Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2015
Soziale Kämpfe europäisieren!

von Manuel Kellner und Angela Klein

In einem Offenen Brief an die Bundeskanzlerin mahnen Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf u.a. eine neue europäische Krisenpolitik und die Rückzahlung des griechischen Zwangskredits aus dem Zweiten Weltkrieg an: «Wenn wir am 8.Mai 2015 zum siebzigstenmal an das Ende des Krieges denken, verneigen wir uns abermals vor dem Leid und den Toten des von den Nationalsozialisten entfachten Zweiten Weltkriegs, der Europa in Schutt und Asche legte. Wir denken aber auch daran, dass die Wiedergutmachung noch nicht abgeschlossen ist. Im Gegensatz zur Auffassung Ihrer Regierung meinen wir, dass historische Schuld nicht verjährt, die Opfer unabhängig vom zeitlichen Abstand der Schädigung entschädigt werden müssen und offene völkerrechtliche Ansprüche nur durch beidseitige Verträge zu befrieden sind.»

Bislang ist die EU, vor allem auf Druck der Bundesregierung, der neuen linken Regierung SYRIZA nur als Erpresserin gegenüber getreten. Mit einer Herrenmenschenattitüde, die man längst vergessen glaubte, überbietet sie sich tagtäglich mit scharfen Zurechtweisungen, was die demokratisch gewählte Regierung alles tun und lassen soll – so als wäre Griechenland eine (deutsche) Kolonie. Mit großem Propagandaaufwand wird vertuscht, dass Griechenland nur die Speerspitze der jüngsten Finanz-, Schulden- und Eurokrise ist, die noch lange nicht vorbei und mit Rezepten aus dem Hause Schäuble offensichtlich nicht zu lösen ist. Es wird vertuscht, dass es Investmentbanker von Goldman Sachs waren, die nicht nur die jüngste Weltwirtschaftskrise verursacht, sondern auch Griechenland mit gezinkten Karten in den Euro bugsiert haben. Es wird vertuscht, dass Schäubles Rosskur für Griechenland gescheitert ist, weil sie dem Land ein Vielfaches der Schulden aufbürdet, die es zu Beginn der Krise hatte. Es wird vertuscht, dass der deutsche Steuerzahler bislang keinen Pfennig für Griechenland gezahlt hat, 95% der Hilfskredite aber an deutsche und französische Banken zurückgeflossen sind!
Die griechische Bevölkerung hat den Mut besessen, am 25.Januar zu sagen: «Es reicht! Wir leiden es nicht mehr, dass wir für das Wohlergehen deutscher Gläubiger in den Ruin getrieben werden.» Eine Parlamentskommission wird jetzt anhand eines Schuldenaudits prüfen, welche der griechischen Schulden legal und legitim sind und welche nicht.
Die neue Regierung will einen anderen Weg beschreiten, um aus der Krise herauszukommen – durch Stärkung der Binnennachfrage und der öffentlichen Investitionen. Dort sind Kredite oder ein Haushaltsüberschuss besser angelegt als in der stupiden Bedienung von Schulden, womit nur die Konten derer aufgebläht werden, die eh schon nicht wissen, wo sie mit ihrem Geld hinsollen. Für diesen Weg hat sie das Vertrauen der großen Mehrheit der Bevölkerung. Und sie ist sogar der Auffassung, dass dieser Weg nicht nur für Griechenland, sondern für die EU insgesamt besser wäre als Schäubles Kahlfraßpolitik.
Hat sie damit so unrecht? Droht nicht auch hierzulande im öffentlichen Dienst ein Aderlass durch Gabriels Privatisierungspolitik? Wird nicht auch hier das Streikrecht beschnitten in Form des Gesetzes für die sog. «Tarifeinheit»? Und in Deutschland brummt die Wirtschaft noch, machen die Konzerne Gewinne wie schon lange nicht mehr. Wie soll das erst werden, wenn die Konjunktur kippt und die Entscheidung, die Geldmärkte zu fluten um den Euro zu stabilisieren, sich als Maßnahme herausstellt, die an anderer Stelle, etwa auf den Aktienmärkten, noch größere Blasen schafft?

