von Angela Huemer
Vor einigen Jahren, ich glaube es war 2008/2009, versuchte ich eine Zeit lang monatlich in der SoZ zu vermelden, wie viele Flüchtlinge an einer der Grenzen Europas gestorben waren. Die Quelle dafür war Gabriele del Grandes Blog «FortressEurope». In dieser Zeit haben wir eine Reportage gefilmt, «Tod auf hoher See – warum Flüchtlinge sterben» und uns dabei die unermüdliche Arbeit der italienischen Küstenwache aus der Nähe ansehen können; von der Schwierigkeit erfahren, kleine Boote zu erkennen; der Tragik, dass oft kurz vor der Rettung noch Schlimmes geschieht: In Sichtweise eines rettenden Schiffes entsteht Unruhe auf überfüllten Booten, die Bootsinsassen drängen sich an der Seite, wo sie Rettung erblicken, und das Schiff kentert.
Wir besuchten die namenlosen Gräber auf den Friedhöfen Siziliens und waren dabei, als 13 nichtidentifizierte schiffbrüchige Flüchtlinge in Agrigent begraben wurden. Der junge Mann vom Bestattungsinstitut, für den solche Begräbnisse längst nichts Neues waren, erklärte uns, dass sie wohl schon zwei Wochen tot im Meer getrieben hatten, bevor sie aufgegriffen wurden.
Als Mitte April 2015 400 Menschen umkamen, wurde das Sterben draußen auf dem Mittelmeer, das stetig und fast unbemerkt vor sich geht, erneut ein wenig in die Schlagzeilen gespült. Doch es brauchte die rund 800 Toten vom Sonntag, dem 19.April, dass die Meldung die Titelseiten erreichte und es neben Statements sogar ein Treffen von EU-Ministern gab.
Eigentlich hatte ich schon längst darüber schreiben wollen, dass es einen Appell der Reeder gegeben hat, doch endlich politisch etwas zu ändern, da sie sich allein gelassen fühlen, überfordert und traumatisiert. Handelsschiffe haben im letzten Jahr 40.000 Menschen gerettet, die italienische Rettungsinitiative Mare Nostrum rettete dreimal so viel. Und darüber, dass die UNHCR die EU nachhaltig aufgefordert hatte, ihre Politik grundsätzlich zu überdenken, weil die aktuelle Situation unhaltbar ist – beides geschah vor den beiden großen Schiffbrüchen in der letzten Woche.
Nach den 400 Toten lehnte De Maizière noch eine Verbesserung der Seenotrettung ab, mit dem Hinweis, dies schaffe lediglich Anreize – in diesem Fall sind Anreize etwas negatives, denn es könnten ja mehr Flüchtlinge kommen (für De Maizière sind übrigens auch Lehrstellen für junge Flüchtlinge mögliche gefährliche Anreize). Konfrontiert mit diesem Argument konnte man das Entsetzen in der Stimme von Max Johns, dem Geschäftsführer des Verbands Deutscher Reeder, geradezu hören, als er dem Deutschlandfunk ein Interview gab. Johns fordert ein europäisches Mare Nostrum, denn wie sich Flüchtlingsbewegungen entwickeln würden, sei doch Spekulation, und außerdem geht es jetzt erst mal darum, Menschen zu retten.
Der EU ist ihre Schande egal, schreibt sehr treffend der junge Journalist Christoph Herwartz von n-tv. Für den Karneval ist eine Tuschmaschine erfunden worden, auf Knopfdruck kann man beliebte Lieder abrufen. Es scheint so, als ob es in den Köpfen europäischer Politiker eine ebensolche Tuschmaschine mit vorgefertigten Worthülsen gäbe, die sie ohne zu nachdenken drücken. «Man muss die Lage vor Ort verändern, die Fluchtursachen bekämpfen.» «Skrupellosen Schleuser muss das Handwerk gelegt werden.» «In Libyen/Nordafrika warten Millionen Menschen darauf, nach Europa zu kommen.» (Oft wird in diesem Zusammenhang der Begriff Ansturm verwendet.) «Es sollte Asyl/Flüchtlings-/Aufnahmelager/Reception Centers in Nordafrika geben, vor Ort, damit die Flüchtlinge nicht die tödliche Überfahrt auf sich nehmen müssen.» «Nach der Rettung könnte man die Schiffbrüchigen dorthin zurückbringen, wo sie herkamen.»
Als sie nicht mehr anders konnten, trafen sich europäische Innen- und Außenminister und entwarfen ein Zehn-Punkte-Programm. Ganz oben die Verdopplung der Mittel für Seenotrettung, parallel will man aber nicht versäumen, ein neues Programm für schnellere Abschiebungen zu schaffen und systematisch die Boote von Schlepperbanden aufspüren und zerstören. Die Fingerabdrücke aller Flüchtlinge sollen sichergestellt werden und man will sie gerecht auf die EU verteilen – erstmal 5000.
Erfreulich klare Worte fand der UN-Menschenrechtskommissar Seid Ra’ad Al-Hussein: «Europa wendet sich von einigen der am stärksten gefährdeten Flüchtlinge der Welt ab und riskiert, dass das Mittelmeer sich in einen riesigen Friedhof verwandelt [das ist es bereits seit mindestens 15 Jahren].» Er merkt an, dass die EU-Politik aus «kurzsichtigen und kurzfristigen politischen Reaktionen» besteht, die dazu dienen, «sich den fremdenfeindlichen populistischen Bewegungen anzubiedern, die in dieser Frage die öffentliche Meinung vergiftet haben». Nötig ist ein «anspruchsvollerer, mutigerer und weniger gefühlloser Ansatz».
Harald Höppner, deutscher Bürger, der mit einem eigenen Boot Menschen retten will, reagierte instinktiv richtig, als er bei Günter Jauch eingeladen war und eine Minute Schweigen für die Toten wollte. Ich war auch sprachlos und hätte mir nichts mehr gewünscht, als dass einfach mal innegehalten wird und jeder Kommentar, jede Betroffenheitskundgabe und Krokodilstränen im Hals stecken bleibt.
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