Dokumentiert
Der «Fall Emmely» hat in Deutschland Geschichte gemacht. Diese mutige Kassiererin, die sich gegen ihre willkürliche Entlassung gewehrt hat, hat nicht nur einen beispielhaften Arbeitskampf geführt, sie hat damit eine gesellschaftliche Diskussion über Bagatellkündigungen angestoßen und die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beeinflusst.* Am 23.März 2015 ist Barbara Emme, genannt Emmely, überraschend an Herzversagen gestorben, sie wurde 57 Jahre alt. Wir dokumentieren den Nachruf des Solidaritätskomitees.
Emmely hat 1977 begonnen, bei der DDR-Handelskette HO (Handelsorganisation) zu arbeiten, und war 38 Jahre im selben Arbeitsverhältnis im Einzelhandel tätig.
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde sie durch den Kampf gegen ihre Kündigung. Die Kaiser’s-Tengelmann AG hatte ihr im Februar 2008 kurz nach dem Streik im Einzelhandel gekündigt, Emmely hatte für ihre Gewerkschaft Ver.di die Streikliste in ihrer Filiale in Berlin-Hohenschönhausen geführt. Die Kaiser’s-Tengelmann AG kündigte Emmely wegen des Verdachts, sie habe Pfandbons für insgesamt 1,30 Euro, die ein Kunde im Laden verloren hatte, zu Unrecht eingelöst.
Ihre Gewerkschaft hatte ihr immer wieder geraten, eine Abfindung zu akzeptieren, aber Emmely ging trotz zwei verlorener Verfahren beim Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht in Berlin vor das Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Alle drei Gerichte gingen davon aus, dass die Emmely die Pfandbons zu Unrecht eingelöst hatte. Emmely hat diesen Vorwurf immer abgestritten. Doch das Bundesarbeitsgericht gab im Juni 2010 der Klage Emmelys gegen die Kündigung statt, indem es die Kündigung als unverhältnismäßig einstufte, und Emmely erhielt ihren Arbeitsplatz zurück.
Für Emmely bedeutete der Kampf gegen die Kündigung einerseits viel Unterstützung durch die Öffentlichkeit, neue Bekanntschaften in ganz Deutschland und viele neue Erfahrungen, aber auch eine hohe nervliche Belastung: Ständig wollte die Presse mit ihr sprechen, Juristen der Arbeitgeberseite bezeichneten sie als «notorische Lügnerin», sie musste in eine kleinere Wohnung ziehen und der Ausgang des Verfahrens war ungewiss. Ihre Berühmtheit war ein hohes Risiko: Wer will schon eine engagierte Gewerkschafterin einstellen, die ihre Renitenz sogar in der Show von Johannes B.Kerner bekräftigt?
Es war beeindruckend, mit welcher Energie und welchem Trotz, die auch aus Stolz auf die von ihr geleistete Arbeit rührten, sich Emmely gegen die Anschuldigungen gegen sie und dem Verlust ihres Arbeitsplatzes gewehrt hat. Noch am selben Tag, an dem sie ihren zweiten Prozess verloren hatte und unter Tränen zur Presse sprach, fuhr sie mit ihrem Anwalt, Benno Hopmann, nach Hamburg, um abends im Fernsehen aufzutreten. Niemand von den erfahrenen Aktivisten, die sie unterstützt haben, hätte dazu den Mut aufgebracht. Wir haben ihr sogar abgeraten, doch Emmely hatte keine Scheu davor. «Jetzt erst recht», dies war die Haltung, die sie ausgestrahlt hat.
Nach ihrem Erfolg vor dem Bundesarbeitsgericht erhielt Emmely erst einmal rückwirkend den ihr zustehenden Urlaub und Lohn für mehr als zwei Jahre und konnte so an der Weltfrauenkonferenz in Venezuela im Jahr 2010 teilnehmen. An ihrem alten neuen Arbeitsplatz erhielt sie weiterhin viel Zuspruch von Kunden und von Mitarbeiterinnen, oft erhielt sie kleine Geschenke oder wurde nach Autogrammen gefragt. Sie blieb weiterhin politisch engagiert, verbrachte regelmäßig ihren Bildungsurlaub mit Hilfe von Gewerkschaftsreisen in Frankreich und lernte dort viele Aktivisten kennen. Im Einzelhandelsstreik 2013 beteiligte sie sich an Aktionen, bei denen Berliner Beschäftigte Kolleginnen in Brandenburg mit der Blockade einer Supermarktfiliale unterstützten. 2014 wurde sie bei Kaiser’s in den Betriebsrat gewählt. Wenige Monate später verkündete Kaiser’s Tengelmann das Aus für die Lebensmittelkette, sie wird nun zwischen Edeka und Rewe aufgeteilt. Emmely klagte häufig über lange zehnstündige Schichten, die sie sehr erschöpft haben. Zuletzt hat sich Emmely in einem Bündnis von Gewerkschaftern gegen das Tarifeinheitsgesetz engagiert. Emmely hinterlässt drei Töchter. Wir werden sie nicht vergessen.
An Emmelys Fall wurden Bagatell- und Verdachtskündigungen breit diskutiert und kritisiert. In mehreren Städten der BRD fanden Veranstaltungen statt. Zahlreiche vergleichbare Fälle wurden in den Medien aufgegriffen. Emmelys Erfolg vor dem Bundesarbeitsgericht kam für alle erfahrenen Beobachter völlig überraschend. Unmittelbar danach gewannen mehrere gekündigte Arbeiter ihre Bagatellkündigungen vor Arbeitsgerichten, die zuvor immer zugunsten der Arbeitgeber geurteilt hatten.
Arbeitsrechtler beobachteten danach einen Rückgang von Bagatellkündigungen, aber auch eine Anpassung der Arbeitgeber: die Zunahme von Abmahnungen auf Vorrat und die Hortung von abgelaufenen Abmahnungen in Parallelakten, um Beschäftigte weiterhin prozessfest kündigen zu können.
* Siehe SoZ 7/2010 und 1/2012
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