von Ingo Schmidt
Den Kapitalismus vor sich selber retten. Diesem Ziel hat sich der griechische Finanzminister Varoufakis verschrieben. Sein Argument, in Ermangelung einer Alternative zum Kapitalismus müsse dieser durch soziale und politische Reformen vor Depression und Faschismus bewahrt werden, erinnert an ähnliche Überlegungen in der Weimarer SPD.
Nach Überwindung der Inflationskrise 1923 hatte ihr Cheftheoretiker Rudolf Hilferding argumentiert, ein ökonomisch stabilisierter und politisch organisierter Kapitalismus lasse sich schrittweise in den Sozialismus überführen. Als sein Parteifreund Fritz Tarnow nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine Art keynesianisches Beschäftigungsprogramm vorschlug, warnte Hilferding, die dafür nötigen Staatskredite würden zu Inflation führen und überhaupt gehörten Krisen nun einmal zum Kapitalismus. Die von Tarnow angestrebte Rettung des Kapitalismus, die den Faschismus verhindern sollte, blieb aus. Stattdessen retteten die Nazis den Kapitalismus auf ihre Weise. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten jene sozialen Reformen durchgesetzt werden, die den Aufstieg der Nazis ursprünglich verhindern sollten.
Wie Varoufakis war auch Hilferding in Krisenzeiten vom Wirtschaftstheoretiker zum Finanzminister avanciert. Hilferding bekleidete dieses Amt während der Inflationskrise 1923 und zu Beginn der Großen Depression 1929. Beiden Krisen haben tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis vieler Deutschen hinterlassen, die bis heute nachwirken. Die Unnachgiebigkeit, mit der Berlin auf Schuldenrückzahlung und Sparprogrammen beharrt, obwohl beide erwiesenermaßen zur Verschärfung der Krise beigetragen haben, geht zumindest teilweise auf diese Krisenerfahrungen zurück.
Die Theorie: Finanzkapital und Organisierter Kapitalismus
In seinem theoretischen Hauptwerk Das Finanzkapital hatte Hilferding die Verschmelzung von Banken und Industrieunternehmen sowie die zunehmenden Kartellierung der Wirtschaft beschrieben. Aus dieser Entwicklung zog er den Schluss, dass die Anarchie der kapitalistischen Konkurrenz und die damit verbundenen Krisen der Vergangenheit angehörten. Bis dato hatten Unternehmen im Streben nach einem möglichst großen Marktanteil Investitionen und Produktion ohne Rücksicht auf den jeweiligen Bedarf ausgedehnt und damit periodisch Überproduktionskrisen herbeigeführt. Hingegen zeigten die Kartelle mit ihrer abgestimmten Aufteilung des Marktes unter eine kleine Zahl von Anbietern, dass die Herrschaft blind zu befolgender Marktgesetze durch eine gezielte Kontrolle abgelöst werden kann.
Theoretisch, so Hilferding, ließe sich diese Entwicklung bis zu einem Generalkartell fortschreiben, das im Zusammenwirken mit dem Staat den Übergang zu einer sozialistischen Planwirtschaft erlauben würde. Die ebenfalls im Kartell vertretenen Banken würden die notwendigen Finanzen zur Realisierung des jeweiligen Wirtschaftsplans bereitstellen. Um den Übergang praktisch zu bewerkstelligen, müsse freilich der politische Widerstand der Kapitalisten gebrochen werden.
Die Einbindung der Gewerkschaften in die Kriegswirtschaft 1914–1918 interpretierte Hilferding als Schritt zu einem organisierten Kapitalismus. Allerdings wurde die Arbeiterklasse unter dem Belagerungszustand entrechtet, während das Wirtschaftsleben zunehmend der politischen Kontrolle unterworfen wurde. Dies sollte sich mit der Entstehung der Weimarer Republik ändern. Freie Wahlen würden zu einer starken Vertretung im Parlament führen und dieses würde als Gegenmacht zum Finanzkapital fungieren. Auf diese Weise würde der organisierte Kapitalismus demokratisiert und könnte schrittweise in den Sozialismus überführt werden.
Die Vorstellung war nicht neu. Sie war in schon in der Sozialdemokratie des Kaiserreichs verbreitet und 1899 von Eduard Bernstein in den Voraussetzungen des Sozialismus systematisiert worden. Neu war, dass Hilferding sie aus marxistischer Perspektive formulierte, während Bernstein den Marxismus als hoffnungslos mit der revolutionären Politik von 1789 und 1848 verbandelt sah und im Namen einer reformistischen Strategie aufgegeben hatte. Neu war weiterhin, dass mit dem kartellierten Finanzkapital und der demokratischen Republik endlich die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen Wirklichkeit geworden waren, die für Bernstein noch weitgehend Zukunftsmusik gewesen waren.
1923: Die Große Inflation
Seit Gründung der Weimarer Republik und der damit verbundenen legalen Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner wurde das Kräfteverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital über Lohnverhandlungen und Preiserhöhungen austariert. Gleichzeitig mit der Preis-Lohn-Spirale setzte sich eine Kredit-Spekulation-Spirale in Bewegung, mit deren Hilfe es einigen Unternehmern gelang, riesige Konzerne zusammenzuraffen – dafür berühmt geworden ist insbesondere der RWE-Aufbauer Hugo Stinnes.
