von Andrea Ferrario und Angela Klein
Das neue Minsker Abkommen ist ein starkes Signal, die Lage in der Ukraine auf anderem als auf militärischem Weg zu stabilisieren. Ob dies gelingt, hängt maßgeblich davon ab, ob Staatschef Poroschenko dazu willens und in der Lage ist oder ob die Kriegspartei, mit tatkräftiger Unterstützung der USA und von Teilen der EU, doch noch die Oberhand gewinnt.Nach einer Feuerpause, die von Mitte Dezember bis in die ersten Januartage reichte, starteten die Separatisten am 10.Januar eine Offensive auf den Flughafen von Donezk, den sie zurückerobern konnten. Es folgte der Angriff auf Debalzewo, womit die Tasche geschlossen werden sollte, in der nun 6000–8000 Soldaten der ukrainischen Armee eingeschlossen sind und die die direkte Verbindung zwischen Lugansk und Donezk unterbricht.
Eine zweite Front wurde am 24.Januar mit der Bombardierung eines Stadtviertels von Mariupol eröffnet; die Separatisten kündigten die Belagerung der Stadt an. Ein Erfolg dieser Operation würde ihnen erlauben, am Schwarzen Meer zwischen Nowoasowsk und Mariupol einen geschlossenen Streifen zu schaffen mit der Option, weiter nach Transnistrien vorzustoßen – die Ukraine wäre damit vom Schwarzen Meer abgeschnitten. Für die Regierung in Kiew und die NATO-Staaten ein Alptraum.
Antikriegsproteste
Am 2.Februar brachte die New York Times die Nachricht, die US-Administration erwäge ernsthaft die Lieferung «tödlicher Waffen» an die Ukraine. Dies löste eine hektische Aktivität auf höchster diplomatischer Ebene aus, an deren Ende das klare Nein der Bundeskanzlerin zu Waffenlieferungen an die Ukraine und das Abkommen Minsk II standen.
Dieses «Nein» ratifiziert einen Tatbestand, der in den letzten Monaten nur zu offenkundig geworden ist: Kiew ist nicht in der Lage, den Krieg militärisch zu gewinnen, und zwar nicht so sehr, weil Waffen fehlen – die NATO rüstet Kiew kräftig auf (siehe nebenstehenden Artikel) –, sondern weil der Regierung die Soldaten davonlaufen. 50000 zusätzliche Reservisten will Kiew bis Ende März ausheben, viele haben auf den Einberufungsbescheid aber nicht geantwortet und sich an der Haustür verleugnen lassen, sodass die Werber sie im Betrieb ausfindig machen mussten.
Es gab auch kleinere öffentliche Proteste: Am 18.Januar fanden in Kiew und anderen Städten Friedensmärsche im Gedenken an die Opfer in der Ostukraine, aber auch an die Opfer der Schüsse auf dem Maidan vor einem Jahr statt; Mütter protestieren gegen die Einberufung ihrer Söhne. Kiew hat im Januar ein Gesetz erlassen, das Militärkommandeuren erlaubt, in Fällen von Insubordination oder Desertion die Waffen auch auf die eigenen Soldaten zu richten – d.h. auch sie zu erschießen.
Auf der anderen Seite ist nicht ausgemacht, dass Poroschenko die in Minsk vereinbarte Verfassungsänderung, die den Separatisten die faktische Kontrolle über das von ihnen eroberte Gebiet zuerkennt, zu Hause durchsetzen kann. Der Rechte Sektor hat bereits angekündigt, dass er das Abkommen von Minsk nicht anerkennt.
Der Vorsitzende des ukrainischen Parlaments, Wolodymyr Groisman, betonte in einem Gespräch mit dem ukrainischen TV-Sender «Inter», von einer Föderalisierung der Ukraine oder irgendwelchen anderen Autonomien könne keine Rede sein. Eine Beteiligung der Anführer von Banditengruppierungen und Kämpfern der sog. «Donezker Volksrepublik» und «Lugansker Volksrepublik» an künftigen Wahlen schloss er entschieden aus. «Es können keine Mörder, keine Bandenführer und alle anderen gewählt werden. Das sind Verbrecher, die bestraft werden müssen.»
