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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2015
«Anzettelung von Streit und Provokation»

von Jochen Gester

Am 6. und 7.März kam es in China zu einer recht spektakulären Verhaftungsaktion. Zehn junge feministische Aktivistinnen hatten rund um den 8.März, dem Internationalen Frauentag, ungewöhnliche Aktionen in ihren Heimatstädten Peking, Guangzhou und Hangzhou geplant. Außer ihnen wurden noch andere Aktivisten auf dem Tiananmenplatz von der Polizei in Gewahrsam genommen. Nach dem Ende des Volkskongresses am 15.März wurden die meisten wieder freigelassen. Danach saßen noch fünf der zehn jungen Frauen einen Monat lang im Gefängnis und wurden Dauerverhören unterzogen. Amnesty International hatte deshalb zu einer dringenden Unterstützungsaktion aufgerufen und verbreitete folgende Information:
«Am 6.März um 16 Uhr wurden Wei Tingting und Wang Man zur Haidian Polizeiwache in Peking gebracht. Am selben Tag gegen 24 Uhr wurden auch Li Tingting und Zheng Churan bei sich zuhause in Peking bzw. in Guangzhou abgeholt. Wu Rongrong wurde bei ihrer Ankunft am Flughafen Hangzhou am 7.März um 14 Uhr festgenommen. Im Verlauf des Tages erhielt ein Freund von Wu Rongrong einen Telefonanruf von ihr und konnte hören, wie sie vor Schmerzen schrie. Die Verbindung wurde schon nach wenigen Sekunden unterbrochen, und Wu Rongrong war von da an nicht mehr erreichbar. Die Behörden beschlagnahmten die Computer und Telefone der Frauen sowie Unterlagen, mit denen sie Veranstaltungen im Rahmen des Internationalen Frauentags geplant hatten. Die Polizei führte außerdem eine Razzia in den Büros des Weizhiming Women Center in Hangzhou durch, einer NGO für Frauenrechte, die Wu Rongrong gegründet hat und bei der Zheng Churan und Li Tingting angestellt sind. Nach Angaben ihrer Rechtsbeistände sind die Angehörigen der Frauen nicht offiziell über die Festnahmen informiert worden. Alle fünf Frauen sind Mitglieder der Frauenrechtsorganisation Women’s Rights Action Group. Sie hatten für den 7.März öffentliche Veranstaltungen geplant, bei denen sie ein Ende der sexuellen Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln fordern wollten, die in zahlreichen Städten Chinas an der Tagesordnung ist. Sie hatten Aufkleber mit der Aufschrift ‹Stoppt sexuelle Belästigung, lasst uns in Ruhe!› und ‹Polizei, verhaftet diejenigen, die sexuelle Belästigungen begehen!› gedruckt, die sie im Rahmen der Veranstaltungen verteilen wollten. Wu Rongrong leidet unter chronischen Leberbeschwerden und befand sich in einem schlechten Gesundheitszustand, als sie festgenommen wurde. Es herrscht nun große Sorge um ihre Gesundheit, da man ihr möglicherweise die dringend benötigte medizinische Versorgung vorenthält.»
Auch der Rechtsbeistand von Wang Man soll darüber informiert worden sein, dass seine Mandantin im Gefängniskrankenhaus einen Herzinfarkt erlitten habe. Ein Zusammenhang mit den Dauerverhören ist nicht von der Hand zu weisen. Dem Anwalt von Li Tingting wird seit dem 19.März ebenfalls der Kontakt zu seiner Mandantin verwehrt.

Wilde Tänze

Wu Ronggrong (26), Zheng Churan (26 ), Wang Man (32), Wei Tingting (26) und Li Tingting (26) befanden sich über einen Monat in Haft. Mitte April wurden sie freigelassen. Doch sie dürfen ihre Heimatstädte nicht verlassen und haben sich für weitere Untersuchungen der Polizei zur Verfügung zu stellen. Die Sache ist nicht ausgestanden, das Ergebnis jedoch sicherlich ein Erfolg der großen Solidarität.
Die Anklage lautete auf «Anzettelung von Streit und Provokation». Dafür sehen die Vorkämpfer der «harmonischen Gesellschaft» in der regierenden KP bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug vor. Und provoziert fühlen die sich schnell. Die jungen Leute hatten, ohne zu fragen, verschiedenste Performances organisiert, angefangen von «wildem Tanzen» auf den Straßen bis zur Besetzung von Männerklos, um zu erreichen, dass mehr öffentliche Frauentoiletten gebaut werden. Aktivistinnen der Women’s Rights Action Group traten jedoch auch mit blutverschmierten Brautkleidern vor die Kameras, um auf drastische Weise gegen die verbreitete häusliche Gewalt zu demonstrieren.
Der drastische Einsatz der Staatsmacht gegen die recht überschaubaren Aktionen kleiner NGOs verlangt nach Erklärung. Auf den ersten Blick erscheinen sie viel zu marginal, als dass sie die Staatsmacht ernsthaft bedrohen könnten. Und überhaupt ist die gesellschaftliche Stellung der Frauen in China alles andere als eine Achillesferse des Regimes, auch wenn die neokonfuzianischen Deng-Xiaoping-Jünger in der postmaoistischen Ära einige Rückschritte zu verantworten haben.
Denn die Entfesselung des Kapitalismus seit Ende der 80er Jahre hat nicht nur die Gesellschaft im allgemeinen sozial polarisiert. Sie tat dies auch im Verhältnis der Geschlechter, so das Urteil der chinesischen Feministin Zhang Lijia. Nach offiziellen Statistiken verdienen Frauen in den Städten 67% dessen, was ihre männlichen Kollegen bekommen. 1990 lag die Quote noch bei 78%. Auch die Erwerbsquote sank von 77% auf 61%. Die antifeudale Revolution unter Führung Maos, der den Frauen «die Hälfte des Himmels» zusprach, hatte zu riesigen Fortschritten in der Befreiung der Frau geführt. Die Beendigung der erzwungenen Verkrüppelung ihrer Füße war dafür nur der anschaulichste Ausdruck. Nicht zu unrecht sind viele chinesische Frauen stolz auf diese Tradition.

