Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2015
Der Wunsch nach Einheit in Deutschland
von Manfred Dietenberger

Die «Stunde Null», von der anlässlich des 70.Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkrieges wieder so viel die Rede ist, gab es nicht wirklich. Dennoch, die bedingungslose Kapitulation am 8.Mai 1945 besiegelte die militärische Niederlage und das organisatorische Ende des deutschen Faschismus und das Aus für die von den Nazis geplanten «neuen europäischen Ordnung». Für die Menschen, die dieser barbarischen «Ordnung» unterworfen waren, war der 8.Mai 1945 ein Tag der Befreiung. Das galt besonders für hunderttausende sog. Fremdarbeiter, für die Überlebenden in den Konzentrationslagern, für die Widerstandskämpfer in den von Deutschen besetzten Ländern und für die überlebenden Aktivisten der Arbeiterbewegung in Deutschland und im Exil. Auf den Trümmern wuchs die Hoffnung auf eine antifaschistische, den Frieden sichernde sozialistische Neuordnung der Gesellschaft in Deutschland und Europa. Wie die antifaschistisch orientierten «Männer und Frauen der ersten Stunde» im nun von den Franzosen besetzten Teil Badens die Gunst der Stunde zu nutzen versuchten, beschreibt die baden-württembergische SPD auf ihrer Homepage so:
«In der ersten Euphorie des vermeintlichen ‹antifaschistischen Grundkonsenses› hat sich im Herbst 1945 in der südbadischen Industriestadt Singen aus den Reihen von Sozialdemokraten und Kommunisten eine lokale ‹Vereinigte Arbeiterpartei› formiert. Auch die Gründung der ‹Sozialistischen Partei Badens› unter dem Vorsitz des früheren langjährigen Landtagsabgeordneten Philipp Martzloff im Februar 1946 ist vom Willen geprägt, den Kommunisten die Hand zum Bunde zu reichen. Noch im selben Jahr soll der Annäherungskurs indes wieder ein Ende finden: Die brachiale Gewalt, mit der im Frühjahr 1946 in der sowjetisch besetzten Zone die Verschmelzung von KPD und SPD zu einer ‹Sozialistischen Einheitspartei› gegen das Widerstreben tausender von Sozialdemokraten durchgesetzt wird, macht den wahren Charakter des Sowjetkommunismus offenbar. Die südbadischen Sozialdemokraten beginnen jetzt auf Distanz zu gehen...»

Druck von unten

Die Tatsachen sprechen indes eine andere Sprache. In einem Brief vom Juni 1946 an die Hannoveraner Parteileitung unter Kurt Schumacher – der sich die badischen Sozialisten bis dahin als einziger Landesverband in den Westzonen nicht angeschlossen hatten – formulierte der damalige Landesvorsitzende der Sozialistischen Partei (SP), Philipp Martzloff, die Überlegungen und Hintergründe, die ihn und seine Parteigenossen zur Namensgebung seiner Organisation veranlasst hatten, kompakt und klar:
«Jahrelanges Zusammensein mit kommunistischen Genossen in Gefängnissen und im KZ ließ bis zum Umbruch den festen Willen erwachsen, allen Aufbau politisch und parteilich gemeinsam entstehen zu lassen. Es gibt in der Vergangenheit bis 1933 in der Bewegung der Sozialdemokratischen Partei Erscheinungen, die sich nicht immer einwandfrei im sozialistischen Sinne ausgewirkt haben. Um sich auch von solch unklarem Handeln zu lösen, bzw. einen gewissen Strich unter jene Vergangenheit zu ziehen, ohne dabei den alten Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Unehren auszusprechen, war man der Meinung, auch äußerlich den Namen in klarer, einfacher Form durch Sozialistische Partei auszudrücken. Die badische Partei wurde voriges Jahr illegal aufgezogen, bevor ersichtlich war, wie sich die Partei in den anderen Zonen entwickeln würde. Naheliegend war auch die Namensgebung der französischen Bruderpartei. Gleichzeitig sollte dieser Name auch die Plattform schaffen, um den reiferen, denkenden kommunistischen Genossen den Weg in die Partei zu ebnen.» (Martzloff an Parteivorstand Hannover, 22.6.1946, AdsD, Bestand Schumacher J 25.)
Verwandte Gedanken waren übrigens im Frühjahr 1945 unter den österreichischen Sozialdemokraten populär, sie nannten sich im April 1945 in «Sozialistische Partei Österreichs» um. Die am 16./17.Februar 1946 in Villingen im Schwarzwald gegründete badische Sozialistische Partei (SP) gab sich einen neuen Namen, um sich bewusst und deutlich sichtbar von der alten badischen bzw. Reichs-Sozialdemokratie, in der die SPD bis 1932 ständig Regierungsverantwortung mitgetragen hatte, abzugrenzen.

