Gespräch mit Costas Lapavitsas
Die neugewählte Regierung SYRIZA ist angetreten, das Diktat der Sparpolitik (der «Memoranden») zu brechen. Dennoch musste der griechische Finanzminister bei den Verhandlungen mit der Eurogruppe im vergangenen Februar dicke Kröten schlucken: für die eingeleiteten humanitären Maßanhmen dürfen keine neuen Kredite aufgenommen werden; Griechenland verpflichtet sich, die Schulden komplett zurückzuzahlen; die Privatisierungspläne werden nicht zurückgenommen. Costas Lapavitsas hält die Verhandlungsstrategie von SYRIZA deshalb für gescheitert.
Was sagst du zu den Verhandlungen, die Varoufakis derzeit mit der EU und dem IWF führt: Sind sie gescheitert, wie kritische marxistische Linke, aber auch die bürgerliche Wirtschaftspresse sagen? Oder werden sie besonders clever geführt, sodass die deutsche Regierung in die Defensive gedrängt und eine Atempause gewonnen wurde?
Die Regierung ist mit der Erwartung in die Verhandlungen gegangen, dass sie die Aufhebung des Spardiktats und die Abschreibung eines großen Teils der Schulden erreichen und gleichzeitig im Rahmen der Währungsunion bleiben kann. Das habe ich den «Guter-Euro»-Ansatz genannt: die Vorstellung, man könne durch Verhandlungen das politische Kräfteverhältnis in Griechenland und in Europa und damit auch die Währungsunion verändern.
Aber die Regierung wurde mit der Nase auf die Realität gestoßen, und die heißt: Die Strategie hat nicht funktioniert. In Griechenland haben sich die politischen Gewichte zwar verschoben, und zwar dramatisch. Die Regierung stützt sich nicht nur auf 40% der Wählerstimmen, sondern auch auf 80% Zustimmung in der Bevölkerung. Aber in den Verhandlungen hat das kaum gezählt. Und warum? Weil die Rahmenbedingungen der Währungsunion nun einmal so sind, wie sie sind: Es ist eine sehr starre Anordnung von Regeln mit einer ihnen innewohnenden Ideologie und einer bestimmten Art, an die Dinge heranzugehen.
Die andere Seite gibt nicht nach, nur weil es in einem kleinen Land eine linke Regierung gibt. Die Griechen sind in die Falle getappt, weil sie einen Liquiditätsmangel und finanziellen Engpass haben. So konnten die EU-Institutionen ihren strukturellen Vorteil gegenüber den Griechen ausspielen.
SYRIZA konnte damit nicht umgehen, weil sie den Rahmen des Euro akzeptiert hat. Die griechische Regierung hat zwar alles getan, was sie konnte, aber die Gegenseite, insbesondere die Deutschen, haben gemauert. Und gegen Ende der Verhandlungen war es eine Frage von Tagen, dass man die Banken hätte schließen müssen. In dieser Situation mussten die Griechen einem schlechten Kompromiss zustimmen.
Als Marxisten müssen wir von der politischen Ökonomie der Situation ausgehen, nicht vom politischen Kräftegleichgewicht. Unglücklicherweise verfahren die griechische Linke und ein Großteil der europäischen Linken genau andersherum. Es ist leicht vom Gedanken auszugehen, letztlich sei alles politisch, deshalb müsse nur das politische Kräfteverhältnis geändert werden, dann sei alles erreichbar.
Das ist aber nicht der Fall, es ist auch nicht Marxismus. Als Marxisten sind wir überzeugt, dass Politik sich letztlich aus der materiellen Realität der Wirtschafts- und Klassenbeziehungen ableitet. Was in Europa machbar ist und was nicht, wird bestimmt von der politischen Ökonomie der Währungsunion. Wenn SYRIZA politisch andere Dinge durchsetzen will, muss die Regierung das institutionelle Gerüst verändern. Dazu muss sie den Bruch anstreben. Man kann das Eurosystem nicht reformieren, geanusowenig wie die Währungsunion.
