Die Ukraine ist ein sehr junger Staat. In welchem politischen Klima man dort nach seiner Gründung 1991 aufwuchs, erzählte uns Pawlo Lysjanskyj nach der Kölner Veranstaltung am 29.1. Das Gespräch ist in der Ich-Form wiedergegeben.Ich heiße Pawlo Lysjanskyj, bin geboren in Lugansk, 27 Jahre alt und wurde in der Umbruchzeit der 90er Jahre groß. Ich bin Bergarbeiter in der vierten Generation. Bei mir zuhause wurde so gut wie nicht über die politischen Verhältnisse gesprochen. Meine Eltern arbeiteten wie wild, um mich und meine ältere Schwester zu ernähren. Mein Vater war ständig im Bergwerk, meine Mutter wurde eine der ersten «Privatunternehmerinnen», so hießen sie damals: In Wirklichkeit handelte sie mit Kleinkram, um ein wenig zu verdienen. Als kleiner Bub hab ich meine Eltern so gut wie nicht gesehen, tatsächlich hat mich meine ältere Schwester erzogen.
Mein Großvater väterlicherseits war überzeugter Kommunist. Er war Bergarbeiter, hat den Zweiten Weltkrieg durchgemacht und auch noch in den 90er Jahren nur für die Kommunisten gestimmt. Er hat nie versucht, mich zu indoktrinieren, aber ich fand bei ihm Ansichtskarten, Stecknadeln und anderes mit kommunistischen Symbolen. Stets sagte er, dass er sein Leben lang für die Kommunisten stimmen wird. Niemals ist er in die Kirche gegangen. Seiner Schwiegertochter, meiner Mutter, schärfte er ein: Tochter, wenn ich sterbe und ihr einen Popen ruft, stehe ich auf und werde wieder lebendig.
Erst vor kurzem habe ich erfahren, dass der Cousin meines Opas in Oblast Sumy, ein Dorf im Norden der Ukraine, in dem die Familie eine Zeit lang gewohnt hat, die erste Organisation der Kommunisten gegründet hat. Das war im Bürgerkrieg 1918, er wurde von den Weißgardisten ermordet.
Die Ausbildung
Ich bin sozusagen im Bergwerk aufgewachsen. In den Sommerferien zwischen der 10. und 11.Klasse wollte ich ein bisschen was verdienen und ging in den Betrieb meines Vater, damals Leiter im Abbaubereich des Bergwerks; ich habe als Lehrling über Tage gearbeitet.
Meine Mutter wollte, dass ich lerne und studiere, ich musste also in die Schule zurück, aber im nächsten Sommer bin ich wieder ins Bergwerk gegangen. Dann habe ich auch während der Schulzeit nebenher gejobbt, immer am Wochenende.
Der Status der Bergleute
Bergleute sind bei uns besser gestellt als andere Arbeiter. Sie dürfen früher in Rente und haben lange Urlaub, 58 Tage im Jahr, normale Arbeiter bringen es auf 24. Sie teilen ihren Urlaub auf zwei Halbjahre auf. Manche gehen gar nicht in Urlaub und sammeln ihre Urlaubstage. Wenn sie den Betrieb verlassen, bekommen sie dafür eine Abfindung.
Wenn ich ehrlich bin, mache ich das auch. Ich mache nebenher ein Fernstudium. Laut Gesetz habe ich Anspruch auf ungefähr 20 freie Tage für das Studium im Jahr. An diesen Tagen kann ich mich ein wenig erholen, so spare ich meinen offiziellen Urlaub.
Heutzutage verdient ein Bergmann in einem staatlichen Unternehmen im Durchschnitt 6000–7000 Hrywnia, etwas über 300 Euro im Monat; ein durchschnittlicher Arbeiter verdient etwa 3000–4000 Hrywnia, also die Hälfte. Die Sozialversicherung ist dieselbe wie für alle anderen und genauso schlecht. Jeder ist pro forma gesetzlich versichert. Dass Sozialleistungen über den Betrieb geleistet wurden, gab es auch bei uns, aber das ist längst verschollen.
Das Studium
Ich habe mehrere Fernstudien gemacht. Zunächst eine Ausbildung als Bergbauingenieur für die Extraktion nützlicher Bodenschätze. Parallel dazu habe ich Betriebswirtschaft studiert. Nach diesen beiden Studien habe ich gearbeitet; ein Jahr später begann ich eine Promotion, dafür bekommt man ein kleines Stipendium, darf aber nicht arbeiten. Die habe ich abgebrochen und mache jetzt eine Ausbildung in Unternehmensrecht, das bei uns auch Arbeitsrecht einschließt – das liegt nahe, bei meiner gewerkschaftlichen Tätigkeit. Nebenher arbeite ich im Bergwerk. Da bin ich für den Arbeitsschutz zuständig. Ich bin auch Leiter der Gewerkschaft im Betrieb. In meinem Betrieb arbeiten 2200 Menschen.
