Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2015
Kolumne
von Manfred Dietenberger

«Das Bild, das die deutsche Sozialpartnerschaft derzeit potenziellen Investoren bietet, ist düster: Immer mehr Arbeitnehmer bestreiken immer mehr Betriebe, und es kommt zu immer mehr Ausfalltagen», schreibt jüngst das Institut der deutschen Wirtschaft.
Der letzte wirklich lange Arbeitskampf liegt mehr als zehn Jahre zurück. 2003 kämpften die IG Metaller in Ostdeutschland um die Angleichung der Arbeitszeit und einen Tarif zur Einführung der 35-Stunden-Woche wie im Westen – und verloren. Aber nun: Das Jahr 2015 ist noch nicht zur Hälfte durch, und doch streikten in Deutschland schon die Metaller, die Amazon-Beschäftigten, Lehrer, die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst, die Lokführer, die Piloten, das Flughafenpersonal, Beschäftigte der Postbank, DHL-Lieferanten und die Kolleginnen und Kollegen bei der Deutschen Post. Mit 350.000 ausgefallenen Arbeitstagen sind in Deutschland bislang mehr als doppelt so viele Streiktage zusammengekommen wie im gesamten Jahr 2014. Und weitere Arbeitskämpfe sind heuer noch in Sicht. Die Medien machen massiv Stimmung gegen die streikenden Gewerkschafter und versuchen ihren Lesern weiszumachen, sie seien nicht mehr souverän, ihr alltägliches Leben werde immer mehr von wildgewordenen Gewerkschaftsfunktionären und streikwütigen Beschäftigten fremdbestimmt.

Aber macht das Deutschland gleich zum «Streikland», dem deshalb der wirtschaftliche Niedergang droht? Da ist nichts dran, hingegen verabschiedete die Bundesregierung im Windschatten der Streikluft, die durchs Land weht, gerade jetzt das «Tarifeinheitsgesetz».
«Streikland Nr.1» war 2014 unangefochten Frankreich mit 139 Streiktagen. Im April 2015 gingen hunderttausende Menschen auf die Straßen, begleitet von zahlreichen Streiks, um gegen die Sparpolitik zu demonstrieren. Und aufgemerkt: Eine ähnlich hohe Streikbereitschaft gab es beim nördlichen Nachbarn Dänemark, einem Vorzeigemodell des Wohlfahrtsstaats. Mit 135 Tagen pro Jahr wurde dort nur unwesentlich weniger als in Frankreich gestreikt. In Norwegen sind es durchschnittlich 53 Ausfalltage pro Jahr. In Belgien wurden in 2014 77 und in Finnland 76 Tagen Streiktage gezählt. Im angeblichen «Streikland» Deutschland aber wurden gerade mal 16 Tage Streiktage gezählt.
Die Tatsache, dass in der letzten Dekade in vielen Ländern das Streikbanner öfter ausgerollt wurde als in Deutschland, erklärt nebenbei zu einem guten Teil, warum gerade in diesen Ländern die höchsten Reallohnsteigerungen erreicht wurden, während die Reallöhne der Beschäftigten in streikärmeren Ländern wie Japan oder Deutschland beinahe stagnierten.

Fast 90% aller Arbeitskämpfe und gut 97% aller Ausfalltage waren laut Hans-Böckler-Stiftung des DGB im vergangenen Jahr dem Dienstleistungssektor zuzuordnen. Daher sind «Streiks für die Bürger heute viel spürbarer als früher», schreibt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) des DGB. Und das ist auch gut so, denn ein Streik, der nicht spürbar ist, ist sinnlos.
Insgesamt zählte die Stiftung 2014 in Deutschland 214 Tarifkonflikte mit Arbeitsniederlegungen, vier weniger als im Jahr davor. Von den 214 Streiks fanden gut 160 im Organisationsgebiet von Ver.di statt. «Außerhalb des Dienstleistungsbereichs gab es erneut besonders viele, häufig kleinere Streiks in der von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisierten Getränke- und Lebensmittelindustrie», hat das WSI ermittelt.
Zwar gab es 2014 im Vergleich zu 2013 einen leichten Rückgang, doch alles in allem gibt es seit rund zehn Jahren einen Anstieg der Arbeitskämpfe. Für Heiner Dribbusch vom WSI hängt das zusammen mit der «zunehmenden Zersplitterung der Tariflandschaft». Outsourcing, wie jüngst bei der Paketzustellung der Post, führe zu neuen Konflikten. Gleiches gelte für Unternehmen wie Amazon, die bislang jeden Tarifvertrag ablehnen. Dabei setzen sie eine unrühmliche Tradition fort. Schon 1905 erklärte der Zentralverband deutscher Industrieller den Abschluss von Tarifverträgen «als der deutschen Industrie und ihrer gedeihlichen Entwicklung überaus gefährlich», weil sie die «Freiheit der Entschließung über die Verwendung der Arbeiter» beschränke und die «einzelnen Arbeiter unter die Herrschaft der Arbeiterorganisationen» bringe.
Die umfangreichsten Flächenstreiks fanden 2014 in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes von Bund und Gemeinden statt. An den verschiedenen Warnstreikwellen, zu denen neben Ver.di und der GEW auch die zum Beamtenbund gehörende DBB-Tarifunion aufgerufen hatte, nahmen nach Gewerkschaftseinschätzung rund 300.000 Beschäftigte teil. Den prozentual höchsten Tarifabschluss nach einem Streik gab es, nachdem am 21.Februar 2014 das mit seiner niedrigen Bezahlung unzufriedene Sicherheitspersonal am Frankfurter Flughafen die Arbeit niedergelegt hatte. Über zwei Jahre verteilt wurde ein Einkommensplus von bis zu 26,5% vereinbart. Auch hier streikten Mitglieder von Ver.di und DBB übrigens gemeinsam.