Heißt das, man kann nichts tun, es sei denn, man stürzt den Kapitalismus, wie manche Ultralinke sagen? Das wäre absurd. Natürlich wollen wir den Sturz des Kapitalismus, und wir würden gern die sozialistische Revolution sehen. Aber die steht im Moment nicht zur Debatte. Um das Spardiktat in Griechenland zu beenden, braucht man nicht den Kapitalismus zu stürzen. Aber man muss sich vom institutionellen Gerüst des Euro befreien.
Die Verhandlungen haben Griechenland eine Atempause von vier Monaten gegeben. Was erwartest du für diese Phase?
Das wir für die Regierung und für SYRIZA eine sehr, sehr harte Zeit werden. Die Gläubiger und die EU haben SYRIZA fest in der Klemme. Die Regierung steht unter dem Dauerdruck, ihre Haushaltsziele zu erreichen und die finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen. Das sagt der Kompromiss, und es wird ein dauernder Kampf werden, eine akute Krise zu vermeiden. Dabei sind die vier Monate nur ein Übergang. Im Juni soll ein neues, langfristiges Abkommen über die Finanzierung der Schulden ausgehandelt werden, und SYRIZA hat den Griechen versprochen, dass die Schuldenlast gemindert wird.
Vor diesem Hintergrund hat die Regierung meines Erachtens nur die Möglichkeit, zwei Dinge zu tun, wenn sie überleben und tun will, wofür sie gewählt wurde:
– Das erste ist, dass sie ihr Programm umsetzt so weit es geht. Es ist absolut vorrangig, dass das Parlament entsprechende Gesetze beschließt, um den einfachen Leuten zu zeigen, dass SYRIZA auch meint, was sie vor der Wahl sagte, und dass sie das auch durchsetzen kann.
– Das zweite ist, dass sie die Lektion aus dem schmutzigen Deal mit der Eurogruppe vom Februar lernt und sich auf die Verhandlungen im Juni anders vorbereitet.
Gesetze zur Linderung der humanitären Krise sind vordringlich und sind auch schon auf den Weg gebracht. Ebenfalls sehr wichtig sind Gesetze über den Umgang mit den öffentlichen Schulden und mit Steuerfragen; Gesetze über das Verbot von Zwangsräumungen, um Bankenschulden einzutreiben, usw. Die Anhebung des Mindestlohns hingegen kann vier Monate warten, obwohl auch das ein Wahlversprechen ist, das erfüllt werden muss; es wäre aber nicht das Ende der Welt. Bei diesen Maßnahmen dürfen wir gegenüber der EU nicht einknicken, sonst sind wir erledigt.
Für die kommenden Verhandlungen aber braucht die Regierung eine andere Strategie und eine klare Vorstellung davon, was sie erreichen kann und was nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Verhandlungen im Februar anders ausgegangen wären, wenn die Regierung Handlungsalternativen vorbereitet hätte. Verhandlungen laufen ganz anders, wenn die Gegenseite mitbekommt, dass man Alternativen hat und entschlossen ist, diese nötigenfalls zu ergreifen.
Welche hätten das sein sollen?
Wenn Griechenland gezwungen wird sich zu entscheiden – und das wird in vier Monaten wieder der Fall sein –, sehe ich als politischer Ökonom nur eine Lösung: den Ausstieg aus dem Euro. Optimal wäre ein verhandelter Ausstieg, kein umkämpfter Ausstieg. Griechenland könnte eine vernünftige Chance haben, wenn es in die Verhandlungen ginge mit der Option, für ein Ausstiegsabkommen zu kämpfen; das könnte sogar zeitlich begrenzt sein, wenn dies der griechische Bevölkerung leichter zu vermitteln wäre.
Verhandelt heißt, im Gegenzug müsste es einen 50%igen Schuldenschnitt geben, diesen Preis müsste die Währungsunion akzeptieren. Entscheidend wäre, dass der Ausstieg geschützt ist, das bedeutet, die EZB muss dafür sorgen, dass die neue Währung nicht mehr als 20% abwertet und die Banken überleben.