Das sture deutsche Krisenmanagement fährt die Karre an die Wand. Darin hat das deutsche Bürgertum Tradition – das hat es Ende der Weimarer Republik schon einmal getan. Mit den bekannten Folgen. Diesmal riskiert Schäuble mit seinem Erpressungskurs den griechischen Staatsbankrott und das Auseinanderfallen der EU – mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Als schwäbische Hausfrau geht er nur bei Geldanlegern durch, die darüber klagen, dass ihnen das Zinsniveau zu niedrig ist. Für alle anderen ist er ein Va-Banque-Spieler.
Wir verteidigen die EU nicht. Gerade in der jüngsten Krise haben sich ihre Institutionen als willfährige Handlanger im Dienst des Finanzkapitals erwiesen. Ihr institutionelles Gefüge war immer nur an Kapitalinteressen ausgerichtet, und das Hauptziel bei der Einführung des Euro war ein imperiales, nämlich den Dollar als Leitwährung abzulösen! Gerade in der Krise zeigt sich, dass die Konstruktion einer Währungsunion, die nicht zugleich eine politische und Sozialunion ist, zum Scheitern verurteilt ist. Die Verträge von Maastricht und Lissabon, die dieses Monster geboren haben, gehören gekündigt. Sie müssen einer Neugründung Europas auf einer sozialen, ökologisch tragfähigen, antimilitaristischen und demokratischen Grundlage Platz machen.
In diesem Prozess kommt den arbeitenden Bevölkerungen eine Hauptrolle zu: Nur sie können definieren, wie sie künftig in Europa zusammenleben wollen. Aber gerade deshalb ist es uns nicht gleichgültig, ob die politische Krise der EU erneut in nationalen Egoismus und Chauvinismus mündet, oder ob Europa politisch zu einem zukunftsfähigen Projekt entwickelt werden kann.

Der Regierungswechsel in Griechenland bietet die Chance, gemeinsam an diesem Projekt zu arbeiten. Das ist die wirksamste Solidarität, die wir den Leidtragenden des EU-Krisenmanagements dort erweisen können. Und diese Solidarität ist in unserem eigenen Interesse!
Dem grassierenden Nationalismus und Rechtspopulismus in Europa schieben wir am ehesten einen Riegel vor, wenn wir die sozialen Kämpfe europäisieren. Wenn wir Schluss machen mit dem unsäglichen Lohn- und Sozialdumping! Wenn wir für gemeinsame Sozialstandards auf hohem Niveau und für gleiche soziale, Arbeits- und Bürgerrechte in Europa kämpfen. Mit einem existenzsichernden europäischen Mindestlohn wären Rumänen und Bulgaren nicht mehr gezwungen, ihr Land zu verlassen, und sie könnten hier nicht für 3 Euro oder weniger die Stunde als Lohndrücker eingesetzt werden. Mit einer einheitlichen Besteuerung der Gewinne und Vermögen auf hohem Niveau würde es den Unternehmen zumindest sehr erschwert, ihre Produktionsstandorte nach Belieben zu verlagern.

Die Diskussion auf der Linken verheddert sich derzeit gern in der Frage, ob die Strategie von SYRIZA, auf einen Kurswechsel in der EU zu setzen, gescheitert ist und ob die Regierung nicht besser auf einen Ausstieg aus dem Euro zusteuern soll. Wir halten diese Frage, ehrlich gesagt, für nachrangig. SYRIZA hat zumindest das Argument auf ihrer Seite, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Kurs der Regierung bislang stützt und einen Austritt aus dem Euro nicht will. Es kann trotzdem sein, dass der Regierung angesichts der deutschen Betonpolitik nichts anderes übrig bleibt. Aber weder ein Verbleib im Euro noch der Ausstieg aus ihm ist für sich genommen eine Weichenstellung für eine Politik im Interesse der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung.
Auch die sich andeutende Wirtschaftshilfe aus Russland und China in Form milliardenschwerer Vorauszahlungen auf künftige Gewinne aus dem Transit von Erdgas durch die geplante Pipeline Turkish Stream, die russisches Gas über die Türkei und Griechenland nach Europa bringen soll, oder auf die Nutzung des Hafens von Piräus und den Einstieg bei der griechischen Eisenbahn (im Fall von China) verschafft der Regierung in Athen zwar kurzfristig Luft, um dem Erpressungsdruck der EU zu entgehen. Wenn sie mittelfristig aber mehr bewirken soll als eine Verschiebung der Schuldenlast auf andere Gläubiger, muss die neue Regierung neben einer Abschreibung der Auslandsschulden auch eine drastische Umverteilung der Vermögen in Griechenland selbst in die Wege leiten. Dafür muss sie die Lohnabhängigen und die vielen kleinen Selbständigen zum Rückgrat einer solidarischen und ökologischen Wirtschaftsordnung machen – gestützt auf die bereits bestehenden Projekte gegenseitiger Hilfe. Das setzt voraus, dass die Regierung ihnen materielle Unterstützung und vor allem Mitspracherechte gibt.
Befragung der Bevölkerung, Transparenz in allen Entscheidungen, Mechanismen der partizipativen Demokratie auf allen Ebenen, wirksame öffentliche Kontrolle über Verwaltung, Finanzen und Investitionen: das könnten Leitlinien für eine Modernisierung der griechischen Gesellschaft sein, die mehr ist als nur das Nachholen mitteleuropäischer Standards. Die Regierung hätte davon den Vorteil, dass sie sich bei den Einschränkungen, die sie der Bevölkerung zumuten muss, von ihr nicht entfremdet. Die Bevölkerung hätte gewonnen, dass sie erstmals tatsächlich am Regieren beteiligt wird. Und für Europa würde Griechenland zu einem Vorbild. Hier könnte eine neue, nichtbürgerliche Demokratie erfunden werden!

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