von Jürgen Schutte
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel bereitet gerade im großen Stil die Privatisierung unserer Daseinsvorsorge vor. Lebensversicherer und private Rentenversicherungen sollen sich in Ausbau und Betrieb unserer Infrastrukturen einkaufen können.
Die Vorgaben
– Investitionsstau – auch Sanierungsstau, Investitionslücke oder Investitionsbedarf – nennt man die Folgen der Vernachlässigung von Reparaturen, Erneuerungen, Modernisierungen und Erweiterungen an den Einrichtungen vornehmlich der Daseinsvorsorge wie Wasser- und Energieversorgung, Abwasser, Krankenhäusern, Schulen, Verwaltungsgebäuden, Schienen, Straßen und Brücken. Infrastruktur ist der zusammenfassende Begriff dafür. Die Kosten für eine Instandsetzung dieser Einrichtungen der Daseinsvorsorge werden in einem Vorbericht zum Gabriel-Projekt mit 118 Mrd. Euro beziffert.
– Die Schuldenbremse ist eine im Grundgesetz verankerte Begrenzung der Kredite, die Bund, Länder und Gemeinden nach dem Vertrag von Maastricht 1992 jährlich aufnehmen dürfen. Der von Deutschland unterzeichnete Europäische Fiskalpakt ist seit 2013 in Kraft und verlangt, dass die gesamte Neuverschuldung eines Staates – einschließlich der Kommunen – nicht mehr als 0,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt. Die Gesamtverschuldung darf 60% des BIP nicht überschreiten. Bei Verstößen können Strafzahlungen in Höhe von 0,1% des BIP erfolgen.
Die im Jahr 2011 eingeführte Schuldenbremse steht für eine Sparpolitik, die die Einhaltung der Maastricht-Kriterien zum höchsten Ziel erklärt. Diese als alternativlos dargestellte Politik steht den Investitionen entgegen, die zur Beseitigung des Investitionsstaus notwendig wären.
Die vorgegebene Alternativlosigkeit wirkt weit weniger zwingend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Vertrag von Maastricht durch die aktive und richtungweisende Politik der Bundesrepublik auf europäischer Ebene zustande kam. Unsere Regierung hat die «Zwangslage» selbst herbeigeführt, über die sie sich jetzt beklagt. Es darf gefragt werden, in welcher Absicht das Maastricht-Abkommen geschaffen wurde. Die politische Alternative zur Schuldenbremse bestünde in einer Erhöhung der Steuereinnahmen, für die es bei den Einkommen und Vermögen der reichen und superreichen Mitbürger genügend Spielraum gibt. Allein die «Reformen» seit der rot-grünen Koalition (bis 2009) haben zu Mindereinnahmen von rund 50 Mrd. Euro pro Jahr geführt. Damit diese Alternative in Sicht bleibt, schlagen wir vor, den moralisierenden Begriff der Verschuldungskrise durch den Ausdruck Finanzkrise oder Unterfinanzierungskrise zu ersetzen.
– Als Anlage-Notstand, auch Renditehunger, wird der Umstand bezeichnet, dass die privaten Renten- und Lebensversicherungen und andere «institutionelle Investoren» auf billionenschweren Rücklagen sitzen und angesichts des gegenwärtig extrem niedrigen Zinsniveaus die Gewinne nicht einbringen können, die sie ihren Anlegern garantiert haben (und welche diese auch erwarten); die Finanzunternehmen stehen infolgedessen unter dem Druck, diese Gewinne zu erwirtschaften.
Die Expertenkommission
Angesichts dieser Umstände hat Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) im Verbund mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) ein ehrgeiziges Projekt aufgelegt, das in scheinbar kühner Weise die eben geschilderten Probleme miteinander verkoppelt und eine für alle Teile zufriedenstellende Lösung in Aussicht stellt.
Durch die Einbindung von privatem Kapital in der Form Öffentlich-Privater Projekte (ÖPP) von verändertem und größerem Zuschnitt soll der Investitionsstau aufgelöst werden. Die in den letzten Wochen dazu ans Licht gekommenen Pläne sind gigantisch. Sie werden mit großem rhetorischen Aufwand erläutert. Die Frage nach den Folgen bleibt allerdings weitgehend ausgeklammert. Es wurde schon die Vermutung geäußert, ob sich der Minister nicht übernommen hat.
Der Gedanke an ein mögliches Scheitern ist ihm wohl gekommen, denn er hat sich auf landesübliche Weise abgesichert. Neben den Ministerkollegen steht ihm seit August 2014 eine hoch besetzte Kommission zur Seite, von der «Ideen und Impulse» erwartet werden. Minister Gabriel will Auskunft darüber, «wie wir zu mehr privaten und öffentlichen Investitionen kommen ... Wir brauchen zur Zukunftssicherung eine wirksame Investitionsstrategie.»
Mitglieder der Kommission sind unter anderem: Stephan Articus (Deutscher Städtetag), Jürgen Fitschen (Deutsche Bank), Marcel Fratzscher (DIW, Vorsitz der Expertenkommission), Veronika Grimm (Universi?tät Erlangen-Nürnberg), Helga Jung (Allianz SE), Markus Kerber (BDI), Wolfgang Lemb (IG Metall), Thomas Mayer (Flossbach von Storch Research Institute), Torsten Oletzky (Ergo), Siegfried Russwurm (Siemens), Monika Schnitzer (Ludwig-Maximilians-Universität München), Eric Schweitzer (DIHK) sowie Michael Vassiliadis (IGBCE).