Schließlich sind auch die Bemühungen der Regierung fehlgeschlagen, die Freiwilligenbataillone, deren Bildung sie anfänglich unterstützt hatte, wieder unter Kontrolle zu bekommen, indem sie sie der Nationalgarde bzw. der Armee unterstellt. Diese Bataillone werden im wesentlichen von Oligarchen bezahlt und ausgerüstet; es handelt sich de facto um Privatarmeen. Eines der berüchtigsten, das Bataillon Aidar, eine Einheit von etwa 400 Leuten, die zu einem erheblichen Teil aus bekennenden Nazis besteht und die von Amnesty International der Kriegsverbrechen beschuldigt wird, hat im Februar gegen seine bevorstehende Auflösung demonstriert und versucht, das Verteidigungsministerium und den Amtssitz des Staatspräsidenten zu stürmen.
Der Krieg nach innen
Nach seiner Wahl zum Präsidenten war Poroschenko vor allem mit der Aufgabe beschäftigt, die vollständige Kontrolle der Oligarchen über die staatlichen Institutionen wiederherzustellen, die ihnen durch die Maidan-Bewegung entglitten war, und ein neues Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen. Dabei versucht er, die alte Gefolgschaft um Janukowitsch wieder einzubinden, vor allem den «Block der Opposition», der die Reste aus der Partei der Regionen aufgesammelt und mit 9,4% einen Achtungserfolg bei den letzten Parlamentswahlen erzielt hat.
Am 27.Januar hat das Parlament, die Rada, ein Gesetz angenommen, das das Lustrationsgesetz vom 16.Oktober 2014 relativiert. Das Gesetz sah die Entfernung von politisch belasteten Mitarbeitern aus dem Staatsdienst vor. Es soll nun aber auf hohe Offiziere und Beamte des Innenministeriums, des Verteidigungsministeriums, der Sicherheitsdienste, der Spezialkräfte und der Streitkräfte nicht mehr angewandt werden. Das ist eine De-facto-Amnestie für die Repressionsapparate der Ära Janukowitsch, die versucht haben, den Maidan in ein Blutbad zu tauchen.
Galt Poroschenko im Mai noch als Mann des Ausgleichs mit Russland, hat sich die Linie inzwischen verschoben: Ein scharfer ukrainischer (antirussischer) Patriotismus geht in Kiew einher mit einer autoritären Neuordnung im Inneren und scharfen sozialen Angriffen, um die erheblich gestiegenen Militärlasten zu schultern und die Kreditauflagen des IWF zu bedienen.
Im Sommer wurde ein Antiterrorgesetz verabschiedet; dem Präsidenten des Nationalen Sicherheitsrats, Alexander Turchinow, wurden persönlich außerordentliche militärische und polizeiliche Befugnisse zugestanden, für die er nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann – was verfassungswidrig ist.
Vor Weihnachten legte Ministerpräsident Jasenjuk einen Haushaltsentwurf vor, der massive Einschnitte in das soziale Netz, vor allem in Bildung und Gesundheit, vorsieht, während der Militärhaushalt massiv angehoben wurde.
Vorgesehen ist auch eine Änderung des Arbeitsgesetzes, das noch aus sowjetischer Zeit stammt (1971) und den Arbeitern großzügige Rechte einräumt. Unter anderem enthält es die Bestimmung, dass nur außerordentliche Kündigungen möglich sind, aus gesetzlich genau definierten Gründen – eine der Regelungen, die mit der angestrebten «Modernisierung» der Ukraine nun offensichtlich über Bord geworfen werden sollen.
Gegen die Austeritätspolitik Marke IWF/EU erhebt sich neuer sozialer Protest. Ende Januar demonstrierten die Bergarbeiter in Kiew und verlangten eine Korrektur des Haushaltsentwurfs, der unter dem Diktat des IWF steht; die Regierung machte daraufhin einen Rückzieher.
Sie steht jedoch vor dem Staatsbankrott: Im Jahr 2014 ist das Bruttoinlandsprodukt um 7,5% gefallen, die Landeswährung Hrywnja hat 50% ihres Werts verloren, die Inflation liegt bei 25%, und die Devisenreserven sind auf 7,5 Milliarden Dollar zusammengeschmolzen. Der IWF hat trotz nicht erfüllter Auflagen am 12.Februar einen weiteren Kredit über 17 Milliarden Dollar zugesagt, der in ein «Hilfspaket» von insgesamt 40 Milliarden Dollar münden kann. Kiew wird dieses Geld brauchen, um die Löcher zu stopfen, die seine frenetische Hochrüstung reißt.
Andrea Ferrario betreibt den Blog https://crisiglobale.wordpress.com, der einen Schwerpunkt zur Ukraine hat.
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