von Giannis Milios
Die Zeit drängt: Eine Vereinbarung müsse «in den nächsten beiden Wochen unter Dach und Fach gebracht werden, bevor die Liquiditätsfrage der Regierung zur Fessel werde», äußerte Finanzminister Varoufakis Mitte Mai nach einem x-ten Treffen mit der Eurogruppe. Ob die Ende Mai fälligen Gehälter und Renten ausgezahlt werden konnten, stand bei Redaktionsschluss nicht fest.
Aber selbst wenn ein Zahlungsausfall im Mai noch verhindert werden konnte, sind die griechischen Zahlungsverpflichtungen für Juni und August (u.a. gegenüber dem IWF und der EZB) ohne die Auszahlung der 7,2 Mrd. Euro aus dem alten Memorandum nicht einzuhalten. Am 20.Juni aber laufen die Zahlungsvereinbarungen aus diesem Programm aus, und es ist nicht in Sicht, dass die Troika danach mehr anbieten würde als jetzt – nämlich verschleppen, verzögern, nicht zahlen.
Im Inland mehren sich die Stimmen, die einen Strategiewechsel fordern. Dabei wird der Hebel durchaus an unterschiedlichen Stellen angesetzt.
In den ersten beiden Monaten ihres Handelns scheint die Regierung der Linken und ihrer Verbündeten dazu zu neigen, sich zu einer populistischen Geschäftsführerin des Bestehenden zu wandeln – also der Herrschaft des Kapitals in Gestalt seiner globalen neoliberalen Form. Staatliche Akteure ebenso wie Stimmen des Volkes empfehlen Geduld und Warten auf Zeit und Geld – lasst uns warten bis Juni, bis «2016», usw. Was aber genau erwarten wir, was in diesem Zeitraum passiert?
Das griechische Volk und vor allem SYRIZA und ihre Anhänger befinden sich heute in einem Zustand bejubelter Passivität, während sie doch rebellieren sollten gegen soziale Ungleichheit, illegale Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und das Kapital (mit dem Symbol der «Schulden»).
Das Volk traut der Regierung keine mutigen Entscheidungen zu, mit dem Bestehenden zu brechen. Die Regierung ist auf europäischer Ebene isoliert, während die «Kontakte» mit China und Russland nur politische Exotik sind, die allenfalls fanatischen Nationalisten Hoffnung geben.
Die Regierung zieht sich zurück, unterschreibt die zweifelsohne verschlechterte Fortführung des Bestehenden mit unterschiedlichen Namen, feiert, dass es nicht zu den von Chardouvelis [dem Finanzminister der Regierung Samaras] angekündigten weiteren Sparmaßnahmen kam, und erwartet irgendein Licht am Ende des Tunnels. Sie will nicht bei den Thermopylen fallen und sucht verzweifelt die Aussicht auf einen triumphalen Sieg bei irgendeinem Salamis.**
Es sieht so aus, als fehle ihr eine Strategie, um die immense soziale Polarisierung zu bekämpfen, die aus der Kombination von Rezession, Arbeitslosigkeit und Armut resultiert. Was bedeutet dies nun für die Zukunft?
Die soziale Spaltung kann nicht verringert werden, solange «die Reichen nicht zahlen», d.h. solange der Sozialstaat und die öffentlichen Ausgaben nicht auf einem gerechten Steuersystem aufbauen, das dem Kapital einen größeren Teil der Lasten auferlegt.
Wird die Regierung in diesem internen Konflikt eine klare Position zugunsten der unteren Klassen einnehmen? Wenn nicht, bedeutet dies in der Praxis, dass die Armen auch weiterhin zu zahlen haben.
Waffenstillstand nach innen
Bis jetzt beruht die Identität der SYRIZA-Regierung im wesentlichen auf zweierlei: zum einen auf der «humanitären» Intervention, die der Regierung den Charakter eines sozialen Retters verleiht, wenn auch nur in einem ganz minimalistischen Rahmen. Sie ergreift Maßnahmen zur Unterstützung sozial schwacher Gruppen und vor allem der Hochverschuldeten. Sie reagiert auf einige extreme Formen staatlicher Brutalität, wie die Gefangenenlager für Flüchtlinge und einige der schlimmsten Gefängnisse. Aber sie hat zumindest bis jetzt weder ein radikales Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt, noch hat sie ihr ausdrückliches Versprechen einer radikalen Änderung des Steuersystems umgesetzt, das heute die unteren und mittleren Schichten belastet und das Großkapital auf vielfältige Weise schützt.