Wohnen
Zur Zeit lebe ich in der Stadt Lyssitschansk, das liegt im Oblast Lugansk, nördlich der von den Separatisten kontrollierten Gebiete. Vorher habe ich im Bergwerk in Altschewsk gearbeitet. Als das Städtchen von den Separatisten besetzt wurde, kam die ukrainische Armee und hat sie wieder verjagt. Als die Armee ganz nah herangerückt war, ist die Leitung des Bergwerks abgehauen, weil sie mit den Separatisten eng zusammengearbeitet hatte. Sie hat ihnen wohl Geld gegeben, im Gegenzug haben die Separatisten sie angeblich verteidigt. Ich war als Ingenieur für Arbeitssicherheit der einzige in einer leitenden Position, der zurückgeblieben war und musste deshalb die Leitung übernehmen. Als die Separatisten wieder zurückkamen, durfte ich nicht mehr bleiben, weil sie mich für einen Anhänger der ukrainischen Regierung hielten, ich war automatisch auf der schwarzen Liste.
Meine Mutter lebt in Anthrazit, das liegt im Separatistengebiet. Jetzt kann ich sie nicht mehr besuchen. Würde ich versuchen einzureisen, müsste ich damit rechnen, dass sie mich festnehmen, mir das Auto wegnehmen – und dann weiß ich nicht, vielleicht würde ich gegen jemanden getauscht, es wird viel getauscht, aber ich glaube nicht, dass ich für die ukrainische Regierung so wichtig bin. Im schlimmsten Fall erschießen sie mich.
Der Krieg
Mir ist schon einiges passiert. Als ich noch in Altschewsk wohnte, fuhr ich mit dem Auto zu meiner Mutter nach Anthrazit und wurde an einem Checkpoint von den Separatisten aufgehalten. Sie nahmen mich fest und konfrontierten mich mit mir unbekannten Personen. Da war ein Mann, der mich angeblich erkannt hat und allen versicherte, ich hätte proukrainische politische Positionen. Nach einiger Zeit hat mir der Mann gesagt: Ich weiß, was du gemacht hast, wie du tickst, diesmal tun wir dir nichts an, weil wir deinen Vater gekannt haben und das war ein guter Mann, aber wenn wir dich hier noch einmal erwischen, gibt es kein Pardon mehr.
Die ukrainische Regierung sucht händeringend Soldaten. Ich habe aber Glück gehabt: Ich habe keinen Wehrdienst geleistet, weil ich zu dem Zeitpunkt, da ich ihn antreten sollte, schon Doktorand war. Nach dem Gesetz durften sie mich nicht einziehen. Heute gibt es einen Erlass des Präsidenten, dass Menschen, die auf dem Territorium der Separatisten wohnen, nicht rekrutiert werden dürfen. Offiziell bin ich in Anthrazit bei meiner Mutter gemeldet.
Im Studentenheim
In den 90ern gab es viel Gewalttätigkeit. Ich war als Kind ziemlich dick und die anderen machten sich über mich lustig. Einmal haben mich Mitschüler vor den Augen der Mädchen zusammengeschlagen, das war super peinlich. Ich hab dann meinem Vater gesagt, ich möchte Sport machen, und er hat mich zum Ringen geschickt. Später habe ich mich an allen dreien, die mich geschlagen haben, ein bisschen gerächt.
Danach habe ich die Schwächeren in der Schule verteidigt. Ich war sehr aktiv im Sport, habe an städtischen Wettbewerben teilgenommen und einmal sogar einen gesamtukrainischen Wettbewerb gewonnen, im Ringen. Als ich an die Uni in Altschew kam, hatte ich mehr Erfahrung und war körperlich viel sicherer.
Altschew war eine Arbeiterhochschule für das Bauwesen, Metallindustrie u.ä. Da gab es eine große Clique von Jungs aus meiner Stadt, die auch Sport gemacht haben. Sie arbeiteten alle in einem Betrieb und gingen auf die Hochschule in der Nähe. Als ich anfing zu studieren, wohnte ich im Studentenheim der Bergbaufakultät zusammen mit 700 weiteren Studenten, überwiegend Jungs und durchweg Leute, die sich keine eigene Mietwohnung leisten konnten. Die Verhältnisse waren ziemlich gewalttätig, die Jüngeren wurden schikaniert. Anfangs haben sie das auch mit mir versucht, aber ich wehrte mich gleich dagegen und so haben sie mich in Ruhe gelassen.
