von Lutz Getzschmann
Die Verhandlungen der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (Ver.di, GEW, GdP) mit der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) über die Erhöhung der Gehälter für die Beschäftigten der Bundesländer sind abgeschlossen. Für die angestellten Lehrerinnen und Lehrer geht der Kampf jedoch weiter, weil sich die TdL beharrlich weigert, ernsthafte Verhandlungen über eine einheitliche und angemessene Lehrkräfte-Entgeltordnung zu führen, die bundesweite Standards setzt und die willkürliche Entlohnungspraxis der einzelnen Landesregierungen beendet. Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, in denen der weit überwiegende Teil der Lehrerinnen und Lehrer im Angestelltenverhältnis beschäftigt ist, wird es deshalb in den nächsten Monaten zu weiteren Streikaktionen kommen.
Auch in Hessen ist der Arbeitskampf noch nicht beendet. Hier wird im gesamten öffentlichen Dienst, nicht nur bei den angestellten Lehrerinnen und Lehrern, munter weiter gestreikt und verhandelt. Warum? Weil Hessen als einziges Bundesland nicht zur Tarifgemeinschaft der Länder gehört. Seit seinem Austritt aus der TdL im Jahr 2003 verhandeln hier die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst nach Abschluss eines neuen Tarifvertrags der Länder mit der hessischen Landesregierung über eine Übernahme dieses Tarifvertrags in einen Tarifvertrag Hessen (TVH).
Hessischer Kahlschlag
Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier lehnt die Übernahme des bisher für die Beamten erzielten Tarifergebnisses nämlich kategorisch ab, insbesondere gilt das für die Lehrkräfte. Warum, das ist am besten mit einem kleinen zeitgeschichtlichen Exkurs zu erklären.
2003 brachte die CDU-Regierung unter Roland Koch die «Operation Sichere Zukunft» auf den Weg. Konkret bedeutete das unter anderem die Verlängerung der Arbeitszeit für Beamte auf 42 Stunden, eine Erhöhung der Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte um eine Stunde, den Austritt aus der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) und eine Erhöhung der Arbeitszeit für neu eingestellte Angestellte. Aus diesem radikalen Maßnahmenpaket folgten für den öffentlichen Dienst unmittelbar drei Nullrunden und die Kürzung der Sonderzahlungen für Beamte, die Kündigung der Tarifverträge über die Sonderzahlungen und, im Rahmen der hessischen Sparpolitik, eine Kürzung der sozialen Leistungen des Landes um ein Drittel. Noch im November 2003 fand in Wiesbaden eine Großdemonstration der Gewerkschaften, Kirchen, Sozialverbände und sozialen Initiativen gegen den sozialen Kahlschlag mit mehr als 45.000 Teilnehmenden statt. Diesem starken Signal zum Trotz waren die Gewerkschaften nicht in der Lage, der Kürzungsorgie wirksame Gegenmaßnahmen entgegenzusetzen.
Seitdem werden die sozialen Träger systematisch kaputtgespart und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst unter dem Leitmotiv der Haushaltskonsolidierung geschröpft. Legitimiert wird dies nicht zuletzt mit der im März 2011 qua Volksabstimmung eingeführten Schuldenbremse, die damals auch von SPD und Grünen unterstützt wurde – gegen teilweise heftigen Widerstand in den eigenen Reihen. Lediglich DIE LINKE und der DGB Hessen hatten sich dagegen ausgesprochen. Letztendlich stimmten nur 30% der Wahlberechtigten gegen die Schuldenbremse.
Neuen Sprengstoff bot der von CDU und Grünen ausgehandelte Koalitionsvertrag nach der Landtagswahl 2013. Vorgesehen waren darin eine 18monatige Nullrunde für Beamte vom 1.1.2015 bis zum 30.6.2016 sowie die Deckelung der Besoldungserhöhung ab dem 1.7.2016 auf 1% pro Jahr per Gesetz. Außerdem erteilten die schwarz-grünen Koalitionäre der von den Gewerkschaften seit Jahren geforderten Übertragung der 2008 für die tariflich Beschäftigten vereinbarten, einheitlichen 40-Stunden-Woche auf Beamte eine deutliche Absage.
