Eric Toussaint über die ersten Schritte der neuen griechischen Regierung
Die neue Regierung, die Griechenland aus dem Jammertal der Spardiktate führen will, hat die politische Bühne mit Paukenschlägen betreten. Von den Dogmatikern in der EU wird sie hart bedrängt, den alten Kurs fortzusetzen. Welche Optionen hat die Regierung überhaupt?Wie beurteilen Sie die ersten wirtschaftspolitischen Maßnahmen der SYRIZA-Regierung?
Eine Reihe ungerechter, unpopulärer und für das Land unheilvoller Maßnahmen wurden zurückgenommen. Die Regierung stellt 300000 Haushalten, die ohne Strom waren, kostenlose Elektrizität zur Verfügung; der gesetzliche Mindestlohn wird auf sein früheres Niveau (751 Euro) angehoben; 3500 Entlassene wieder eingestellt; das von der Troika geschaffene Instrument zur Durchführung der Privatisierungen aufgelöst; der Verkauf der Häfen von Piräus und Thessaloniki gestoppt… Die Regierung hat gezeigt, dass sie das erhaltene Mandat respektiert. Darüber können wir uns nur freuen.
Wie ist die Zusammensetzung der Regierung zu bewerten?
Sie ist das Ergebnis eines geschickten Gleichgewichts. Die entscheidende Person ist der stellvertretende Ministerpräsident Giannis Dragasakis vom gemäßigten Flügel von SYRIZA, wichtig auch Giorgos Katrougalos, der mit der Verwaltungsreform betraut ist und die Wiedereinstellung von Entlassenen aus dem öffentlichen Dienst angekündigt hat. Er gehört wie ich zu den Initiatoren der Initiative für einen Bürgeraudit der griechischen Schulden!
Die Ernennung von Panos Kammenos zum Verteidigungsminister und die Allianz von SYRIZA mit der Rechtspartei ANEL macht zugleich die Verwirklichung anderer Wahlversprechen schwieriger – etwa das Vorhaben, die Kirche zur Kasse zu bitten und die Armee zu verschlanken.
Ja, das sind zwei beunruhigende Konzessionen. Seit anderthalb Jahren gibt Alexis Tsipras positive Erklärungen zur Kirche ab, zu ihrer Rolle bei der Heilung der sozialen Wunden der Sparpolitik, erinnert aber nicht daran, dass diese große Grundeigentümerin mehr zu den öffentlichen Finanzen beitragen muss.
Die Präsenz von Kammenos im Verteidigungsministerium ist wohl eine Botschaft an die Armee: SYRIZA wird sie nicht anrühren. Der griechische Militäretat ist derzeit proportional einer der bedeutendsten in der EU. Deutschland und Frankreich, die hauptsächlich die griechische Armee beliefern, achteten stets darauf, dass in diesem Bereich nicht gespart wird. Kammenos hat allerdings in der Gestalt des Vizeministers Kostas Isichos einen Aufpasser erhalten. Isichos, ein aus Argentinien stammender, ehemaliger Guerillero der [linksperonistischen] Montoneros, gehört zur SYRIZA-Linken.
Trotz der Präsenz von ANEL im Kabinett, die im Geruch des Rassismus steht, hat die Regierung sofort Migrantenkindern, die im Land geboren oder aufgewachsen sind, die griechische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Die vorherige Regierung hatte die fremdenfeindliche Karte gespielt. SYRIZA zeigt, dass sich die Koalition mit ANEL auf ökonomische Fragen beschränkt und die Migranten nicht den Preis dafür zahlen müssen.
In der zentralen Frage der Schulden schlagen Stimmen in SYRIZA ein Zahlungsmoratorium vor, das an das Wachstum gebunden ist.
Dies wäre bereits ein Rückzug und eine Reaktion auf die sehr heftigen und sehr negativen Stellungnahmen aus der Eurozone, wonach bestenfalls eine Umschuldung in Betracht gezogen wird. Die Einstellung der Zahlungen ist, wie der Schuldenaudit, ein Teil der von SYRIZA in Betracht gezogenen Maßnahmen, aber nur in zweiter Linie. In erster Linie fordert die Regierung Neuverhandlungen und eine internationale Konferenz über die gesamten Schulden. Sie will die Debatte in das Herz der europäischen Institutionen tragen und lehnt die illegitime Troika (EZB, IWF, EU) ab.
Die Fronten scheinen also verhärtet. Will man so den Einsatz erhöhen, oder zeichnet sich hier ein unmöglicher Dialog ab?
