie der Rechten, und ebenso ihre Diener in den Medien von der schweren Verantwortung, diese Verhältnisse verstetigt und verschlimmert zu haben, weshalb wir dahin gekommen sind, wo wir jetzt stehen. Sie kanzeln die Täter als «Verrückte» oder «Barbaren» ab, um nicht nach den Motiven ihrer Tat fragen zu müssen. Sie müssen sich aber schon folgende Frage stellen: Warum und wie sind drei junge Migranten aus Nord- und Schwarzafrika zu jihadistischen Killern geworden?
Staatsrassismus
Einige der Gründe liegen auf der Hand. Angefangen bei der Massenerwerbslosigkeit und der Ausbreitung der prekären und unterqualifizierten Arbeit; der relativen, teils auch absoluten Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten, vor allem in den Vorstädten, wo öffentliche Einrichtungen und Dienste weitgehend abgebaut wurden; der Vertiefung der gesellschaftlichen Ungleichheit auf allen Ebenen; der Verringerung der Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs – das Ganze vor dem Hintergrund einer wachsenden zynischen Arroganz der sog. Erfolgreichen, die von diesen Zumutungen profitieren.
Das alles sind Entwicklungen, zu denen die politisch Verantwortlichen auf der Linken wie auf der Rechten, die sich seit dreißig Jahren an der Spitze des Staates die Klinke in die Hand geben, maßgeblich beigetragen haben.
Ihnen ist die große Mehrheit der Bevölkerung aus Nordafrika, Schwarzafrika oder dem Nahen und Mittleren Osten zum Opfer gefallen, nicht nur weil sie zur lohnabhängigen Klasse gehören, sondern in besonderem Maße, weil sie tagtäglich fremdenfeindlichen und rassistischen Anwürfen ausgesetzt sind. Die Stigmatisierung geht nicht zuletzt von Staatsbeamten im weitesten Sinne des Wortes aus: Lehrern, Bezirksverwaltungen, Beschäftigten in den Sozialversicherungen, Sozialarbeitern, vor allem aber Polizisten und selbst Richtern. Sie werden in ihrem Verhalten bestärkt, weil es ungestraft bleibt, wenn nicht gar ermutigt.
Es herrscht ein regelrechter Staatsrassismus. Das schlechte Beispiel kommt seit Jahrzehnten von oben, in Taten wie in Worten: Für ersteres stehen die Einschränkungen der Freizügigkeit der Personen und des Asylrechts, die Abkommen von Schengen und Dublin.
Für das zweite stehen Äußerungen wie die des Premierministers Pierre Mauroy, als er Streiks der unqualifizierten, mehrheitlich eingewanderten Arbeiter für die Niederlage der Regierungslinken bei den Kommunalwahlen im März 1983 verantwortlich machte. Oder die des Premierministers und späteren Staatspräsidenten Jacques Chirac, der sich im Juni 1991 von den «Geräuschen» und «Gerüchen» der mehrheitlich von Einwanderern bewohnten Stadtvierteln belästigt fühlte; oder die abfälligen Äußerungen über Roma von Manuel Valls, als er noch Innenminister war; oder von Nicolas Sarkozy, der im Juni 2005 als Innenminister (auch er später Präsident der Republik) die Armenviertel «mit dem Kärcher» reinigen wollte. (Damit beende ich die Aufzählung, man könnte sie viel weiter führen.)
Den höchsten Instanzen dieses sog. republikanischen Staates entfahren solche verbalen «Ausrutscher» immer wieder sehr bewusst und zu demagogischen Zwecken. Sie passen sehr gut zu den Reden von Jean-Marie Le Pen, der sich übrigens mehrfach beklagt hat, sein bevorzugter politischer Handelsartikel, nämlich die Denunziation der muslimischen Migranten, werde von anderen plagiiert.
Hinzu kommt die ewige rassistische Litanei in den Leitartikeln, Schlagzeilen und Reportagen und die «Reflexionen» der vielen Dupont-Lajoie – eine Filmfigur, die einen jovialen rassistischen Kneipenwirt darstellt. Dieses Frankreich erregt Übelkeit, und es findet sich nicht nur an Stammtischen.
Tradition als Ordnungsmacht
Die Einwanderer aus Schwarzafrika, dem Maghreb oder dem Nahen und Mittleren Osten wurden durch die französische Außenpolitik der letzten Jahrzehnte ein zweites Mal wie Parias behandelt. Nicht nur weil Frankreich sich in keiner Weise von der westlichen Unterstützung Israels und seiner Politik der Kolonisierung von palästinensischem Land oder seinen Kriegsverbrechen distanziert hat – womit es dem Antisemitismus einen fruchtbaren Boden bereitet, der etwa von dem Gespann Dieudonné/Soral eifrig gepflügt wird. Frankreich hat sich auch nicht von der Art und Weise distanziert, wie der große US-amerikanische Bruder den «Krieg gegen den Terror» in Kabul, Abu Ghraib oder Guantánamo führte.
