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Europa 1. Juni 2015
Eine Zwischenbilanz
von Paul B. Kleiser

Die neue griechische Regierung unter Alexis Tsipras ist nun gut hundert Tage im Amt, Zeit, eine erste Bilanz zu versuchen.

Da die alten Systemparteien Nea Dimokratia und PASOK, die das Land 40 Jahre lang regiert hatten, abgewählt wurden, hat in der neuen Regierung niemand Regierungserfahrung (abgesehen von der neuen Chefin der Notenbank, Louka Katseli, die 2011 als Arbeitsministerin aus Protest gegen die Sparpolitik zurückgetreten war).
Außerdem haben die Mitglieder der alten Regierung alles aus den Ministerien mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Die neuen Minister und deren Mitarbeiter mussten zunächst einmal mit eigenem Gerät anrücken und konnten natürlich auch nicht auf Dokumente, Pläne und Bilanzen der Vorgänger zurückgreifen.
Hinzu kommt, dass Regierungschef Alexis Tsipras zusammen mit den Unabhängigen Griechen (ANEL) regieren muss und er fast alle Tendenzen von SYRIZA, ursprünglich ein Dachverband mit 13 Mitgliedsorganisationen, in die Regierung zu integrieren versuchte, was natürlich «Reibungsverluste» verursacht.
SYRIZA wurde mit dem Auftrag gewählt, die verheerende Austeritätspolitik, die das Land in die tiefste Krise seit Ende des Bürgerkriegs 1949 gestürzt hat, zu beenden. Gleichzeitig jedoch will die übergroße Mehrheit der Griechen (70–80%) im Eurosystem bleiben, weil ihnen klar ist, dass eine Rückkehr zur Drachme zu starker Inflation und einer weiteren massiven Verarmung der Mehrheit der Menschen führen würde; außerdem stünden dann für längere Zeit überhaupt keine Geldmittel für Investitionen mehr bereit.
Da ein wesentlicher Grund für die Krise (neben der um 30–40% reduzierten Massenkaufkraft) der darniederliegende Immobilienmarkt ist, können nur Investitionen helfen. Für die Regierung kann also ein Euro-Austritt keine Option sein, solange Paris und Berlin sie nicht dazu zwingen.
Bislang ist die Zustimmung der Bevölkerung zur Regierung weit höher als noch zur Zeit der Wahlen: Nach allen Umfragen würde SYRIZA heute bei Neuwahlen eine deutliche absolute Mehrheit bekommen.

Die neuen Gesetze
Die neue Regierung hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten (aber ohne Zustimmung der nunmehr «Institutionen» genannten früheren Troika) eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die vor allem den Armen zugute kommen sollen: Es gibt Nahrungsmittelhilfen; die Stromsperren werden aufgehoben; es wird eine Gesundheitskarte eingeführt, die eine bescheidene Grundversorgung für alle garantieren soll (wobei es schon Kämpfe mit bestimmten Ärzten und Krankenhäusern gibt).
Eine Reihe von repressiven Gesetzen sowie die Hochsicherheitsgefängnisse sollen abgeschafft werden, auch das scharfe «Vermummungsverbot», das sogar Gefängnisstrafen vorsieht, soll fallen. Für die Flüchtlinge sollen humanitäre Erleichterungen erreicht werden, doch lassen die EU-«Partner» in dieser Frage das überforderte Land ziemlich allein.
Eine wichtige Entscheidung war die Wiedereröffnung des öffentlichen Rundfunk- und Fernsehsenders ERT, wofür die meisten Beschäftigten seit der Schließung durch Samaras gekämpft und im Netz gesendet haben. Außerdem müssen in Zukunft alle Privatsender (die meist den Reedern gehören) Lizenzgebühren und Steuern bezahlen.
Die Finanzbehörden wurden angewiesen, die berüchtigte Lagarde-Liste (mit Kunden der HSBC) systematisch nach Steuerhinterziehern zu durchforsten; der größte Bauunternehmer (und Multimillionär), Bobolas, hat bereits einige Millionen Euro «nachentrichtet». Insgesamt wurden seit Regierungsübernahme weit über eine Milliarde zusätzlicher Steuern eingetrieben. Mit der Schweiz soll ein Steuerabkommen vereinbart werden.
Das Parlament hat eine Kommission für ein Schuldenaudit eingerichtet, sie soll prüfen, welche Schulden «odious», also illegitim sind, und in welchem Umfang geschmiert wurde. Gerade deutsche Unternehmen haben Millionen an Schmiergeldern bezahlt, um Aufträge zu bekommen, bis 1999 waren diese sogar als «nützliche Aufwendungen» steuerlich absetzbar. Auch der den Lesern der SoZ bekannte Belgier Eric Toussaint arbeitet in der Kommission mit.