Ich neige zur zweiten Variante. SYRIZA schlägt zwei elementare Dinge vor: Wir bewahren einen ausgeglichenen Haushalt – wessen sich nur wenige europäische Regierungen rühmen können –, aber wir teilen die Lasten anders auf, entlasten die Opfer der Krise und erhöhen die Belastungen für ihre Gewinner. Zweitens: Wir verhandeln über die Reduzierung der Schulden. Für die europäischen Eliten sind die Schulden das Instrument zur Durchsetzung neoliberaler Strukturanpassungsmaßnahmen, die SYRIZA beenden will. Ein Kompromiss scheint unmöglich. Höchstens wenn SYRIZA sagen würde: «Wir machen weiter mit dem neoliberalen Modell, aber ihr erleichtert die Schuldenlast», würde das die EU akzeptieren. Europa fordert, dass Tsipras sein Wort zurücknimmt. Schon jetzt hat SYRIZA Sand ins Getriebe geworfen, das ist entscheidend.
Über welche Waffen verfügen die beiden Lager, um die unvermeidliche Kraftprobe zu gewinnen?
Das zeigt ein Blick auf die Zahlen für 2015. Griechenland muss 21 Mrd. Euro in mehreren Raten zahlen, mit Hauptfälligkeitsdaten im März und Juli/August. Vor der Wahl war vorgesehen, dass die Troika Griechenland das nötige Geld für die Rückzahlungen leiht, unter der Bedingung, dass die Privatisierungen und die Sparpolitik fortgesetzt werden.
Die Waffe, über die SYRIZA verfügt, ist einfach: die Einstellung der Zahlungen. Dann müsste die griechische Regierung m.E. eine Kommission für einen Schuldenaudit schaffen, um zu bestimmen, welche Forderungen legitim sind und bezahlt werden müssen. Der Audit kann Argumente liefern, um eine Einstellung der Zahlungen bzw. eine Ablehnung illegaler Schulden zu begründen – also solcher, die nicht die innere Ordnung des Landes oder internationale Verträge respektieren.
Wie können Schulden, die von einer demokratischen Regierung ausgehandelt wurden, illegitim sein?
Weil sie unter missbräuchlichen Bedingungen ausgehandelt wurden. Griechenland wurde gezwungen, eine Politik der sozialen Gegenreform durchzuführen, die bestimmte Rechte verletzte, die Wirtschaft zerstörte und eine Rückzahlung unmöglich machte. Man kann auch zeigen, dass die Regierung illegal zugunsten von Sonderinteressen gehandelt hat, wodurch die Transaktion nichtig wird. Ein Audit der griechischen Schulden ist leicht: 80% der Schulden sind in den Händen der Troika und liegen nicht weiter zurück als das Jahr 2010.
Sie haben gesagt, dass die Mehrheit der Forderungen an Griechenland nun in europäischer öffentlicher Hand sind. Ist es nicht ungerecht, den europäischen Steuerzahler zur Kasse zu bitten?
Die Parlamente dieser Länder akzeptierten diese Darlehen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Man hat gesagt: «Man muss Griechenland retten», «Man muss den armen griechischen Rentnern helfen». In Wirklichkeit haben die Banken die Regierungen Frankreichs, Deutschlands, Belgiens dazu aufgefordert; sie waren beunruhigt, weil Griechenland nicht mehr in der Lage war, die mit sehr hohen Zinsen belasteten Darlehen zurückzuzahlen. Merkel und Sarkozy wollten den Banken erlauben, sich ohne Schaden aus der Affäre zu ziehen. Nicht die griechischen Renten sollten gerettet werden, die sollten vielmehr sinken! Wenn diese Operation aber dazu diente, die Gläubigerbanken zu retten, müssen sie sich das Geld von denen wiederholen – z.B. mit einer entsprechenden Steuer und so die Kosten für den Schuldenschnitt ausgleichen.
Die Summen, um die es geht, sind in Wirklichkeit für die EU nicht so bedeutend. Schon dass die internationalen Börsen nicht reagieren, zeigt, dass es kein systemisches Risiko gibt. Die Blockadepolitik der EU ist vor allem ideologisch motiviert. Sie will einen Präzedenzfall vermeiden, also ein Land ohne neoliberale Politik in der EU bleiben kann. SYRIZA scheitern zu lassen ist eine Botschaft an die zypriotischen, portugiesischen, irischen und spanischen Wähler. Vor allem letztere könnten in einigen Monaten für Podemos stimmen.
Falls Griechenland die Bedienung der Kredite einstellt und kein kein Geld mehr von der EU nach Griechenland fließt, explodieren die Zinsen auf den Kapitalmärkten. Wäre eine Liquiditätskrise Griechenlands die Folge?
Nein. Nichts deutet daraufhin, dass der Haushalt nicht mehr ausgeglichen wäre. Griechenland benötigt keine Fonds, die sowieso nur zur Rückzahlung verwendet würden. Nur ein minimaler Teil der griechischen Finanzen wird auf den Finanzmärkten aufgebracht. Die Zinsen explodierten schon vor acht Tagen, da war von einer Einstellung der Zahlungen noch gar nicht die Rede.
