von Angela Huemer
Seit rund 25 Jahren sterben Bootsflüchtlinge im Mittelmeerraum. 2014 und 2015 waren es besonders viele. Ein Rückblick tut not, zur besseren Beurteilung der Gegenwart.
«Es ist nicht einfach, die Toten zu zählen. Viele bleiben für immer im Meer begraben. Eine erste Rechnung der Flüchtlinge, die seit 1996 auf dem Meeresweg nach Italien starben, ergab ca. 800. Wahrscheinlicher jedoch sind 1250. Allein 2003 wurden 56 Leichen geborgen, insgesamt starben bis zu 474. (Die Jahre zuvor: 2002: zwischen 123 und 200; 2001: 16; 2000: 12; 1999: 165; 1998: 9; 1997: 74; 1996: 300).» Das schrieb ich 2003.
Beim erneuten Lesen stolperte ich über die Zahl 800, unglaublich viele. Nun sind ebensoviele bei einem einzigen Schiffbruch ums Leben gekommen, nach kurzer Betroffenheit drehte sich das Rad der Berichterstattung munter weiter und die Politik behandelt tote Flüchtlinge als Gegenstand der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
NGOs wie United Against Racism und die International Organisation for Migration oder Journalisten wie Gabriele del Grande führen darüber Buch, wieviele Menschen auf der Flucht nach Europa ums Leben kommen – gestützt auf Medienberichte.
Diese Daten analysierten nun Philippe Fargues und Anna Di Bartolemeo in einer Studie* mit dem trefflichen Titel Drowned Europe. Anfang der 90er Jahren kamen rund 50000 Albaner nach Italien – es gab viel weniger Tote als jetzt (die Boote waren sicherer und die Schleuser mit an Bord). Im Schnitt kamen von 1988 bis 2013 jährlich 44000 Bootsflüchtlinge. 2009 und 2010 waren es weniger, da «funktionierten» die Abkommen mit Gaddafi. Um vieles mehr waren es im Jahr 2011 im Zuge des arabischen Frühlings. 18403 kamen seit 1988 ums Leben fast die Hälfte davon (44,9%) in den letzten fünf Jahren.
Rückblick 2003
2003 reagierten die Italiener mit Appellen an Europa. Außenminister Frattini forderte die Schaffung eines gemeinsamen Büros zur besseren Kontrolle der Meeresgrenzen. Seit Juni 2003 gab es in Italien eine neue Regelung, wonach Boote, die nach Einschätzung italienischer Polizeikräfte dem «illegalen Transport von Migranten dienen», aufgehalten und gegebenenfalls zurückgeschickt werden konnten.
Das gewünschte gemeinsame Büro zur besseren Kontrolle der Meeresgrenzen wurde Ende 2004 eingerichtet. Das war Frontex, die EU-Grenzschutzagentur mit Sitz in Warschau, dessen Budget sich seitdem vervielfacht hat (von etwas mehr als 6 Mio. bis aktuell mehr als 114 Mio.Euro). Das Aufhalten und Zurückbringen von Flüchtlingen setzte sich fort: 2012 verurteilte der 2012 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien für eine 2009 erfolgte Zurückweisung von eritreischen und somalischen Flüchtlingen nach Libyen.
Im Januar 2003 wurde erstmals der Vorschlag vorgebracht, der seither periodisch immer wieder die Runde macht: Großbritannien schlug dem Europarat vor, in Nordafrika regionale Schutzzonen einzuführen, mit «Transit Processing Centres» für Asylverfahren. 2004 übernahm der deutsche Innenminister Otto Schily diesen Vorschlag. Die Begründung der Briten lautete, ohnehin würde die Mehrzahl der Asylanträge abgelehnt und es wäre daher geschickter, die Menschen gar nicht erst nach Europa kommen zu lassen, sondern sie die Asylanträge «vor» Europa stellen zu lassen.
Angesichts der 800 Toten vom 19.April holte die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner prompt ihren «Leben-retten»-Vorschlag aus der Schublade, ein Klon des britischen Vorschlags von 2003, ähnlich schlecht durchdacht. Gut, dass die Ministerin dies selbst bemerkte und seither im Raum steht, dass Österreich sich an dem seit Jahrzehnten bestehenden Resettlement-Programm des UNHCR beteiligen könnte. Im Rahmen dieses Programms bemüht sich das UNHCR, «besonders verletztliche Flüchtlinge dauerhaft in einem dazu bereiten Drittstaat» anzusiedeln. Voraussetzung dafür ist, dass dort Schutz gewährt wird und eine Integrationsperspektive besteht. Aktuell beteiligen sich daran 26 Länder.
Eine bis dato übliche Art der Zusammenarbeit, nämlich Kooperations- bzw. Wiederaufnahmeabkommen mit Ländern Nordafrikas, geht bis in die 90er Jahre zurück. Diese Abkommen zielten auf polizeilich-militärische Zusammenarbeit und die Bereitschaft der Länder, abgeschobene Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Es schwang die Hoffnung mit, dass die Länder mit Hilfe europäischer Ausrüstung und Schulungen verstärkt von sich aus Migration kontrollieren könnten.
Oft ließ man sich das einiges an Wirtschaftshilfe kosten, denn diese Länder hatten und haben von sich aus eher kein Interesse, Emigration zu verhindern, denn immer noch sind die Geld- und Sachleistungen, die ausgewanderte Landsleute an ihre Familien schicken eine entscheidende Einnahmequelle. Auch massive Umwälzungen wie der arabische Frühling haben an dieser Strategie nichts geändert – oft waren die ersten Übereinkünfte mit den neuen Regierungen Neuauflagen eben dieser Abkommen.