Das Problem ist nicht so sehr die «externe Front» (die Verhandlungen), sondern die «interne»: Die «soziale Rettung» wird so lange in der Schwebe bleiben, bis die Regierung die herrschende Klasse zwingt, deren Kosten zu tragen!
Das zweite Element, das die Identität der SYRIZA-Regierung kennzeichnet, ist ihr «nationaler» Charakter. Ständig sind patriotische Reden unterschiedlicher nationalistischer Intensität zu hören. Es werden Festreden gehalten und Märsche angestimmt, die «Deutschen» (in zweiter Linie die «Europäer») scheinen unsere Feinde zu sein, manchmal auf einem Niveau des Deliriums, das dem Unsinn der Bild-Zeitung Konkurrenz machen will. Nachdem einst die deutsche Fahne auf der Akropolis wehte, scheint es nun eine Lösung zu sein, die deutsche Flagge vom Athener Goethe-Institut herunterzuholen.
Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob dieser Nationalismus zu Fremdenfeindlichkeit führen wird. Doch während dieser Artikel geschrieben wird [März 2015], erklärt Minister Panousis, dass Griechenland keine weiteren Einwanderer ertragen kann. Es ist sicher, dass die Regierung keine Konfrontation mit den griechisch-christlichen Elementen des «tiefen Staates» (Militär, Polizei, Geheimdienste, orthodoxe Kirche) sucht. Streitkräfte und Polizei haben weiterhin Vorrang, und die Kirche braucht nichts zu fürchten.
Vor der Wahl zielte das verkündete «Ende des Memorandums» auf eine Umverteilung von Lasten, Erträgen und Macht. Die «Reichen» (die herrschende Klasse) müssten bezahlen: Es würde ein «Memorandum für das Kapital» geben. Von den ersten Momenten der Regierungsbildung an wurde jedoch klar, dass die sie bildende Allianz sich dem Motto der «Entwicklung» verschreiben würde, dem «ehrlichen Deal» mit Europa und (für die Romantischsten) der «Würde» und der Achtung der Legalität: Wir halten uns an «jedes Wort» der Verfassung und werden «unsere» Schulden in vollem Umfang zahlen…
Bis heute versteht die Regierung staatliches Handeln als neutral in dem Sinne, dass sie nicht die Umverteilung von Einkommen und politischer Macht fordert. Es fehlt nicht nur jeder Hinweis auf strategische Transformationen in den Klassenbeziehungen und Produktionsstrukturen, es herrschen auch darüber hinaus unklare Verhältnisse, die sich lediglich auf «Rechtmäßigkeit» und «Gerechtigkeit» berufen. So bleibt die linke Strategie verwirrend: Wo das Ziel die Würde aller und die Entwicklung aller ist, scheint der Staat ohne interne Frontstellung zu arbeiten.
Gibt es also wieder eine Regierung «aller Griechen»? Bereits im Jahr 2014 hatten wir festgestellt, dass es eine wesentliche Veränderung im Diskurs innerhalb der Organisation von SYRIZA gegeben hat, nämlich einen relativen Rückgang der Forderung nach «Umverteilung»‚ und dass die Forderung, dass die Reichen zahlen, zugunsten der Forderung nach «produktivem Wiederaufbau» verschoben wurde.
Diesen Wandel spiegelt auch der Versuch, die sozialen Allianzen um Teile der Geschäftswelt zu erweitern. Das allgemeine Bild von SYRIZA ist das eines politischen Gebildes, das die «Spielregeln» übernimmt.
Konfrontation nach außen
Das auffälligste Merkmal der aktuellen Situation ist, dass die griechische Regierung international isoliert ist, einsam innerhalb der Europäischen Union und ohne jede andere externe Unterstützung. Sie ist die einzige, die aus der Reihe tanzt, wie die Deutschen sagen würden. Dies stört das Gleichgewicht in Europa und führt zu extremen Reaktionen.