Beides kostet die Währungsunion fast nichts. Sie würde nicht gebeten, frisches Geld bereit zu stellen oder Kosten dafür zu übernehmen. Die einzigen Kosten wären der Schuldenschnitt. Darauf könnte die Währungsunion sich aber einlassen, denn damit würde das griechische Problem beendet. Einige sagen, Schäuble habe den Griechen einen solchen verhandelten Ausstieg schon 2011 angeboten, die deutsche Regierung könnte dafür also empfänglich sein.
Aber selbst ein umkämpfter Ausstieg wäre besser als das jetzige Programm.
Nehmen wir an, es gibt keine Verhandlungslösung…
Bei einem umkämpften Ausstieg müsste Griechenland sofort die Zahlung seiner Schulden einstellen. Dann gäbe es Verhandlungen über eine Umschuldung (denn die Schulden verschwinden ja nicht, nur weil sie nicht bedient werden). Wenn es nicht mehr den Zwängen der Währungsunion unterliegt, wird Griechenland feststellen, dass die Umschuldung viel leichter wird. Der IWF z.B. weiß, dass umgeschuldet werden muss. Es ist die EU und die Währungsunion, die das bislang verhindern. Umschuldung heißt: die Bedienung der Schulden kann warten, andere Probleme sind vordringlicher.
Dann müssen Sofortmaßnahmen ergriffen werden: Aus der Zypernkrise wissen wir z.B., dass umgehend Kapitalverkehrskontrollen eingeführt werden müssten (die hatte die EU damals selbst gefordert), aber auch eine Kontrolle der Banken.
Des weiteren geht es darum, zu welchem Kurs die alte gegen die neue Währung getauscht wird. Das hängt u.a. davon ab, unter welchem Recht Verträge geschlossen wurden. Ist es ausländisches Recht, wird es problematisch. Solche Verträge müssen auf Sonderkonten geparkt werden, ihre Umwandlung erfordert Zeit. Verträge unter griechischem Recht können sofort umgeschrieben werden. Das betrifft etwa Bankeinlagen, Schulden und andere Verpflichtungen.
Die Währungsumstellung würde den Banken ein Problem bereiten, deshalb müssten sie umgehend verstaatlicht werden. Das wäre aber auch ein wichtiger Fortschritt für die griechische Wirtschaft überhaupt, denn das Bankensystem, nicht nur das griechische, hat versagt, es muss komplett reorganisiert werden.
Ist das ein Prozess von oben nach unten, oder gäbe es da auch eine Kontrolle durch die Bevölkerung?
Unbedingt! Die Gewerkschaften der Bankangestellten z.B. sind sehr aktiv und wollen einen Beitrag bei der Reorganisierung und Leitung der neuen Banken leisten. Aber es müssen auch Entscheidungen von oben gefällt werden: Das Bankenmanagement muss sofort ausgetauscht werden, es muss ein öffentlicher Bevollmächtigter für die Umstrukturierung des Bankenwesens ernannt werden usw., bis wir wieder gesunde Banken haben.
Schwieriger ist der Umgang mit bestimmten Märkten und mit den Folgen des Ausstiegs aus diesen Märkten. Wir haben in Griechenland drei Schlüsselmärkte: den für Energie (vornehmlich Öl), den für Nahrungsmittel und den für Medizin. Hier ist die Lage heute viel besser als 2010, weil das Land heute viel besser in der Lage ist als früher, seine Importe abzusichern. Dennoch braucht es aktive Maßnahmen, die sicherstellen, dass Bedürfnisse wie die nach Medizin, Nahrung usw. Vorrang haben. Was Medikamente betrifft: Griechenland exportiert Medikamente, wir haben bedeutende Kapazitäten zur Herstellung von Medikamenten. Wir haben auch große Kapazitäten zur Produktion von Elektrizität. Griechenland ist fast Selbstversorger mit Strom.
Es wird keine angenehme Zeit werden und es wird ein paar Monate dauern. Aber mit etwas Planung können die Kosten minimiert werden. Planung heißt: Einige Dinge müssen rationiert werden.