1922 beschleunigte sich die Inflation und ging 1923 in eine Hyperinflation über, die von einem scharfen Einbruch von Produktion und Beschäftigung begleitet war. Nachdem er im August das Finanzministerium unter der Kanzlerschaft des DVP-Vorsitzenden Gustav Stresemann übernommen hatte, erarbeitete Hilferding Pläne zur Stabilisierung der Währung. Deren Umsetzung erlebte er freilich nicht mehr im Amt. Auf Druck der bürgerlichen Koalitionspartner wurde der Sozialdemokrat Hilferding im Oktober 1923 durch den parteilosen Hans Luther abgelöst.
Die mit der Einführung der Renten- und danach der Goldmark beabsichtigte Währungsstabilisierung gelang, ging aber auf Kosten der Arbeiterklasse. In der Endphase der Inflation hatten die Nominallöhne nicht mehr mit den Preisen Schritt halten können. Ein starker Rückgang der Reallöhne war die Folge. Zudem konnten die Unternehmer angesichts der Massenarbeitslosigkeit und entsprechend geschwächter Gewerkschaften die Aufhebung des seit 1918 gesetzlich vorgeschriebenen Acht-Stunden-Tags durchsetzen.
Nach dieser Rosskur erholte sich die Wirtschaft und mit ihr die Beschäftigung und die Reallöhne allmählich. 1927 wurde die gesetzliche Arbeitslosenversicherung eingeführt. 1928 kam die SPD bei den Reichstagswahlen auf knapp 30%, nachdem sie 1924 kaum über 20% gekommen war. Hermann Müller (SPD) wurde Kanzler, Hilferding zog erneut ins Finanzministerium ein.
1929: Die Große Depression
Doch bevor die Träume vom organisiertem Kapitalismus und einer Sozialreform in den Himmel wachsen konnten, brach über Deutschland die nächste Wirtschaftskrise herein. Nur drei Monate nach dem Schwarzen Freitag an der Wall Street musste Hilferding im Dezember 1929 wieder abtreten. Es war ihm nicht gelungen, gegen den Widerstand von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht die zur Gewährleistung ausstehender Zahlungsverpflichtungen notwendigen Kredite zu beschaffen. Die Reparationslasten des Versailler Vertrags sowie eine durchweg negative Handelsbilanz sorgten dafür, dass die Weimarer Republik in ihrer kurzen Geschichte eine Zahlungsunfähigkeit nur durch ständigen Zufluss ausländischen Kapitals vermeiden konnte. Daran änderten weder die Währungsreform 1923 noch die Erleichterungen der Reparationslasten im Zuge des Dawes-Plans etwas. Letzterer führte lediglich dazu, dass amerikanisches Kapital die Republik über Wasser hielt. Der Geldsegen flaute aber bereits vor dem Krach an der Wall Street ab und trocknete danach völlig aus.
Die Regierung Müller überlebte das Ausscheiden Hilferdings nur um drei Monate. Sie brach im März 1930 am Streit über Beitragserhöhungen zur 1927 eingeführten Arbeitslosenversicherung auseinander. Die nachfolgenden Präsidialkabinette bekämpften den Einbruch der Staatseinnahmen mit Ausgabenkürzungen. Da diese Politik die Krise verschärfte, schlugen die SPD-Reichstagsabgeordneten Fritz Tarnow und Fritz Baade alternativ ein vom Gewerkschaftsökonomen Wladimir Woytinsky ausgearbeitetes Beschäftigungsprogramm vor. Hilferding sah darin eine Abkehr vom Marxismus und einen Angriff auf die Stabilität der Währung und konnte Parteichef Otto Wels von seinen Ansichten überzeugen. Mit Blick auf seine Erfahrungen als Finanzminister auf dem Höhepunkt der Inflation 1923 war diese Sorge verständlich, aber gleichwohl fehlgeleitet, weil die Große Depression von Deflation statt von Inflation begleitet war.
Falsche Lehre und verdrängte Erfahrungen
Die Abhängigkeit der Weimarer Republik von ausländischem Kapital ist vergleichbar der von Griechenland nach dem Beginn der Währungsunion 2001. In beiden Fällen kam es zu einem kreditfinanzierten Aufschwung, der mit dem Ende der Kreditzufuhr zusammenbrach. In beiden Fällen wurde die danach eintretende Krise durch Sparpolitik im Namen des Schuldenabbaus verschärft. Im Unterschied zur Weimarer Republik hat die wirtschaftliche und soziale Krise in Griechenland bislang zu einem Aufschwung der Linken statt der Rechten geführt. Dies kann sich freilich ändern, wenn SYRIZA von der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit EZB, EU-Ministerrat und IWF zur Kapitulation gezwungen wird.
Die Erfahrungen mit der Weimarer Sparpolitik veranlassen den Hilferding-Nachfolger Gabriel und seine Kanzlerin Merkel allerdings nicht zu einer Abkehr von der Sparpolitik. Ihre Lehre aus Weimar ist vielmehr, eine Abhängigkeit Deutschlands von ausländischem Kapital müsse auf jeden Fall vermieden werden, deutsche Exporte gehen über alles. Auch dass die USA der Bundesrepublik den Aufstieg zum Exportweltmeister nur mit Hilfe eines Schuldenschnitts und günstiger Wechselkurse ermöglicht haben, wird verdrängt. Es ist diese Verdrängung, die Gabriel und Merkel mit weiten Kreisen der Bevölkerung teilen, die es so schwierig macht, Solidarität mit SYRIZA zu organisieren.
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