Während SYRIZA die Bestie fürchtet und die Bestie SYRIZA, ist eine Übereinkunft möglich, die ein halbwegs autonomes Handeln der Regierung mit externer Finanzierung erlaubt. Die rezessiven Tendenzen, die intensiven politischen Umbrüche in Spanien, der Ukrainekonflikt und die aus internen wahltaktischen Gründen unklare Haltung in Frankreich und Italien zeigen, dass es keine eindeutigen Bruchlinien gibt und dass die griechische Regierung auch in ihrer «Ausnahmesituation» Ziele erreichen kann.
Ein Großteil der Menschen in Griechenland scheint damit zufrieden (und die Nationalisten stolz), dass die Regierung die Entwicklung der europäischen Koexistenz als einen Konflikt «Griechenland – Europa» darstellt. Die Kontinuität des Staates auf der Basis eines «nationalen» Konzepts und mit der Unterstützung nationalistischer Kräfte beruht auf der Verbindung von «Nationalem» und «Humanitärem».
Es ist interessant zu sehen, wie viele Politiker der Nea Dimokratia SYRIZA bereits Lob gezollt haben. «Ich, der Rechte, habe Hochachtung, wie man beim Militär sagt, vor dem, was die linke Regierung von SYRIZA macht – schade für uns, ich hoffe, wünsche und bitte darum, dass auch wir das tun, was diese Menschen tun», erklärte beispielsweise Takis Baltakos, die rechte Hand des ehemaligen Premierministers Samaras am 6.Februar 2015.
Der Waffenstillstand an der Heimatfront (d.h. die Verwaltung des Bestehenden mit kleinen Verbesserungen innerhalb des hergestellten Klassengleichgewichts) bei gleichzeitiger Pflege einer kontrollierten Spannung mit den «Institutionen» kann erfolgreich sein, d.h. er kann politische Zeit «kaufen» – allerdings nur unter der Bedingung, dass Kämpfe außerhalb der Mechanismen nationalen Regierungshandelns unterbleiben.
Obwohl es viele wichtige Bewegungen der Selbstorganisation gibt, die wesentlich zum Sieg von SYRIZA beigetragen haben, so wurden sie doch nicht zu dem Kristallisationspunkt, der die Umsetzung der strategischen Ankündigungen vorantreiben könnte, um deretwillen SYRIZA gewählt wurde.
Aber auf diese Politisierung und Mobilisierung der Arbeitenden kommt es derzeit an. Wenn sie sich nicht verwirklichen lässt, dann wird Gorgopotamos weiterhin nur einen stolzen Gruß nach Alamana schicken.
Giannis Milios ist Professor für Ökonomie in Athen, Mitglied des ZK von SYRIZA und einer der Verfasser von deren Wirtschaftsprogramm. Er war bis vor kurzem ökonomischer Berater der Regierung. Der vorliegende Text wurde im März 2015 in Avgi, der Parteizeitung von SYRIZA, veröffentlicht (www.avgi.gr). Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: express, Nr.5, 2015 (www.express-afp.info).
*Die Überschrift bezieht sich auf eine Schlacht im griechischen Unabhängigkeitskrieg im April 1821 in Alamana: An einer Brücke nahe den Thermopylen leisteten die hoffnungslos unterlegenen griechischen Aufständischen den osmanischen Truppen lange Widerstand, bevor sie im Kampf starben. Die Schlacht gilt als Symbol für griechischen Widerstand und Märtyrertum. Beim Ort Gorgopotamos, nur wenige Kilometer von den Thermopylen entfernt, sprengten im November 1942 griechische Partisanen eine wichtige Brücke, die deutschen Besatzer erschossen daraufhin dort 16 Zivilisten. Die beiden Ereignisse werden in dem berühmten Lied des griechischen antifaschistischen Widerstands «St’armata» («Zu den Waffen») in Zusammenhang gebracht: «Gorgopotamos schickt Alamana seinen stolzen Gruß.»
**Im Jahr 480 v.u.Z. unterlagen die Griechen bei den Thermopylen gegen die Perser. Später im selben Jahr besiegte die griechische Flotte in der Seeschlacht von Salamis die persische.
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