Zwischen Parteizentrale und Militärdiktatur

Baden war seit dem ausgehenden 19.Jahrhundert und auch während der Weimarer Zeit eines der Zentren des sozialdemokratischen Reformismus. Die Genossen sahen jetzt die Zeit gekommen, wieder an die fast verschütteten sozialistischen Traditionen seit 1848 anzuknüpfen. Es ging den badischen Sozialisten aber auch konkret darum, sich von der einheitsfeindlichen Strategie Kurt Schuhmachers abzugrenzen, die sich z.B. auf den sozialdemokratischen Funktionärskonferenzen von Hannover und Frankfurt a.M. im Januar 1946 zeigte.
Herbert Kriedemann vom vorläufigen Parteivorstand der SPD (vorher Büro Schumacher) in Hannover schrieb Ende April 1946 über den Parteiaufbau im französisch besetzten Baden, man wisse «verhältnismäßig wenig und vor allem wenig Gutes» (Kriedemann an Kurt Busse, 27.4.1946, AdsD, Bestand Schuhmacher J25). In Baden seien die Sozialdemokraten in kommunistisches und separatistisches Fahrwasser geraten.
Sogar das Neue Deutschland (23.6.1946) konnte wenige Wochen nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED in der sowjetischen Zone mit der Mitteilung auftrumpfen, dass in Baden die Gründung der SED unmittelbar bevorstehe. Schuld an dieser für die Gesamt-SPD äußerst unerfreulichen Entwicklung sei die französische Militärregierung, die stark kommunistisch durchsetzt sei und die badischen Sozialdemokraten nicht nur daran hindere, sich mit Hannover in Verbindung zu setzen, sondern, weit mehr noch, ihnen überhaupt verboten habe, sich authentisch darzustellen. Die Partei habe sich nämlich auf Druck der Franzosen Sozialistische Partei nennen müssen. Das sei ein unerhörtes, aber für die französische Besatzungsmacht eben typisches Diktat gewesen.
Das entspricht nicht den Tatsachen. Die stark regionale Ausrichtung z.B.erklärt sich unter anderem damit, dass die Franzosen eine sehr weitgehende Föderalisierung Deutschlands anstrebten. Bei seinem Besuch in Freiburg im Herbst 1945 lobte De Gaulle den historisch gewachsenen badischen Partikularismus und sprach davon, diesem gehöre jetzt wieder die Zukunft.
Der Gründung der badischen Sozialistischen Partei ging im April 1945 in Singen, dem Industriezentrum am westlichen Bodensee, der Zusammenschluss der Mitglieder der beiden ehemaligen Arbeiterparteien SPD und KPD voraus, die Ende der Weimarer Republik in der Stadt einen fast gleich hohen Stimmenanteil erhalten hatten (zusammen über 40%). Rasch wuchs die Vereinigte Arbeiterpartei Singen auf über 600 Mitglieder. Zeitgleich wurde, ebenfalls sehr erfolgreich, auf der anderen Seeseite die Vereinigte Arbeiterpartei Konstanz gegründet.
Die badischen Landesleitungen von KP und SP beschlossen Anfang März 1946 die Vorbereitung der Vereinigung beider Parteien. Die beabsichtigte Vereinigung entsprach dem breiten Willen der Ortsgruppen beider Parteien. Die Einheitsbewegung wurde auch durch zahlreiche Resolutionen aus den Industriebetrieben der Region unterstützt. Um die parteiförmige Arbeitereinheit noch vor den für Herbst 1946 vorgesehenen Landtagswahlen zu realisieren, beabsichtigte die Landesleitung der KP eine Unterschriftensammlung «Für die sozialistische Einheitspartei Badens». Die französische Militärführung verbot aber sowohl den Druck als auch die Vorbereitung des dazugehörenden Aufrufs. Die fadenscheinige Begründung des Verbots lautete, nur ordnungsgemäß zugelassene Parteien hätten das Recht, eine Werbetätigkeit zu entfalten.

1946 war alles vorbei

So verwundert es nicht wirklich, wenn die Hoffnung auf Arbeitereinheit nicht verwirklicht werden konnte. Gründe dafür gibt es viele. Hier sei aus Platzgründen nur folgendes erwähnt: Die französische Besatzungsmacht erzwang in Singen im Mai 1945 die Einstellung des örtlichen Einheitsorgans Neues Deutschland. Überhaupt durfte im Verlauf des gesamten Jahres 1945 keine antifaschistische Zeitung erscheinen. Auch das ab Mitte März 1946 von SP, KP und den Gewerkschaften in Singen erscheinende Gemeinschaftsorgan, die Volkszeitung wurde verboten. In den entscheidenden Monaten, in denen es in der sowjetisch besetzten Zone zur Verschmelzung von KPD und SPD kam, besaß die südbadische Arbeitereinheitsbewegung keine eigenen Zeitungen. Erst im Juli 1946 bekamen die badische SP und KP die Lizenz für die Herausgabe eigener Parteizeitungen, Der neue Tag (Offenburg) und das Volk (Freiburg i.Br.). Offiziellen Vertretern der inzwischen neu gegründeten SED wurde die Einreise verwehrt. Auf dem Landesparteitag im November 1946 fiel dann die Entscheidung der badischen SP gegen das Zusammengehen von SP und KP. Ohne Aussprache wurde auf diesem Landesparteitag der Antrag auf Anschluss an die SPD und die damit notwendige Namensänderung zu SPD angenommen.

Der Autor war zwanzig Jahre Vorsitzender des Geschichtsvereins Hochrhein und ist heute dessen Ehrenvorsitzender. Er war auch viele Jahre Vorsitzender des DGB-Kreis Waldshut.  Aufgrund der Randlage Badens, seiner besonderen Traditionen und der deutschlandpolitischen Vorstellungen der französischen Militarverwaltung konnte sich der Wunsch nach Einheit im deutschen Südwesten stärker ausprägen als andernorts. Doch er war überall präsent. Dieser Traditionsstrang ist auf beiden Seiten der Parteigeschichtsschreibung zum Opfer gefallen. Da den Bestrebungen nur eine kurze Zeit vergönnt war, ist zudem die Quellenlage dürftig. Doch es gibt noch viel zu entdecken. Für Strömungen, die ihren Weg jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus suchen, ist es von unschätzbarem Wert, diese Tradition wieder in Erinnerung zu rücken.

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