Wie soll das aussehen? Stützt du dich dabei auf die griechische Bürokratie?
Leider müssen wir das. Aber wir haben keine andere Wahl. Und wir haben vier Monate Zeit. In diesen vier Monaten können wir uns gründlich vorbereiten. Tatsächlich wird in Griechenland ja schon rationiert, nur läuft diese Rationierung über den Geldbeutel, d.h. große Teile der Bevölkerung haben nicht genug zu essen, sind auf Almosen oder sog. soziale Lebensmittelläden angewiesen. Oder sie lassen ihr Auto stehen, weil sie das Benzin nicht bezahlen können. Mängel gibt es etwa im Transportwesen, da wird es eine Rationierung geben müssen.
Wir müssten allerdings Formen der Kontrolle durch die Bevölkerung einführen, um Klientelismus und Korruption zu verhindern. Eine der Folgen der Sparpolitik der letzten Jahre war die Atomisierung der Gesellschaft, die Durchsetzung des Grundsatzes: Jeder für sich und für den Teufel der Rest. Ein Ausstieg aus der Währungsunion, wie ich ihn skizziert habe, führt zum entgegengesetzten Ergebnis: Er schafft ein Gefühl von Zusammenhalt, sozialer Solidarität und neuen Mut, wenn man sieht, die Gesellschaft wird mit den Schwierigkeiten fertig. Das setzt natürlich voraus, dass der Ausstieg von einer linken Regierung angeführt wird, die sich den Interessen der arbeitenden Bevölkerung und der Armen verpflichtet fühlt. Dann wird eine gesellschaftliche Umwälzung der Art möglich, wie wir sie anstreben.
Der Ausstieg aus dem Euro ist ja nicht an sich ein Ziel der Linken. Er ist ein notwendiger, aber kein hinreichender Schritt zur gesellschaftlichen Transformation.
Was ist für dich entscheidend, damit der Ausstieg aus dem Euro einen Fortschritt und keinen Rückschritt bedeutet, eventuell sogar mit reaktionären Konsequenzen?
Entscheidend dafür ist aus meiner Sicht die Entschlossenheit der Regierung, bei jedem dieser Schritte die Bevölkerung einzubeziehen. Sie muss informiert werden, sie muss Wahlmöglichkeiten bekommen, sie muss um ihre Zustimmung gefragt werden. Und die Regierung sollte sie um aktive Unterstützung bitten. Darin allein liegt die Stärke einer linken Regierung, nicht in ihrem technischen Fachwissen, obwohl sie solches auch hat.
Hingegen ist ein breit angelegtes Verstaatlichungsprogramm nicht vorrangig. Die Banken, ja; auch die Privatisierung der Energiewirtschaft muss gestoppt werden, insbesondere der Stromversorgung. Auch andere Schlüsselsektoren gehören in öffentliche Hand. Vorrangig ist aber eine Perspektive für Wachstum und Wiederaufbau hier und jetzt, außerhalb des Euro. Dann kann ein mittelfristiger Entwicklungsplan folgen.
Verstaatlichungen sind kein Selbstzweck. Wir sollten auch besser über öffentliche Kontrolle sprechen, und die kann viele verschiedene Formen annehmen.
Was passiert mit dem Außenhandel, wenn die Drachme wieder eingeführt wird?
Die Struktur des griechischen Außenhandels (Importe und Exporte) der letzten Jahre, vor allem der zunehmende Anteil des Handels am griechischen Inlandsprodukt, ist ein Gradmesser für das Scheitern des griechischen Kapitalismus.
Das Ausmaß des Dienstleistungssektors muss definitiv zurückgefahren werden, das ist sicher. Dieser Sektor hat eine übermäßige Bedeutung bekommen, während der Primärsektor und die verarbeitende Industrie geschrumpft sind. Im wesentlichen wurde Griechenland deindustrialisiert, und das seit dreißig Jahren. Damit ist aber auch Griechenlands internationale Wettbewerbsfähigkeit zurückgegangen, weil die Produktivität im Dienstleistungssektor nicht gerade hoch ist. Großbritannien kann ein Lied davon singen!
