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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2015
... vor 40 Jahren

von Dieter Braeg

Am 10.März 1975 besetzte die Belegschaft die Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte.

In der kleinen Stadt Erwitte nahe Lippstadt begann am 10.März 1975 die erste Betriebsbesetzung in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Warum fand diese Form des Kampfes gegen die Willkür des Kapitals kaum Eingang in die Geschichtsbücher und führte nicht zu den notwendigen Diskussionen, wie man der Zerstörung von Arbeitsplätzen begegnen könne?

Erwitte war und ist eine kleine Stadt mit etwa 15000 Einwohnern in der westfälischen Provinz. 1919 wurde das erste Zementwerk gebaut, bis heute hatten mehrere Zementfabriken dort ihren Standort. In den 70er Jahren ließ der Bauboom nach und die Zementpreise in Westfalen sanken auf 45 Mark je Tonne, in Bayern wurde die Tonne noch für 100 Mark verkauft. Ein mörderischer Konkurrenzkampf begann, vor allem in Erwitte, wo es viele Zementfabriken gab. Am 6.Dezember 1974 beruhigte F.C.Seibel die Belegschaft, denn es gab Gerüchte, dass der Betrieb verkauft oder sogar komplett geschlossen würde. Am 7.Januar 1975 sprach man über Kurzarbeit und nachdem der Betriebsrat anhand von Unterlagen über die wirtschaftliche Situation informiert werden wollte, wie es das Betriebsverfassungsgesetz vorschreibt, drohte Seibel, 50 Arbeiter zu entlassen.

Seibel wurde in der damaligen Berichterstattung als ein «Ausnahmefall» dargestellt, eine Art «Monsterkapitalist», der er natürlich nicht war. Er praktizierte schon damals das, was Werner Rügemer und Elmar Wigand in ihrem Buch Die Fertigmacher. Arbeitsunrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung beschreiben.

Seibel wollte 96 Arbeiter entlassen, darunter unter besonderem Kündigungsschutz stehende Schwerbehinderte und Wahlbewerber zur anstehenden Betriebsratswahl sowie im Amt befindliche Betriebsratsmitglieder.

Noch am 6.März hatte es Verhandlungen mit Seibel gegeben, an denen auch die IG Chemie-Papier-Keramik (IG CPK) beteiligt war. Herbert Borghoff, Geschäftsführer der Verwaltungsstelle der IG-CPK-Geschäftsstelle in Neubeckum, verteilte Flugblätter, auf denen er die Erwitter Bevölkerung zu Solidarität mit den Arbeitern aufforderte: «Seibels Existenz ist gesichert, was wird aus uns und unseren Familien?»

Die Firmenleitung forderte vom Betriebsrat, dass er vorab einer Einführung von Kurzarbeit für sechs Monate bei zwanzig Wochenstunden, dazu einer Reduzierung der Belegschaft von 150 auf 125 Beschäftigte bis Ende 1975, und der Beschränkung der Laufzeit des Haustarifvertrags auf sechs Monate zustimmen sollte.

Die Gegenforderungen des Betriebsrats an die Betriebsleitung waren: Rücknahme aller Kündigungen, Erstellung eines Sozialplans für die von der Reduzierung betroffenen Mitarbeiter, keine Veränderung der Laufzeit für Tarifverträge und Zustimmung zur Kurzarbeit nur nach Prüfung exakter wirtschaftlicher Daten des Betriebs.

Es gab keine Einigung, die Geduld der Belegschaft war 10.März 1975 zu Ende. Die erste Betriebsbesetzung in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seit Beginn der Weimarer Republik hatte begonnen. Die örtliche Polizei weigerte sich trotz Aufforderung durch den Betriebsbesitzer den besetzten Betrieb zu räumen. Insgesamt dauerte der Arbeitskampf 449 Tage. Nach einer von fast 15000 Menschen besuchten 1.-Mai-Feier in Erwitte wurde, auch auf Druck der Vorstandsbürokratie der IG CPK, die Betriebsbesetzung in einen Streik «umgewandelt» und der Betrieb geräumt.

Dieser Arbeitskampf dauerte viele Jahre und war durch «Maßnahmen» des Firmenbesitzers Seibel gekennzeichnet, die auch heute zum Werkzeugkasten des union busting gehören: Abmahnungen, Kündigungen, Diffamierung, Spaltung der Belegschaft, Streikbrechereinsatz, fristlose Kündigungen der Betriebsratsmitglieder, Manipulation der Betriebsratswahlen, Verweigerung von Lohnzahlungen, Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe. Insgesamt gab es zum Kampf in Erwitte über 1600 Gerichtsverfahren, darunter 106 Fälle wegen fristloser Kündigung. Alle Klagen gegen fristlose Kündigungen wurden gewonnen, das dauerte fast zehn Jahre.

Außerdem wurde wegen Aussperrung geklagt und wegen Lohnforderungen. Die IG CPK wurde zusammen mit dem Betriebsratsvorsitzenden Josef Köchling und Herbert Borghoff zu Schadenersatzzahlungen in Millionenhöhe verurteilt. Es ging dabei um einen «technischen» und «wirtschaftlichen» Schaden, die Beklagten mussten Seibel fast 6 Millionen Mark Schadenersatz bezahlen, wobei Seibels Forderung doppelt so hoch war. Die Gerichte hatten festgestellt, dass Seibel zu 50% am Konflikt mitschuldig war.