In den letzten Jahren führte Frankreich, allein oder mit Verbündeten, mehrere Militäroperationen in Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung durch – von Afghanistan bis Libyen – und verfolgt dabei Ziele, die nichts mit den Interessen der Bevölkerung zu tun haben, aber verheerende Zerstörungen anrichten und kollektive Massaker provoziert haben, für die sich Frankreich dann nicht mehr zuständig fühlte.
Hat man nicht erlebt, wie Frankreich mehrfach Regime unterstützte – im Irak in den 80er Jahren, in Algerien in den 90er Jahren, in Syrien in den vergangenen Jahren –, die ihre eigene Bevölkerung tyrannisieren und teilweise systematisch massakrieren? Hat nicht die französische Außenministerin dem tunesischen Diktator Ben Ali kurz vor seinem Sturz vorgeschlagen, sich für die Repression seines Volkes auf «die Sachkenntnis unserer Sicherheitskräfte» zu stützen? Wahrlich, Frankreich verfügt über eine lange Tradition als «Ordnungsmacht» in Nordafrika.
Eine systematisch stigmatisierte Gruppe kann sich auf unterschiedliche Weise zur Wehr setzen. Eine davon, die vielleicht paradoxeste und sicher furchtbarste, besteht darin, die Zuschreibungen anzunehmen und gegen ihre Urheber zu kehren. Wenn man jemandem lange Zeit zu verstehen gibt, dass er bloß ein «Immigrant», ein «Moslem» oder sogar ein «Drecksaraber» ist, verwandelt man ihn schlussendlich … in einen «Moslem» oder «Drecksaraber». Man bewirkt, dass das Individuum oder die Gruppe die ihr zugewiesene Identität annimmt, im besten Falle mit würdevollem Stolz (das ist etwa das Motiv für manche muslimischen Frauen, den Schleier zu tragen), im schlimmsten Fall mit Hass, der nur auf eine Gelegenheit wartet, sich für die erlittene Erniedrigung zu rächen.
Das ist eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass extremistische, fundamentalistische und jihadistische islamische Diskurse aufgegriffen werden.
Unsere Verantwortung
Diese Entwicklung fordert notwendigerweise aber auch die revolutionären Kräfte heraus, worunter wir diejenigen verstehen, die für die Emanzipation von allen Formen der Unterdrückung kämpfen. Denn es ist keineswegs zwangsläufig, dass ein Potenzial der Revolte gegen soziale Ungerechtigkeit und rassistische Stigmatisierung sich in Handlungen entlädt, die unter dem Vorzeichen des religiösen Kommunitarismus stehen. Wenn dies dennoch geschieht, dann auch deshalb, weil keine anderen Wege gefunden wurden.
Und darin liegt unsere Verantwortung: Wir haben es nicht verstanden, solche Alternativen vorzuschlagen, oder jedenfalls dafür nicht das entsprechende Gehör gefunden.
Es ist unsere politische Schwäche, um die es hier geht, die Schwäche unserer Präsenz dort, wo diese migrantische Bevölkerung lebt und arbeitet – und das trotz der Bemühungen von Gewerkschaften wie SUD-Solidaire oder Vereinen wie Droit au logement (Recht auf Wohnen) oder des Netzwerks Education sans frontières (Bildung ohne Grenzen).
Die spezifischen Lebensbedingungen dieser Bevölkerung sind uns relativ unbekannt. Zumindest teilweise haben wir bisher unsere Pflicht vernachlässigt. So waren wir, wie alle anderen, unvorbereitet auf die Sturmgewehrsalven am 7.Januar in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo.
Die jüngsten Ereignisse werden den Vorwand liefern, den Repressionsapparat aufzurüsten und die bürgerlichen Freiheiten noch stärker einzuschränken. Alle Bewegungen, Gewerkschaften und politischen Organisationen, die, in welchem Umfang auch immer, die herrschenden Verhältnisse bekämpfen, laufen Gefahr, dem zum Opfer zu fallen.
Unter diesem Gesichtspunkt ist die Heilige Allianz, die von der FN bis zur PCF und zur Linksfront durch die Demonstrationen vom 10. und 11.Januar geschmiedet wurde, in hohem Maße beunruhigend. Ganz wie die Heilige Allianz, die dem Präsidenten Hollande zu Hilfe geeilt ist und zu der so ausgewiesene Demokraten gehören wie der ungarische Premierminister Viktor Orbán oder der israelische Außenminister Avigdor Lieberman. Wenn solche Brandstifter sich anschicken, einen Brand zu löschen, zu dessen Ausbruch sie selbst beigetragen haben, müssen wir uns auf noch verheerenderer Brände einstellen.
Alain Bihr war Dozent in Besançon mit Schwerpunkt soziale Ungleichheit und Klassenbeziehungen und ist seit langem in der antifaschistischen Bewegung aktiv. Er schrieb in Emanzipation 2/14 über die Front National.
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