Mittelfristig muss dieses Ungleichgewicht wieder ausgeglichen werden.
Eine neue Währung würde erst einmal eine Abwertung erfahren. Angesichts der unausgeglichenen Leistungsbilanz braucht es Geld, um die Importe zu bezahlen. Wo soll das herkommen?
Wenn der Ausstieg verhandelt und geschützt ist, könnten 15–20% Abwertung reichen – angesichts der Tatsache, dass die innere Abwertung, also die Zerstörung des Lohnniveaus, bereits stattgefunden hat. Das Lohnniveau muss natürlich wieder aufgerichtet werden, aber es wird nicht möglich sein, einfach zum früheren Ausgangspunkt zurückzukehren. Dazu bräuchte es eine Wachstumsstrategie.
Wenn der Ausstieg umkämpft ist und die neue Währung, sagen wir, die Hälfte an Wert verliert, gibt es natürlich ein Problem bei den Importen. Eine Abwertung wirkt aber nicht nur auf den Außenhandel, sie wirkt auch auf den Binnenmarkt. Derzeit gibt es gewaltige ungenutzte Ressourcen in Griechenland. In dieser Beziehung gibt es keinen Kapitalmangel. Kapital ist viel mehr als Geld auf der Bank, es ist ein gesellschaftliches Verhältnis, wie Marxisten wissen. Bei einer Abwertung würden kleine und mittlere Unternehmen sofort wie Pilze aus dem Boden schießen, dafür gibt es genug Kleinkapital. Angebot und Nachfrage würden sehr schnell zurückkommen, und zwar hauptsächlich auf diesem Weg.
Hier würde auch die Kapitalbildung stattfinden, die für eine mittelfristige Wiederaufbaustrategie notwendig ist. Die Frage, wo das Geld herkommt, muss dynamisch, nicht statisch betrachtet werden. Es gibt genug Kapital im Land, aber es liegt brach. Es muss mobilisiert werden, und dafür sorgt die Abwertung.
Das wäre vergleichbar mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) der Bolschewiki Anfang der 20er Jahre. Griechenland ist derzeit so ruiniert, dass es eine NÖP braucht.
Kannst du dir eine Rückkehr in das Europäische Währungssystem vorstellen?
Unter den bisherigen Bedingungen nicht, aber die sind sowieso nicht haltbar. Die europäische Linke ist gefordert, Vorschläge zu unterbreiten, wodurch dieses absurde System ersetzt werden kann. Wir bräuchten ein System kontrollierter Wechselkurse, keine Märchen über einen guten Euro, den es nicht geben kann.
Der Umtausch der alten in die neue Währung kann zu unterschiedlichen Kursen erfolgen, das hätte auch einen Umverteilungseffekt. Für Menschen mit wenig Geld auf der Bank könnte ein Umtauschkurs von 1:2 gelten, für Menschen, die über größere Beträge verfügen, könnte er 0,8:1 sein, je nachdem.
Wir stehen heute nicht mehr vor demselben Problem wie 2010, als die Einlagen auf griechischen Banken noch hoch waren. In der Zwischenzeit wurde den Reichen erlaubt, ihr Geld ins Ausland zu transferieren. Das Problem der Umverteilung stellt sich heute anders.
Was hältst du von dem Vorschlag, eine Parallelwährung einzuführen, die zur Staatsfinanzierung genutzt wird und durch künftige Steuereinnahmen gedeckt wäre?
Ein solcher Schritt würde sofort das Problem schaffen, zu welchem Kurs die Parallelwährung gegen den Euro getauscht wird, denn natürlich wäre der Euro stärker. Damit würde aber der gesamte Geldkreislauf durcheinandergebracht. Das kann bestenfalls ein kurzfristiger Schritt auf dem Weg aus dem Euro sein.
Wie siehst du die Rolle der Linken außerhalb von Griechenland?