Obwohl im Grundgesetz die Koalitionsfreiheit und damit das Streikrecht festgeschrieben ist, fordern Unternehmerverbände und immer mehr ihr hörige Politiker neue Arbeitskampfregeln – sprich die obrigkeitliche Zurechtstutzung des eh schon sehr beschränkten deutschen Streikrechts –, um die angebliche Verhältnismäßigkeit im Arbeitskampf zu wahren, den Standort Deutschland zu sichern und die «Daseinsvorsorge» zu gewährleisten.
Gleich nach der Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes hakte der Unionsfraktionsvize Michael Fuchs mit der Forderung nach «Nachbesserung» nach. Die CDU/CSU werde «mit der SPD über weitere Schritte reden», denn das Gesetz werde «harte Tarifkonflikte, wie wir sie in den letzten Wochen erlebt haben», nicht verhindern. Daher sei es zwingend notwendig, dass für strategisch wichtige Unternehmen wie die Bahn eine Ankündigungsfrist für Streiks von 48 Stunden eingeführt werde. Notwendig sei auch ein gesetzlich vorgeschriebener Schlichtungsversuch nach der zweiten Streikrunde. «Wir dürfen nicht zulassen, dass Tarifauseinandersetzungen zu schweren Schäden für den Standort Deutschland führen.»
Schützenhilfe bekommt er aus dem gesamten Unternehmerlager, oft auch in Form von pseudoneutralen Institutionen, Instituten und sogenannten Wirtschaftswissenschaftlern. Sie sind sich einig: Warnstreiks und Streiks im Bereich der «Daseinsvorsorge» müssen juristisch erschwert oder am besten ganz verhindert werden. Ginge es z.B. nach der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Stiftung, wären folgende Bereiche und Branchen der «Daseinsvorsorge» vor Arbeitskämpfen zu schützen: die medizinische und pflegerische Versorgung; die Versorgung mit Energie und Wasser; Feuerwehr, Bestattung, Entsorgung; Landesverteidigung und innere Sicherheit; Verkehr; Erziehungswesen und Kinderbetreuung; die Kommunikationsinfrastruktur; die Versorgung mit Bargeld und Zahlungsverkehr.
Auch der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Wolfgang Franz, forderte Anfang Mai im Handelsblatt die Überarbeitung des Streikrechts in Deutschland. Seiner Meinung nach habe sich das Kampfgleichgewicht zugunsten der Arbeitnehmer verschoben. Er träumt laut von der Einrichtung einer in den USA möglichen «Cooling-off-Periode», die es dem US-Präsidenten erlaubt, einen Arbeitskampf bis zu 80 Tage aufzuschieben, sofern gravierende volkswirtschaftliche Schäden zu befürchten sind. Eine solche «Abkühlungsperiode» soll den Tarifvertragsparteien Zeit geben, einen Kompromiss zu finden.

Neu sind die Angriffe auf das Streikrecht und die Gewerkschaften nicht. Ich erinnere nur daran, dass schon 1968 der Deutsche Bundestag die sogenannten Notstandsgesetze beschlossen hat, die es der Exekutive erlauben, im «inneren» oder «äußeren» Notfall Streiks zu verbieten. 1986 verabschiedete der Bundestag eine Neufassung des §116 des Arbeitsförderungsgesetzes, nach dem indirekt vom Streik betroffene Beschäftigte anderer Tarifbezirke desselben Wirtschaftszweigs keine Sozialhilfe mehr beziehen können. Und immer wieder erleben wir: Das Arsenal der Gerichte ist auch heute schon unerschöpflich, wenn es darum geht, die Führung von Streiks zu erschweren, zu behindern, zu unterlaufen, sie hinauszuzögern oder ihre möglichen Zielsetzungen zu beschränken. Sie sind Teil einer Klassenjustiz, deren letzter Zweck darin besteht, die Interessen des Kapitals zu schützen. Verteidigen wir das Existenzrecht der Gewerkschaften und das Streikrecht – es ist höchste Eisenbahn.

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