Die Rolle der Frauen

Die Auswirkungen dieser Betriebsbesetzung im Jahre 1975 sind bis heute spürbar. Ein «Arbeitsrecht», das spontane Arbeitsniederlegungen genauso wie Betriebsbesetzungen als einen schweren Verstoß gegen geltendes Recht ansieht, ist nicht geeignet, notwendigen Widerstand gegen die immer skrupelloseren Gewinnmaximierungsstrategien des Kapitals zu entwickeln. Statt für ein Arbeitsrecht zu kämpfen, das die abhängig Beschäftigten schützt, sind einzelne Gewerkschaften im DGB bereit, mit Hilfe der jetzigen Regierung und der Bundesarbeitsministerin Nahles von der SPD – einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das ohnehin schon schwache Arbeitskampfrecht weiter einschränkt.

Es gab aber bei diesem Kampf auch eine überaus interessante Entwicklung, die es bei anderen Arbeitskämpfen in Deutschland so kaum gegeben hat. Es bildete sich eine Frauengruppe, die vor allem aus den betroffenen Frauen der Beschäftigten bestand. Die IG CPK sorgte für Schulungen, und die Frauen gaben auch eine Broschüre über ihre Erfahrungen in diesem Kampf heraus.

Eine Arbeitsgruppe des Instituts für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster, Regina Hennecke, Beate Mühl und Ulla Wischermann, war in den Jahren 1975/76 in Erwitte vor Ort und veröffentlichte eine Broschüre mit dem Titel Die Rolle der Frauen im Arbeitskampf in Erwitte: «Die Frauen nahmen bewusster an gesellschaftspolitischen Ereignissen teil … Sensibilisiert für alle gesellschaftlichen Ausnahmesituationen (Beispiel: Erdbeben – Friaul) entwickelten die Frauen den Wunsch sich einzusetzen, wobei sie lernten, zwischen Naturkatastrophen und politischen Missständen zu unterscheiden (Beispiele: Vietnam und Portugal). Aus der Vertrautheit in der Gruppe und ihrer ihnen gemäßen Diskussionsstruktur – Vermischung von privaten und politischen Problemen –, forderten die Frauen, eine reine Frauengruppe zu bleiben, und lehnten eine Erweiterung der Gruppe etwa durch Männer ab. Das Lob des hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionärs, gute Arbeit geleistet zu haben, freute die Frauen, doch wandten sie sich energisch dagegen, dass er … versuchte, den künftigen Sinn einer reinen Frauengruppe zu bestreiten.»

Kampfmittel Betriebsbesetzung

Im Jahr 1975 gab es nicht nur in Erwitte einen mutigen Kampf gegen die Zerstörung von Arbeitsplätzen, auch in Kalldorf, wo ein Betrieb des Demag-Mannesmann-Konzerns geschlossen wurde. Wie in Erwitte gab es auch hier eine Niederlage: 1280 Arbeiter und Angestellte verloren ihre Arbeitsplätze. Die Chance der Gewerkschaften, mit dem Kampfmittel Betriebsbesetzung eine neue Form des Kampfes gegen die Zerstörung der Arbeitsplätze mutig zu unterstützen, wurde vertan. Dass nach diesen arbeitsrechtlichen Niederlagen die heutige IG BCE beim Kampf bei Neupack in Hamburg den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit wieder nicht nutzte, trotz einer mutigen Belegschaft – könnte das noch eine Nachwirkung der Auseinandersetzungen in Erwitte sein? Nicht vergessen sollte man aber auch, dass diese Gewerkschaft Hartz IV befürwortet hat.

Auch nach 40 Jahren muss in der Diskussion über die Frage des Kampfes zur Sicherung der Arbeitsplätze das notwendige Kampfmittel Betriebsbesetzung wieder auf die Tageordnung gesetzt werden. Dabei geht es nicht nur um das Streikrecht. Eine radikale Veränderung im Bereich Kündigungsschutz- und Betriebsverfassungsgesetz ist notwendig. Diesen Kampf müssen die Gewerkschaften aufnehmen und nicht einen Gesetzentwurf zur «Tarifeinheit» befürworten, den Regierung und Kapital vorantreiben, um das Koalitions- und Streikrecht weiter einzuschränken.

In einem Interview mit dem BR-Vorsitzenden Josef Köchling von Ende 1998 beantwortete dieser die Frage, ob alle Arbeiter bei Seibel & Söhne weitergearbeitet hätten, wie folgt: «Nein, die meisten wollten nachher nicht mehr unter Seibel arbeiten. Viele haben sich umschulen lassen und sind nachher noch etwas anderes geworden. Ich habe danach noch 16 Jahre im öffentlichen Dienst gearbeitet. Aber die Stellensuche gestaltete sich für mich sehr schwierig. Ich wurde oft als Revolutionär bezeichnet. Doch auch für die anderen Arbeiter war die Stellensuche nicht einfach. Man sagte: ‹Die von Seibel, die brauchen wir hier nicht!› Ich hatte zwar schon vorher ein Arbeitsangebot bekommen, wartete aber, bis auch der Letzte Arbeit gefunden hatte.»

Die Firma Seibel & Söhne existiert auch heute noch, mit etwa 100 Beschäftigten. Wie sie zur Firmengeschichte steht, wenn es um diesen Arbeitskampf geht, kann man auf ihrer Homepage www.seibel-soehne.de in Erfahrung bringen. Wie steht sie dazu? Gar nicht!

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