von Dominik Müller
Seit Anfang Januar gilt der lang ersehnte gesetzliche Mindestlohn in Deutschland. Mit 8,50 Euro brutto in der Stunde bleibt er nur geringfügig über dem Hartz-IV-Satz. Aber vielen von denen, die von der Ausbeutung der Arbeitskraft leben, ist das schon zuviel. Sie wollen die 25% der Erwerbstätigen, die ganz offiziell unter der Armutsgrenze leben, weiter arm halten. Es sind diejenigen, die weniger als zwei Drittel vom Durchschnittseinkommen verdienen.
Das von Günter Wallraff und dem gemeinnützigen Verein work-watch (www.work-watch.de) herausgegebene Buch Die Lastenträger beleuchtet die Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor. Zahlreiche Autoren – hauptsächlich selbst betroffene Journalisten, aber auch solche, die sich nach Wallraff-Methode z.B. bei Daimler eingeschleust haben – beschreiben die Arbeitsrechts- und Menschenrechtsverletzungen in den Betrieben. Ob Reinigungskräfte, Versandhändler bei Amazon, mobile Altenpfleger, Paketauslieferer, Schlachter, Handwerker, Verkäuferin oder Geldtransportbegleiter – die Arbeitsbedingungen in der modernen Dienstleistungsgesellschaft erinnern an die Beschreibungen der frühen Tage des Kapitalismus: 12-Stunden-Tage, faktische Tagelöhnerei, elende Massenunterkünfte. Und das bei einem Lohn, der oft nicht mal zum Leben reicht und durch staatliche Zahlungen aufgestockt werden muss.
«Arm durch Arbeit»: Die 14 Autorinnen und Autoren beschäftigen sich nicht mit einem Randproblem. Jeder Vierte schleppt sich heute unterbezahlt durch die deutsche Arbeitswirklichkeit. Aber das Buch greift auch Protest und Gegenwehr in den Betrieben auf – und die Reaktionen auf die Versuche der Selbstorganisierung. Ein Beispiel: Neben dem Stammarbeiter bei Mercedes arbeitet sein outgesourcter Kollege für weniger als die Hälfte von dessen Lohn. Und trotzdem weitet der Konzern mit Zustimmung des Betriebsrats das Werkvertragsunwesen noch aus. In den Berliner Musikschulen sacken die Honorare der Lehrer unter die Armutsschwelle. Und ihr Protest wird mit Entlassungen zerschlagen.
Dafür wird niemand zur Rechenschaft gezogen. Auch nicht für die Ausbeutung der Paketfahrer, die 12 bis 15 Stunden am Tag für 1000 Euro netto schuften. Berichte in den Medien über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen verpuffen wirkungslos. Ebenso die über Bandarbeiter beim Fleischkönig und Schalke-04-Mäzen Tönnies: Sie zerlegen Schweine für 5 Euro pro Stunde, 12 Stunden am Stück. Wer krank wird, fliegt am nächsten Tag. Das ist kein Thema im Schalke-Stadion, solange Tönnies Geld für die teuren Fussballer zur Verfügung stellt.
Die Lastenträger ist ein treffliches Wortspiel: Es führt das neoliberale Gerede von den «Leistungsträgern» der Gesellschaft – zu denen sich Tönnies und andere Selbstgerechte zählen – ad absurdum. Dass die vermeintlichen Leistungsträger, die sich auf Kosten der Lastenträger bereichern, mit stolz geschwellter Brust durchs Leben marschieren können und nicht im Gefängnis landen, ist den hiesigen Arbeitsgesetzen geschuldet. Sie legitimieren diese Superausbeutung.
Wer jetzt auf das neue Mindestlohngesetz hofft, mit dem dieser Missstand endlich beendet werden soll, hat sich getäuscht. Detailliert werden im neuen Wallraff-Buch die Lücken beschrieben, die weiter Niedriglöhnerei ermöglichen. Auch der Blick zurück ist aufschlussreich: Reinigungskräfte und Bauarbeiter werden seit Jahren um den ihnen längst garantierten Mindestlohn betrogen. Wie das funktioniert, beschreiben die Autoren des Buches. Die gesetzliche Ausweitung des Mindestlohns, so ihr Resümee, ist nichts als ein Papiertiger. Da hilft auch kein Beschwerdetelefon für die Beschäftigten, das vom Arbeitsministerium eingerichtet wurde.
Wer sich mit den prekären Arbeitsverhältnissen in diesem Land beschäftigen will, kommt um Die Lastenträger nicht herum. Die Botschaft des spannend geschriebenen Buches: Wer die Missstände im Niedriglohnsektor angehen will, darf nicht auf eine «Rettung von oben» hoffen.
* Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014. 300 S., 14,99 Euro
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