Die Lage an den Schulen
Betrafen diese Beschlüsse den gesamten öffentlichen Dienst des Landes Hessen, so haben sie im Bereich Schule eine besondere Brisanz. Da Lehrerinnen und Lehrer aber traditionell eine schlechte Presse haben, ist der Rückhalt, den die GEW für ihre Forderungen in der Bevölkerung erwarten kann, relativ gering – anders als etwa bei Erzieherinnen, deren skandalöse Unterbezahlung bundesweit skandalisiert wird und deren Kampf um eine höhere Eingruppierung ein deutlich höheres Maß an Akzeptanz genießt, auch und gerade bei den Eltern. Hinzu kommt, dass ein Großteil der hessischen Lehrkräfte verbeamtet ist, wenn sie zum Arbeitskampf greifen, gilt das als besonders kriminell. Der steigende Anteil an tariflich beschäftigten Lehrer hingegen rekrutiert sich meist aus Kollegen mit befristeten Vertretungsverträgen, die in der Regel wenig streikfreudig sind, weil sie um die Verlängerung ihrer Beschäftigungsverhältnisse fürchten.
Der Leidensdruck unter den vermeintlich so gut bezahlten und um «die vielen Ferien» beneideten Lehrer ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, denn durch die Veränderungen der schulischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen kommen ständig neue Aufgaben auf die Lehrkräfte zu, ohne dass sie dafür entlastet werden. So hat der flächendeckende Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen die Unterrichtsverpflichtung bis weit in den Nachmittag hinein ausgedehnt, Unterrichtsvorbereitung und Korrekturen müssen zunehmend «zwischendurch» oder abends erledigt werden. Hinzu kommen die Erstellung von Förderplänen und die damit verbundenen Förderplangespräche, Fortbildungen außerhalb der Unterrichtszeit und eine Zunahme von Konferenzen und Koordinationsaufgaben.
Ein Übriges tut der Standardisierungs- und Testwahn, der in den letzten Jahren über die Schulen gekommen ist und auf die Lehrkräfte abgewälzt wird. Nicht zu vergessen die Folgen der permanenten Lehrplanänderungen und vor allem der Einführung der Bildungsstandards. Jetzt werden die Lehrkräfte auch noch damit beschäftigt, «kompetenzorientierte» Schulcurricula zu schreiben und Schulprogramme auf Kompetenzen hin umzuarbeiten.
Aber auch die sich verschärfenden sozialen Widersprüche und Verwerfungen, die gesamtgesellschaftliche Ursachen haben, fordern ihren Tribut von den Lehrkräften. In vielen Bereichen wird Unterricht zunehmend als Belastung wahrgenommen. So lässt sich etwa eine deutliche Zunahme des Integrationsaufwands für auffällige oder lernschwache Schüler ohne soziale oder pädagogische Unterstützungssysteme feststellen, einschließlich des damit einhergehenden steigenden Aufwands bei der Klassenführung durch vermehrte Schüler- und Elterngespräche. Die inklusive Bildung, die im hessischen Schulgesetz verankert wurde, bedeutet in der Praxis, dass das Gros der Förderschüler weitgehend kostenneutral in die Regelschule verschoben wird. Damit ist für viele Lehrkräfte aber die Grenze des Zumutbaren erreicht, weil die Ressourcen, die hierfür benötigt werden, absolut nicht ausreichen. Folgerichtig erreichen gerade einmal 5% der Lehrkräfte in ihrem Beruf das reguläre Pensionsalter, alle anderen werfen aus gesundheitlichen Gründen früher das Handtuch.
Dringend erforderlich ist eine rasche Entlastung der Lehrkräfte durch die Reduzierung der Pflichtstundenzahl und eine Erhöhung der Planstellen, damit kleinere Klassen möglich werden, und eine angemessene Besoldungserhöhung. Doch weder das eine noch das andere ist ohne größere Auseinandersetzung zu erwarten. Gerade die vermeintlich so üppige Besoldung der verbeamteten Lehrkräfte in Hessen hinkt wegen der diversen Nullrunden der letzten Jahre inzwischen der gesamtgesellschaftlichen Lohnentwicklung deutlich hinterher. Rechnet man die Besoldungsentwicklung für eine durchschnittliche A13-Planstelle seit 2001 zusammen und die von der schwarz-grünen Landesregierung beschlossene Nullrunde und die Deckelung der Bezüge bis zum Ende der Legislaturperiode 2018 hinzu, ergibt sich für diese 17 Jahre ein Lohnverlust von etwa 16% gegenüber der durchschnittlichen Lohnentwicklung der gesamten Wirtschaft – gar von 23% gegenüber dem Investitionsgütergewerbe, das die höchsten Lohnzuwächse hat.