Zunächst einmal: SYRIZA braucht Kritik. Unkritische Unterstützung ist eines der schlimmsten Erbstücke der Vergangenheit. «Alles für unser Team! Keine Kritik!», daraus kommt wirklich nichts Gutes. Natürlich unterstützen wir. Aber wir kritisieren auch. Sonst geht es nicht voran.
Die wichtigste Unterstützung, die die europäische Linke geben kann, ist, neben der Mobilisierung, eine gründliche Infragestellung der Europäischen Wäh?rungsunion. Die Linke in Europa sieht in der EU und in der Wäh?rungsunion vielfach einen Ausdruck von Internationalismus. Aber das ist sie nicht! Die Linke muss beginnen, Vorstellungen von einem wirklichen Internationalismus in Europa zu entwickeln, der die Formen der kapitalistischen Integration zurückweist. Nicht verbessert, sondern zurückweist. Das ist die wirkliche, radikale Herausforderung, vor der die Linke steht.
Die Krise zeigt auch, dass Geld viel mehr ist als nur eine ökonomische Größe. Es hat zahlreiche soziale Dimensionen, es hat vor allem eine identitäre Dimension. Mit Geld verbinden viele Menschen Vertrauen, Gewohnheiten, Perspektiven, Ideologie, Identität. Für die Länder an der Peripherie der EU ist der Euro in unglaublicher Weise zu einem Teil ihrer Identität geworden. Die Frage «Raus aus dem Euro oder nicht?» schürt unter Griechen Ängste, die nicht nur mit den ökonomischen Konsequenzen zu tun haben, seien diese auch noch so gravierend. Für die Griechen bedeutete der Beitritt zum Euro, dass sie dieselbe Währung gebrauchen konnten wie der Rest von Westeuropa, es war ein großer Sprung in ihrem Selbstbewusstsein. Er erlaubte ihnen, sich als «wirkliche Europäer» fühlen zu können. Für ein kleines Land am Südostrand des Balkans mit einer sehr turbulenten Geschichte war das etwas sehr, sehr Wichtiges.
Und je tiefer die Krise wird, je absurder ein Verbleib in der Währungsunion wird, desto größer ist die Anhänglichkeit an ihn in bestimmten Kreisen der Bevölkerung. Die Menschen wollen Teil Europas bleiben, nicht Teil des Nahen oder Mittleren Ostens werden. Das darf man nicht unterschätzen. Dasselbe Problem taucht auch in anderen Ländern Westeuropas auf, wenn auch in anderer Weise.
Deshalb braucht die Linke in Europa dringend eine andere Vorstellung von dem, was Europa sein kann – eine, die mit den gescheiterten Konzepten des Europa des Finanzkapitals bricht, vor allem mit dem Mythos der Währungsunion. SYRIZA muss jetzt den Kampf gegen die EU-Institutionen aufnehmen, das sollte sie sofort und offen tun; es ist der wichtigste politische Kampf, den die Partei und die Regierung bis Juni zu führen haben. Damit sichert sie sich auch die Unterstützung der Bevölkerung. Die Leute wollen Maßnahmen sehen, die ihnen das Leben erleichtern. Und sie wollen die Troika loswerden…
Costas Lapavitsas ist Wirtschaftsprofessor an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) mit Schwerpunkt auf dem westlichen Finanzsystem und der griechischen und europäischen Schuldenkrise. Er wird gern als Anti-Varoufakis bezeichnet, weil er seit längerem für einen klaren Bruch mit der Politik des «guten Euro» eintritt, die die Regierung SYRIZA verfolgt. Er ist ein sozialistischer Aktivist, wurde auf der Liste von SYRIZA ins griechische Parlament gewählt, ist aber kein Parteimitglied. Mit ihm sprach der Mitherausgeber der britischen marxistischen Zeitschrift Historical Materialism, Sebastian Budgen. Das hier gekürzte Interview erschien in der März-Ausgabe des US-Magazins Jacobin (www.jacobinmag.com). Übersetzung: Manfred Klingele
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