Rote Linien
In der Schuldenfrage gibt sich die Regierung verhandlungsbereit, hat jedoch «rote Linien» formuliert, die nicht überschritten werden dürfen: keine weiteren Kürzungen von Löhnen und Renten, keine Steuererhöhungen (außer für ganz Reiche), Wiederherstellung des alten Mindestlohns und der Tarifautonomie. Letztere haben gegenwärtig leider keine besondere Bedeutung, weil in der Privatwirtschaft die Menschen oft Monate auf ihr Geld warten. Außerdem schieben sie unbezahlte Überstunden, nur um die Krankenversicherung nicht zu verlieren…
Hinsichtlich der Verhandlungen mit den «Institutionen» betreibt die deutsche Presse eine regelrechte Desinformationskampagne. Selbst als seriös geltende Blätter scheuen nicht vor mehr oder weniger substanzlosen Gerüchten zurück, wobei in der Regel der schwarze Peter den Griechen, vor allem Finanzminister Yanis Varoufakis, zugeschoben wird. Auch die Gerüchte über eine Ablösung des in Griechenland wegen seiner herausfordernden Auftritte in der Runde der EU-Finanzminister beliebten Ministers entbehren jeder Grundlage. Die Übergabe eines Teils des Verhandlungsmandats an Efklidis Tsakalotos kann keinesfalls als Einlenken interpretiert werden, in der Sache vertritt der Vizeaußenminister eher eine härtere Linie.
Bei den Verhandlungen scheint es inzwischen sichtlich Auseinandersetzungen zwischen dem IWF (der laut Statuten keinen Schuldenschnitt zulassen kann und in dem Amerikaner häufig das Wort führen; es soll von dieser Seite Versuche gegeben haben, direkt auf die neue Regierung einzuwirken) und der EU zu geben, Athen macht für die Verzögerungen die Gegenseite verantwortlich.
Es scheint, dass der IWF auf weiteren Rentenkürzungen beharrt, während Brüssel eher weitere Reformen beim Steuersystem haben möchte, von denen zumindest einige (so die Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer) verhandelbar sind.
Die Achillesferse der Wirtschaft liegt in den ausgebluteten Banken, die inzwischen alle wegen ihrer Rekapitalisierung faktisch verstaatlicht sind und neue Führungen bekommen. Aufgrund des Überziehungsmechanismus ELA der EZB, der gegenwärtig bei einem Maximum von 76,9 Mrd. Euro liegt, können sie sich über Wasser halten. Der Abzug von Geld, das ins Ausland gebracht oder unter die Matratze gelegt wird (allein im Januar und Februar 25 Mrd. Euro), hat zwar nachgelassen, doch ein Scheitern der Verhandlungen mit Brüssel würde wohl zu einem neuen Run auf die Banken und dann wahrscheinlich zum Zusammenbruch des Systems führen.
Auch wenn die 7,2 Mrd. aus dem «Rettungsschirm» endlich freigegeben würden, wäre das Land längst nicht über dem Berg: Es muss dieses Jahr 28 Mrd. Euro zurückzahlen, davon allein im Juni und Juli je 6,8 Mrd. und im August weitere 4,2 Mrd. (Spiegel, Nr.17/2015). Ohne einen scharfen Schuldenschnitt geht es nicht.

Der Artikel beruht auf Gesprächen mit Giorgos Chondros, Mitglied des ZK von SYRIZA, sowie Berichten in Le Monde.

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