von J.-F.Anders
Arbeiter als Schreiber und als Thema von deutschsprachigen Gegenwartsromanen haben Seltenheitswert – zuletzt gab es das in der BRD vermutlich in den 70er Jahren. Da gab es mal den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt und seine Publikationen.Doch seit 2015 gibt es wieder einen deutschen Gegenwartsroman, der von Arbeiterinnen und Arbeitern in einem mittelständischen Industriebetrieb handelt: Robert Beckers Abgruppiert!
Hier schreibt ein Autor, der sich in seinem Thema wirklich auskennt, der sich nicht nur mal kundig gemacht hat, sondern im Werkzeugbau offenbar wirklich Bescheid weiß (über Spritzgusswerkzeuge für Kunststoffräder, über Fräsen, Bohren, Schleifen und Erodieren) – und der darüber hinaus ein genauer Beobachter betrieblicher Gruppenbeziehungen und ihrer Entwicklungen aus der Sicht von unten ist.
Die Konflikte
Der Erzähler Robert Becker, Metallfacharbeiter in einem mittelständischen hessischen Industriebetrieb, legt ein Tagebuch vor, «betriebliche Aufzeichnungen» nennt er es. Tatsächlich sind es nicht nur betriebliche Aufzeichnungen, gelegentlich sind sie eher privater – familiärer – Natur. Aber im wesentlichen sind es Aufzeichnungen darüber, was sich an seiner neuen Arbeitsstelle elf Monate lang abspielte.
Das zentrale Thema ist die Abgruppierung großer Teile der Belegschaft. Die Arbeitsplätze werden «neu bewertet» mit dem Ergebnis, dass die Betroffenen monatlich mehrere hundert Euro weniger in der Tasche haben. Ort des Geschehens ist ein mittelständischer Industriebetrieb, der nicht tarifgebunden ist, in dem kein Flächentarifvertrag gilt und kein Haustarif existiert, in dem es keinen Betriebsrat gibt (ein früherer Versuch, einen Betriebsrat zu gründen, wurde durch die Geschäftsleitung erfolgreich sabotiert) und der gewerkschaftliche Organisationsgrad gering ist:
«Die Gewerkschaft bekommt hier kein richtiges Bein an die Erde. Sie waren auch schon seit vielen Jahren nicht mehr auf einer Betriebsversammlung hier im Haus. Kein Wunder: Wie mir Manfred erzählt hat, gibt es nur alle Schaltjahre mal eine Versammlung, und die ist von der Geschäftsleitung einberufen, um den Leuten von der schwierigen Geschäftslage zu erzählen und ihnen bestenfalls noch ein frohes Fest zu wünschen.»
Der Betrieb hat eine knallharte Geschäftsleitung, die mit allen Mitteln versucht, die Belegschaft einzuschüchtern: «Die Chefs sind ganz rabiat. Der Uwe hat jetzt schon eine Abmahnung» – wegen «Störung des Betriebsfriedens» durch die «beleidigende» Äußerung, dass die Leute «systematisch minderbewertet werden» und dass sich die Firma auf Kosten der Leute eine goldene Nase verdient.
Und die Belegschaft dieses Industriebetriebs: «ein bunter Haufen – verschiedene Grüppchen», zum größeren Teil eingeschüchtert und ängstlich. «Wahrscheinlich hat jeder Angst, dass er bei einer Neubewertung der Arbeit Geld verliert.» «Jeder hofft, dass der Kelch der Abgruppierung an ihm vorbeigeht. Diejenigen, die dabei nicht schlechter abschneiden als vorher, werden keinen Finger für die anderen krumm machen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Hohen Herren werden nicht so dumm sein, alle abzugruppieren.»
Die Belegschaft ist eingeschüchtert. Trotzdem werden «die Leute immer stinkiger... weil das Geld nicht stimmt und kein einziger Weiterbildungslehrgang genehmigt wurde». Aber auch die Engagierteren wissen nicht, was sie sagen oder tun sollen.
Der Lernprozess
Abgruppiert! lässt die Lesenden nun detailliert miterleben, wie die Belegschaft mit dem Reallohnabbau umgeht; wie die Geschäftsleitung vorgeht; welche Schwierigkeiten die Belegschaft hat, sich dagegen zu wehren; und wie unterschiedlich sich die Kolleginnen und Kollegen verhalten.
Einen wesentlichen Teil des Buches machen die (häufig auf hessisch geführten) Gespräche aus, in denen sich nicht nur die Individualität der jeweils Sprechenden zeigt, sondern darüber hinaus auch klassische Argumentationsmuster deutlich werden. So macht der Autor den Lernprozess nicht nur Einzelner, sondern einer ganzen Belegschaft sichtbar.
Und dann gelingt es doch, Kampfkraft zu entwickeln, und immer wieder besteht die Gefahr von Rückschlägen und des gänzlichen Scheiterns – durch Unerfahrenheit, Naivität, Ratlosigkeit oder durch unbedachte Aufmüpfigkeit der (meist nur wenigen) aktiven Kolleginnen und Kollegen.
Dieser «Roman aus der Arbeitswelt» vermittelt Einsichten, wie Entwicklungen in der Belegschaft eines Industriebetriebs ablaufen, wie Mutlosigkeit, Resignation, Arschkriecherei und Machtlosigkeit herbeigeführt und aufrechterhalten werden; wie schwierig es ist, selbst kleinste Erfolge zu erzielen; aber eben auch: wann und wodurch Erfolge möglich werden.
Aufschlussreich ist übrigens, in was für einem Verlag dieser Roman erschienen ist – nämlich nicht in einem Literatur-Verlag. Literatur über die heutige Arbeitswelt aus der Perspektive der Arbeitenden, so aufschlussreich und gut geschrieben sie auch immer sein mag, hat aktuell vermutlich keine Chance, in einem literarischen Verlag veröffentlicht zu werden.
Mit dem Ende des Buches ist die Geschichte dieses Arbeitskampfs sicherlich nicht zu Ende. Vielleicht werden die Probleme für die Belegschaft ja sogar noch massiver. Vielleicht ist ja auch das Interesse der Lesenden an dem Roman so groß, dass sich Robert Becker veranlasst fühlt, eine Fortsetzung seiner «betrieblichen Aufzeichnungen» über die Arbeitswelt zu veröffentlichen.
* Norderstedt: Books on Demand, 2015. 240 S., 8,99 Euro
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