Ein Stockwerk über mir aber wohnte ein Junge, der nicht sehr männlich aussah, er hatte immer gute Noten und konnte sich nicht richtig wehren; der wurde ständig gehänselt und sogar zusammengeschlagen. Jeder im Studentenheim wusste, wenn du dich lustig machen möchtest, da gibt es so einen, geh mal hin und spiel mit ihm. Ich habe ihm angeboten, wenn das nächste Mal wieder was ist, soll er diese Leute zu mir aufs Zimmer schicken. Ich hatte kein Einzelzimmer, sondern teilte es mit drei anderen Kumpels, ebenfalls Sportler. Am nächsten Abend kamen ziemlich viele angetrunkene ältere Studenten zu uns, er hatte sie geschickt. Denen haben wir sehr volksnah erklärt, dass sie sich ein bisschen falsch verhalten – mit starken, ethischen Argumenten. Wir hatten ja Ringen gelernt und mussten sie nicht unbedingt angreifen.
Der Fall hat mich schnell berühmt gemacht, weil auch die Intellektuellen sich zusammenschlossen und von mir erzählten. Mehrere Leute baten mich um Hilfe und binnen drei, vier Monaten haben wir die schikanöse Praxis ausgerottet. Am Ende des ersten Studienjahrs wurde ich von diesen Jungs zum Heimsprecher gewählt.
Die Studentengewerkschaft
Acht Monate nach den Wahlen im Studentenheim fanden die Wahlen zur studentischen Selbstverwaltung statt, auch da wurde ich von diesen Jungs aufgestellt und gewählt. Ich wurde Leiter dieser Struktur. Mein Schwerpunkt war die Verteidigung der Rechte und Interessen der Studierenden und ich wurde schnell zum Konkurrenten der offiziellen Studentengewerkschaft, die noch nach dem alten sowjetischen Muster funktionierte. Diese Gewerkschaft leitete ein 45jähriger, der längst nicht mehr studierte. Er brachte seinen Nachfolger selber mit, der war 33 und blieb bis 40. Viele ihrer sog. Aktivisten arbeiteten mit der Fakultätsverwaltung zusammen und bekamen Pöstchen dafür – und natürlich waren sie gegen mich.
Ich habe eine Mikro-Revolution angezettelt und mich mit der offiziellen Studentengewerkschaft angelegt. Wir anderen haben uns zusammengetan und vom Rektor Neuwahlen gefordert. Wir haben eine Vollversammlung einberufen, zu der über 120 Delegierte kamen, und die Vertretung wurde neu gewählt. In diesen Wahlen habe ich mit großem Abstand gewonnen, für mich stimmten über 100 Delegierte. Vier Jahre lang, von 2008 bis 2011, habe ich für die studentische Selbstverwaltung gearbeitet und war deren Leiter. So kam ich zur Gewerkschaft, um die sozialen Rechte zu verteidigen.
Als ich zehn Monate nach Beendigung des Studiums an die Uni zurückkam um den Doktor zu machen, habe ich gesehen, dass die Struktur, die ich fünf Jahre lang aufgebaut hatte, schon wieder in den alten Trott verfallen war und mit der Verwaltung kungelte. Ich habe an dieser Uni den offiziellen Gewerkschaften den Krieg erklärt und die erste unabhängige Gewerkschaft der Studierenden und Graduierten gegründet und sie in die Konföderation der freien Gewerkschaften (KWPU) überführt. Dann bin ich arbeiten gegangen und hatte weniger Zeit, so dass ich zur Bergarbeitergewerkschaft wechselte, wo ich seit 2011 bin.
Verfolgung
In der Zeit meines aktiven Engagements an der Uni wurde ich zweimal spät abends überfallen, 2010 und 2012. Das erste Mal wurden zwei Pistolenschüsse auf mich abgefeuert, beim zweiten Mal bekam ich drei Messerstiche ab. Es können mehrere sein, die mich nicht mochten, ich habe mir durch mein Engagement natürlich auch Feinde gemacht. Vor kurzem, vor zwei Wochen, fand man einen Kollegen von mir, der verschwunden war, einen Gewerkschaftsfunktionär aus der Stadt Soledar, in einer Salzgrube tot auf. Sein Körper wies zwei Pistoleneinschüsse auf. Seine Familienangehörigen sagen: Seine politische Meinung war proukrainisch. Seitens der Kiewer Regierung habe ich bis jetzt noch keine Drohungen erlebt.
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