Über welche Waffen verfügt die EU, um Griechenland zu erdrosseln?
Den griechischen Banken geht es sehr schlecht, umso mehr als ihre Eigentümer nun die Kapitalflucht organisieren. Jetzt erhalten diese Banken Darlehen von der EZB, um ihre Liquidität zu sichern. Die EZB könnte diese Darlehen blockieren und so riskieren, dass das griechische Bankensystem zusammenbricht. Dann müsste Griechenland schnell reagieren, die Eigentümer der Banken enteignen und sie in öffentliche Hand überführen. Das würde eine Radikalisierung des Projekts SYRIZA bedeuten.
Kann die griechische Regierung auf wirkliche internationale Unterstützung hoffen?
Von den sozialen Bewegungen, ja! Wenn die großen deutschen Gewerkschaften SYRIZA offen unterstützen, hat das Gewicht. Auch Staaten außerhalb der EU können Griechenland aus opportunistischen Gründen unterstützen, ich denke da vor allem an Russland. Wenn Russland einige Milliarden zu niedrigen Zinsen und ohne Bedingungen leihen würde, könnte dies Griechenland helfen. Natürlich würde ich einen solchen Schritt von anderen Regierungen bevorzugen. Vor zehn Jahren hätte Hugo Chávez die Initiative dazu ergriffen, Venezuela hat aber nicht mehr die finanzielle Kapazität.
Ist der von SYRIZA verkündete Bruch möglich, ohne aus dem Euro auszusteigen?
Das werden wir sehen! SYRIZA hat eine sehr gute Formel: «Kein Opfer für den Euro», denn er ist es nicht wert. SYRIZA wird nicht die Initiative ergreifen, um die Eurozone zu verlassen, wenn sie nicht dazu gezwungen wird, denn die Mehrheit der Bevölkerung hält an der Einheitswährung fest. Ein Austritt wäre nur im Falle der Verstaatlichung der Banken und der strikten Kontrolle der Kapitalbewegungen von Interesse. Der Konflikt mit der EU würde dadurch schärfer, das erklärt das Zögern des weniger radikalen Flügels von SYRIZA.
Die Regierung könnte sich dann in einer neuen nationalen Währung bei der eigenen Nationalbank verschulden – natürlich nur wenn die Bevölkerung einer «neuen Drachme» vertraut. Es könnte eine Währungsreform mit einem Umverteilungseffekt geben, bei der der Wechselkurs mit dem Volumen der Transaktion variiert, um die weniger Wohlhabenden zu begünstigen. So etwas gab es schon, bspw. in Belgien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, damit kann auch die Inflation bekämpft werden. Dagegen wäre eine Abwertung, um die griechischen Exporte attraktiver zu machen, für die Kaufkraft der Bevölkerung riskant – sie bliebe auch vollständig im Rahmen der Logik des Wettbewerbs.
Die Länder der Eurozone haben kein Interesse daran, Griechenland auszuschließen.
Nein, es sei denn, um es politisch zu bestrafen. Aber es gibt keinen legalen Mechanismus dafür.
Die Maßnahmen der SYRIZA-Regierung sind mutig, bedeuten aber letztlich nicht mehr als eine Rückkehr zu einem früheren, nicht gerade progressiven Zustand. Was ist das politische Projekt von SYRIZA?
Offen gesagt, stelle ich mir dieselbe Frage. Aber wir werden es in den nächsten Monaten erfahren. Bislang ging es darum, ein wenig Sozialstaat zurückzuerlangen. Davon sind wir noch weit davon entfernt! Der Kapitalismus hat so klar gezeigt, wohin er uns führt! Ich würde es bedauern, wenn all diese Leiden und Anstrengungen nur zu einem etwas weniger stark regulierten Kapitalismus führen würden. Natürlich müssen diese Veränderungen mit der Zustimmung der Bevölkerung durchgeführt werden. SYRIZA wurde gewählt, um ein wenig soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen, nicht um den Kapitalismus abzuschaffen. Aber um die Bevölkerung mit sich fortzureißen, muss man ihr ein Projekt, eine Perspektive präsentieren. Da gibt es einen wirklichen Mangel an Reflexion und Ausarbeitung.
Eric Toussaint ist Sprecher des Komitees für die Streichung der Schulden der Dritten Welt (CADTM) und hat am Schuldenaudit der ecuadorianischen Regierung teilgenommen. Das Interview führte Benito Perez für die Schweizer Tageszeitung Le Courrier vom 3.2.2015 (www.lecourrier.ch/ 127395/syriza_un_grain_de_sable_ dans_l_engrenage).
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.