Die einseitig mit Privatisierungsbefürwortern besetzte Runde ist ohne parlamentarischen Auftrag, ihre Zusammensetzung ist nicht legitimiert. Man könnte sie auch einen Freundeskreis von Sigmar Gabriel nennen, der des ausgewogenen Eindrucks wegen um zwei Gewerkschafter erweitert wurde. Dieser illustre Kreis trat am 28.August 2014 zum erstenmal zusammen, er tagt unter Ausschluss der Öffentlichkeit und soll am 21.April ein Beratungsergebnis vorlegen. Es läuft auf eine weitergehende Privatisierung öffentlicher Aufgaben hinaus.
Ökonomische und politische Enteignung
Durch kritische Journalisten ist der Plan in Grundzügen schon jetzt bekannt geworden.
Die Kommission zur «Stärkung von Investitionen in Deutschland» will demnach die Einbindung privaten Kapitals in die Finanzierung öffentlicher Aufgaben – in welch angepasster Form auch immer – vorschlagen. Der Investitionsstau soll durch Erschließung neuer, bisher sozusagen brachliegender Finanzmittel aufgelöst werden. Durch diese Maßnahme wird der Renditehunger der Banken und Versicherungen gestillt; schließlich werden diverse Wahlversprechen eingelöst. Man versichert uns, die Schuldenbremse werde bei diesem Vorgehen keineswegs gelöst. Es bleibt bei der Politik der Sparprogramme. Nicht gerade ein «neuer Impuls», eher neuer Wein in alten Schläuchen.
Investition durch Private ist in diesem Spiel das Zauberwort. Sie besteht in der langfristigen Bindung finanzieller Mittel mit dem Ziel, das Vermögen durch Zins- und Spekulationsgewinne zu vermehren bzw. die Gewinne eines Unternehmens zu steigern. Um diesen Effekt optimal zu erzielen, soll die Öffentlich-Private Partnerschaft umgebaut und die Mängel dieses Verfahrens beseitigt werden.
Der geplante Übergang zu einem neuen System öffentlicher Aufgaben soll auf drei verschiedenen Ebenen ablaufen:
– ÖPP-Fonds fassen kommunale Bauprojekte über Gemeindegrenzen hinweg zusammen, um damit Projekte in nennenswertem Umfang zu erhalten. An diesen Fonds sollen sich Versicherungen und andere institutionelle Anleger beteiligen.
nEine private Verkehrsinfrastrukturgesellschaft soll die Autobahnen sanieren, bauen und betreiben. Bürgerfonds sollen dafür sorgen, dass sich auch Privatanleger und Kleinsparer direkt an Infrastrukturprojekten beteiligen können.
Diese Pläne werden von der Presse gelegentlich als «Systemwechsel» chrakterisiert. Tatsächlich ist die Privatisierung weiter Bereiche der Daseinsvorsorge das gemeinsame, systemverändernde Kennzeichen aller dieser Pläne:
– Verkehrsinfrastrukturgesellschaft: Sie bedeutet, dass Autobahnen und Bundesfernstraßen etwa in eine Aktiengesellschaft eingebracht werden. Deren Struktur und Entwicklung wird – auch wenn sie zu 100% im Besitz des Bundes bleibt – von politischer Kontrolle weitgehend unabhängig sein. Diese Veränderung, deren Folgen man an der Deutschen Bahn und den Nachfolgekonzernen der Bundespost studieren kann, verstecken die Befürworter unter dem scheinbar rationalen Argument, man wolle das Nutzerprinzip einführen. Das bedeutet, die Verkehrswege werden von denen finanziert, die sie nutzen, und nicht mehr aus Steuereinnahmen.
Der Name dieses neuen, so gerecht klingenden Prinzips ist «Maut für alle». Die Verkehrsinfrastruktur, die in Vergangenheit und Gegenwart mit den Steuern der Bürger errichtet wurde, wird ihnen noch einmal zur gebührenpflichtigen Benutzung angeboten; das ist selbst dann eine Enteignung, wenn dafür etwa bei der Kfz-Steuer oder der Kraftstoffsteuer ein Nachlass gewährt würde.
– Auch die ÖPP-Verfahren, für die nach Gabriels Plänen institutionelle Investoren gewonnen werden sollen, sind im Ergebnis Privatisierungen – mit vergleichbaren Folgen. ÖPP-Modelle laufen im Ergebnis auf eine Privatisierung hinaus, denn sie geben den Betrieb der Einrichtungen für die Dauer einer Generation in die Verfügung des privaten Unternehmens. Das Prinzip des Lebenszyklus, also der langfristigen Betreibung durch private, gewinnorientierte Interessen, halten alle Befürworter für alle ÖP-Modelle für eine Bedingung, ohne die nichts läuft.
Die schwererwiegenden Folgen einer Privatisierung der Daseinsvorsorge können an dieser Stelle nur pauschal erwähnt werden. Fakt ist: Die Privatisierung sozialer Institutionen und sozialer Netzwerke beschädigt die Demokratie. Versteht man darunter die Möglichkeit und die Macht der Bürgerinnen und Bürger, die Politik und ihre Institutionen wirkungsvoll zu kontrollieren, dann bedeuten die «Ausstiegsstrategie» – und die mit ihr verbundenen Privatisierungen – nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische Enteignung. Ein Beispiel: Das Recht, sich auf den Straßen im Rahmen der Gesetze aufzuhalten, zu versammeln und frei zu bewegen wird reduziert auf die Möglichkeit, symbolisch eine Eintrittskarte zu erwerben und ansonsten den Weisungen des privaten Eigentümers Folge zu leisten. Das Argument, dass eine solche Beschneidung bürgerlicher Rechte im 21.Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß sei, gilt nicht.
Jürgen Schutte ist em. Professor für Literaturwissenschaft der FU Berlin. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und Gründungsmitglied von «Gemeingut in BürgerInnenhand e.V.»
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