Beamtenstreik
Was immer bei den laufenden hessischen Tarifverhandlungen herauskommt – die hessische Landesregierung wird das Ergebnis wohl kaum auf ihre Beamten übertragen wollen – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit wäre, NRW und Hamburg haben dies auch schon angekündigt. Das setzt unmittelbar die Frage des Beamtenstreiks auf die Tagesordnung, und aller Voraussicht nach wird die GEW noch im Frühsommer zu diesem Mittel greifen.
Dazu heißt es normalerweise sofort, Beamte dürften gar nicht streiken. Das allerdings ist nur die halbe Wahrheit. Seit den 70er Jahren verleihen auch verbeamtete Lehrkräfte ihren tariflichen Forderungen mittels kurzer Streiks Nachdruck. Nach langem Gezerre, teilweise grotesk überzogenen Disziplinarmaßen gegen Streikende und hin- und herwogenden Verwaltungsgerichtsurteilen hat endlich 2014 auch das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig anerkannt, dass das Streikrecht ein allgemeines Menschenrecht und völkerrechtlich garantiert ist. Unter Berufung auf Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention steht allen Beamten, die nicht hoheitlich tätig sind – also auch Lehrkräften – das Recht auf Koalitionsverhandlungen und damit auch das Streikrecht zu. Nur noch für eine Übergangszeit bis zu einer entsprechenden bundesgesetzlichen Regelung könne das bisherige allgemeine Streikverbot gelten.
Bildungsproletariat
Nun mag man einwenden, dass ein Beamtenstreik, ganz unabhängig von der Rechtslage, eine stur-reaktionäre Landesregierung wohl kaum zu beeindrucken vermag. Das mag so sein. Dennoch gibt es gerade in jüngster Zeit ein paar Beispiele, die zeigen, dass streikende verbeamtete Lehrkräfte durchaus etwas bewirken können. In Rheinland-Pfalz etwa haben sie gegen die geplante Deckelung der Erhöhung der Besoldung bei 1% gestreikt. Die rot-grüne Landesregierung kündigte daraufhin an, das Gesetz zurückzuziehen, und verhandelt zur Zeit mit den Gewerkschaften. In Nordrhein-Westfalen haben sich Beamte am Streik der Tarifbeschäftigten beteiligt. Die Landesregierung musste das im Landtag beschlossene Besoldungsgesetz mit Nullrunden für höhere Besoldungsgruppen zurückziehen und verhandelte mit den Gewerkschaften. Ob ein Streik der verbeamtete Lehrkräfte in Hessen ähnliche Wirkung entfalten kann, bleibt abzuwarten.
Eines allerdings ist gewiss: Die Beschäftigungsstruktur der Lehrkräfte wird sich auch in Hessen in den nächsten Jahren dramatisch verändern. Denn von der Kompetenzorientierung, die aus Lehrkräften zunehmend dequalifizierte Lernmoderatoren zu machen droht – bis hin zur «Selbständigen Schule», die tendenziell dazu führt, dass Bildungsinstitutionen wie Unternehmen gemanagt werden – läuft alles darauf hinaus, Prekarisierung, Outsourcing und Teilprivatisierungen zu fördern.
Das hat zum einen die Folge, dass die schlechter bezahlten und vor allem befristeten Vertretungskräfte, die zunehmend die hessischen Schulen bevölkern, in einer erheblich schwächeren Kampfposition sind als die in der Regel gut abgesicherten verbeamteten Kollegen. Wenn aber dieses wachsende Bildungsproletariat in den Lehrerzimmern begreift, dass es für sie in diesem Berufsleben vermutlich keine Planstelle mit A13 geben wird, dass sie mit all ihrem angepassten Bildungsethos und unbezahlten Zusatzleistungen, mit ihrem Versuch, trotz permanenter Unsicherheit in ihrem Kollegium anzukommen, letztlich nur verschaukelt werden, dann kann es sein, dass diese heute noch so unscheinbaren und eingeschüchterten Kollegen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Flexibilität, ihrer Anpassungsbereitschaft und ihrer faktischen Rechtlosigkeit von der Bildungsverwaltung und der Ministerialbürokratie so gern gesehen sind, sich langfristig als konfliktfreudige Bildungsarbeiter erweisen.
Lutz Getzschmann ist Lehrer an einer Kasseler Gesamtschule und u.a. aktiv in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
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