Massenflucht aus Libyen?
Im Fall von Libyen lag die Sache anders, da im Unterschied zu den anderen nordafrikanischen Ländern kaum Libyer selbst auswanderten. Libyen ist eine ehemalige italienische Kolonie, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind eng geblieben. Schon 2000 schlossen Italien und Libyen ein Abkommen über Kriminalität und irreguläre Migration, von 2002 bis zum Sturz Gaddafis führten die beiden Länder regelmäßig gemeinsame Militärmanöver durch.
Italien war maßgeblich an der Aufhebung der Embargos gegen Libyen 2004 beteiligt. Kurze Zeit später wurden die ersten Flüchtlinge direkt von Italien nach Libyen abgeschoben (teils sogar per Direktflug von Lampedusa nach Tripolis).
Auch die Aussage, in Libyen würden rund eine Million Flüchtlinge auf die Überfahrt nach Europa warten, datiert aus dieser Zeit. Enzo Bianco, ehemaliger Innenminister und derzeit Bürgermeister von Catania, stellte diese Behauptung schon 2003 auf. Flüchtlingsexperten wie Hein de Haas von der Oxford University sehen eine der Ursachen, warum Nordafrikaner in den 90er Jahren begannen, per Schiff nach Europa zu kommen, in der Einführung der Visapflicht für Nordafrikaner für die Einreise nach Italien und Spanien. Nach Pogromen gegen Subsahara-Afrikaner in Libyen Ende der 90er Jahre und im Jahr 2000 machten sich auch sie sich, zusammen mit den Nordafrikanern auf den Weg nach Europa.
Ein Massenexodus nach Europa war dies nicht. Er erfolgte nicht mal 2011, als aufgrund des Bürgerkriegs tatsächlich fast eine halbe Million Migranten, die in Libyen arbeiteten, das Land verließen – diese gingen zurück in ihre Heimatländer oder flohen in die Nachbarländer Tunesien und Algerien. Seit 1998 bis heute sind insgesamt, über alle Fluchtrouten übers Meer, rund 922.000 Flüchtlinge nach Europa gekommen, über 200.000 davon allein im Jahr 2014.
Common sense
Nach Unglücken wie Flugzeugabstürzen oder gestrandeten Kreuzfahrtschiffen beschäftigt es die Öffentlichkeit sehr, ob und wie die Verunglückten geborgen werden können und wie schlimm das alles für die Angehörigen ist. Bei toten Bootsflüchtlingen gibt es einige Krokodilstränen mit anschließendem Gerede vom bevorstehenden Ansturm, vom Flüchtlingsproblem usw. Nachdem 366 Menschen vor Lampedusa im Oktober 2013 den Tod fanden, wurde den Überlebenden die Teilnahme am pompös inszenierten Begräbnis verwehrt.
Die Angehörigen, die kamen, um ihre Liebsten zu identifizieren (die Toten stammten mehrheitlich aus Eritrea) wurden nur mangelhaft unterstützt und mitunter sogar von regierungsnahen Eritreern behindert.
Am 12.Mai 2015 ging borderdeaths.org online: Im Rahmen eines Projekts, unter der Leitung von Thomas Spijkerboer an der Vrije Universiteit Amsterdam hat man erstmals genau untersucht, wieviele Bootsflüchtlinge an den Küsten Europas begraben liegen und registriert wurden: 3188 (die Zahl bezieht sich auf den Zeitraum 1990–2013). Die Datenbank ist öffentlich, Daten wurden dabei behutsam anonymisiert, in der Mehrzahl der Fälle ist die Identität der Toten aber ohnehin unbekannt. Für Spijkerboer bilden diese Daten eine wesentliche Basis dafür, die bestehende Politik der Schließung von Grenzen und der Bekämpfung des Schleppertums zu hinterfragen. Ein klares Ergebnis der Todeszahlen: wenn eine Fluchtroute geschlossen wird, wird eine andere tödlicher. Ein «European Migrant Death Observatory» muss eingerichtet werden, so Spijkerboer.
Ähnlich reagierte Max Johns, Geschäftsführer des Verbands Deutscher Reeder, auf das Argument, eine Neuauflage von Mare Nostrum würde Anreize für Schlepper schaffen: «Man kann nicht auf das Leben der Menschen kalkulieren und sagen, wir lassen mal ganz viele ertrinken in der Hoffnung, dass dann weniger kommen. Das ist für uns undenkbar.» Vertreter der italienischen Küstenwache halten wenig von militärischer Abschreckung und wollen mehr Fokus auf die Rettung von Flüchtlingen. Einerseits froh darüber, dass nun britische und deutsche Marineschiffe zur Rettung unterwegs sind, fänden sie es sinnvoller, wenn dies unter ihrem Kommando geschähe, damit Rettungsaktionen effizienter und erfolgreicher durchgeführt werden können.
Positiv sind auch private Initiativen wie MOAS und Sea-Watch, die losziehen, um das Ertrinken von Menschen zu verhindern.
Wie kommentiert die New York Times so trefflich die militärischen EU-Pläne: «Es braucht keine Militärintervention, nur Einfühlung und common sense, vernünftiges Denken.»
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