von der Redaktion
Vom 18.April bis zum 1.November zeigt der Künstler Joachim Römer (u.a. auch Grafiker und Bildgestalter der SoZ) seine Kunstinstallation «Tausend und eine Flaschenpost» im Museum am Strom in Bingen.
Das Museum am Strom, ein ehemaliges Elektrizitätswerk, liegt am wohl bekanntesten und bedeutungsschwangersten Strom Deutschlands, nur wenige Meter von der Mündung der Nahe in den Rhein entfernt. Bei Bingen beginnt der wildromantische Teil des Rheins, eine flach-hügelige Landschaft weicht schroff aufragenden Hügeln, enge Flusswindungen fordern die Schifffahrt heraus. Auf beiden Seiten des Flusses verlaufen Bahngleise, direkt gegenüber dem Museum liegt Rüdesheim mit seinem überflüssigen Niederwalddenkmal und der es krönenden Germania-Statue. An den steilen Hängen wird Wein angebaut.
Der Rhein fasziniert seit eh und je. In Bingen, das römische Ursprünge hat, sind sogar Flussgaben aus eben dieser Zeit überliefert. Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt sich Joachim Römer mit diesem Fluss, regelmäßig geht er an dessen Ufern – meist in Köln und Umgebung – spazieren. Und dabei findet er Dinge, oder sie finden ihn. Irgendwann war beim Strandgut auch Flaschenpost dabei. «Wenn ich tausend habe», meinte Joachim Römer vor einiger Zeit, «werde ich was daraus machen.» Mittlerweile hat er schon mehr als 1400 und sogar in den Tagen, in denen er seine Ausstellung in Bingen aufbaute, stolperte er über Flaschen mit Botschaften. In halbrunden, von hinten beleuchteten kreisförmigen Regalen zeigt er nun seine Flaschenpostfunde, darunter auch Quietschenten und Einmachgläser, von hinten beleuchtet und genau durchnummeriert. Was in den einzelnen Flaschen drinsteht, kann man im 120-Seiten-Booklet nachlesen.
Wie er dazu kam, was ihn an den Botschaften aus dem Fluss seit Jahren fesselt und wie das Finden zur Kunst wird, erklärt Joachim Römer besser, als irgendjemand anders es könnte:
nachrichten aus dem rhein, von seinen ufern, in fünfzehn jahren gesammelt, unterschiedlich intensiv. 2013 zum beispiel ging und fand ich sehr oft und viel: 250 flaschen.
flaschenpost. sehnsuchts-thema. rhein- und anders romantisch.
am saum zwischen wasser und land. sich veränderndes niemandsland. ufergehen.suchendes nicht-finden, findendes nicht-suchen. als künstlerischer prozess. An dessen weg, an einem unbestimmbar-bestimmten punkt schlug quantität in qualität um. die schiere menge verdichtete sich zu einem buch wie zu einer skulptur der alltagspoesie.
das spielerische der kinder. piraten- und schatzgeschichten, kindergeburtstage, taufen, hochzeiten. beschimpfungen und brieffreundschaftssuchen. sexualisierte angebote – zwiespältig-eindeutig. abschiede. lebenswünsche. gedenken an verstorbene. gebete. gedichte. traktate religiöser eiferer. hass und wut. partylauniges und prüfungsfeiern. fotos und ansichtskarten.
in stöckchen geritztes. übergabe schwerer emotionaler, existenzieller sorgen und nöte an den strom.
flaschen an den fluss, an die weite des meeres und an potenzielle empfängerinnen und empfänger. an das ungewisse, noch nicht festgelegte, offene. wird die flasche gefunden? soll sie überhaupt gefunden werden? wer wird sie finden? wie weit wird sie treiben?
abgeschickt, anonym oder mit adressen versehen, telefonnummern, e-mail-adressen.
auf ungewisse reise geschickte artefakte und texte, zeichnungen, gedichte, fotos.
die flaschen, gläser und behälter selbst. unterschiedliche form, farbe und materialität.
die reihe der flaschen ergeben, wie die der texte, in ihrer verschiedenheit und der abfolge ihres findens geordnet einen wellenförmigen fluss. auf und ab. Ansteigend und abebbend. klar und durchsichtig. verschlossen und kaum erkennbar.
mein leben ist durch die flaschenpostsammelei sehr verändert worden. der rhein und seine ufer haben mich schon immer angezogen. bei spaziergängen dort fand ich ruhe, konzentration, ideen und material für künstlerische arbeiten, neuen lebensmut in eher düsteren zeiten und viele glückliche momente. das in den letzten beiden jahren immer obsessiver gewordene sammel-gehen verlangte mir sehr viel disziplin und geduld ab – man findet nur, wenn man nicht (zu sehr) sucht. gleichzeitig wurde ich durch das wachsende «buch der poesie des lebens» mehr als reich beschenkt. wenn ich eines wirklich schätzen gelernt habe am künstler sein, ist es, dass man unter vielem anderen auch immer wieder staunen kann und darf wie ein kind.
Manche dieser aus dem Fluss gefischten Botschaften berühren tief, oft taucht man durch wenige Zeilen in ein fremdes Leben ein, in innige und intime Gedankenwelten, in Trauriges, Lustiges, und nebenbei erfreuen die vielfältigen kreativen Rechtschreibungen und Grammatikvarianten. Man muss Joachim Römers Installation der Flaschen sehen, um einen umfassenden Eindruck dieser poetischen Arbeit zu bekommen. Hier einige wenige Auszüge aus den Botschaften aus dem Fluss.
04/12-02 …ich wünsche mir, dass ich meine angst überwinden kann, wenn sie sich mir in den weg stellt. … ich möchte meine melancholie nicht mehr fühlen (müssen). ich möchte den sommer geniessen können.
andere handschrift: … bevor ich gehe, habe ich noch einiges zu klären, das ich schon solange mit mir trage. deshalb möchte ich vieles ab?schliessen, bevor ich mich voller hoffnung und vorfreude meinem neuen, so freien leben widmen kann. … ich möchte die liebe meines lebens finden und im nächsten jahr hier mit meinen zwei besten freunden stehen und mich an die gemeinsame zeit, an unsere geschichte zurückbesinnen. Mit ihnen lachen, weinen und schwelgen. Sehnsucht ziehe mich dahin, wo ich hingehöre!
04/12-08 …man muss tanzen, die welt ist schlecht genug, man muss tanzen. vielleicht wäre die welt etwas besser wenn wir alle mehr tanzen würden. wenn george w. getanzt hätte, putin öfter das tanzbein schwingen würde, wenn osama öfters mal ne polka getanzt hätte und mao tse tung mal sirtaki gelernt hätte.
12/14-83 köln …in köln ist es supper, es scheint die sonne ich weiss nicht mahl als es zum ersten mahl gesehen hat. und wenn die sonne scheint glenzt der rhein sehr schön. der rhein siht sehr schön aus. wir hoffen es ist bei euch auch sehr warm und schön. wenn ihr kein deutsch verstet ist das nicht mehr meine schuld. viele grüsse aus köln. bitte schreibt zurück!!
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.