Die Hälfte des Himmels

Frauen sind im heutigen China immer noch unvergleichlich besser gestellt als im großen Nachbarland Indien und oder in vielen Ländern insbesondere der islamischen Welt. Dem besser gestellten Teil unter ihnen bietet die Gesellschaft bislang ungekannte Karriereaussichten. Diese Schicht stellt bereits die Hälfte der Studierenden, und der Anteil der Frauen, die wirtschaftliche Spitzenjobs übernehmen, liegt um 10% über dem europäischen Niveau. Für die ärmeren Chinesinnen entsteht das größte Problem vor allem aus den Folgen der Ein-Kind-Politik, die zu massenhafter Abtreibung weiblicher Föten führt und auch den Handel mit Frauen befördert.

Auf Parteilinie

Das Thema «sexuelle Belästigung» ist in China kein Tabu, sondern bewegt seit Jahren die Öffentlichkeit. Fast 40% der Frauen in China geben an, Opfer von Gewalt oder sexuellen Übergriffen in der Ehe oder Beziehung geworden zu sein. Deren Verurteilung ist sogar offizieller Bestandteil der Frauenpolitik der KP. Ende 2014 verabschiedete die Regierung deshalb auch ein Gesetz, das erstmals «häusliche Gewalt» als Straftatbestand fasst, wenn er auch nur auf verheiratete Paare Anwendung findet. Eine nicht unerhebliche Rolle für das Zustandekommen der Reform spielte die Ehefrau eines in China sehr bekannten Englischlehrers, die ihren Mann öffentlich anzeigte und Bilder ihres geschundenen Körpers ins Netz stellte. Es verwundert nicht, dass die Eltern der fünf inhaftierten Frauen nicht nur erklärten, ihre Töchter hätten «keine Fehler, geschweige denn Verbrechen begangen», sondern sie hätten «danach gestrebt, die offizielle Politik der Geschlechter zu verwirklichen».
Doch zu dieser offiziellen Politik gehört auch, dass die Partei dafür die alleinige Zuständigkeit beansprucht und eigensinnigen emanzipatorischen Bestrebungen der Betroffenen mit Misstrauen begegnet. Das zunehmende und selbstermächtigende Engagement von Frauen gegen sexuelle Belästigung und Gewalt ist ja nicht nur ein Indikator für den Fortbestand unerträglicher patriarchalischer Herrschaftspraktiken. Sie zeugt auch vom wachsendem Selbstbewusstsein der Chinesinnen, die begreifen, dass es nachhaltige Fortschritte in Sachen Emanzipation ohne soziale Bewegung dafür nicht geben kann.
Kai Strittmatter erinnerte in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung daran, dass seit über 100 Jahren keine chinesische Regierung mehr mit Frauenaktivistinnen so umgegangen ist wie die heutige mit den fünf Frauen. Es war 1913, als die berühmte Suffragette Tang Qunying und einige ihrer Mitstreiterinnen aufgrund «öffentlicher Reden» und «Aufwiegelung anderer Frauen» festgenommen wurden. Seitdem ist viel passiert, und es sieht nicht so aus, als ob Chinas Frauen bereit wären, ihren «Anteil am Himmel» abzutreten. Die internationale Aufmerksamkeit für ihren Kampf ist groß. Ein in Hongkong auf den Weg gebrachter Aufruf für die Freilassung von Wu, Zheng, Wang, Wei und Li wurde in der Zwischenzeit von über 100.000 Personen aus hundert Ländern unterschrieben.

Verbrechen: Solidarität

Damit ist noch nicht die ganze Geschichte erzählt. Zum Selbstverständnis der von staatlicher Repression betroffenen Frauen gehört nämlich auch eine gelebte Solidarität mit den Akteurinnen von Arbeitskämpfen – eine Praxis, die zumindest in den deutschsprachigen bürgerlichen Medien völlig unerwähnt bleibt. Dem Begründungsteil einer Petition von Angehörigen der Sun-Yatsen-Universität in Guangzhou für die Freilassung der Fünf ist zu entnehmen, dass Frauenrechtsaktivistinnen wie Zheng Churan immer schon großes Interesse auch an den Rechten der Arbeiterinnen zeigten. Und sie zeigten ihre Solidarität vor Ort. Die unter dem Namen «Da Tu» bekannte Aktivistin war z.B. Autorin eines Artikels über den Streik der Beschäftigten im Sanitärbereich der Universität, der die Rolle der Frauen in diesem Streik hervorhob.
Auch unterstützte «Da Tu» den Streik der Arbeiterinnen der Haushaltswarenfabrik Diweixin, der von der Polizei aufgelöst wurde und zur Verhaftung von 200 Streikenden führte. Kolleginnen von Diweixin bewiesen im Gegenzug, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Sie setzen sich für die Freilassung der fünf am Frauentag Verhafteten ein. Vielleicht lässt sich ja die unerwartet drastische Reaktion der Staatsmacht gerade aus dem grundsätzlichen Bedrohungspotenzial dieser soziale Grenzen überwindenden Kooperationen erklären.

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