Aufgaben und Möglichkeiten einer Partei der Zukunft im Europa von morgen
von Manuel Kellner
Vom 23. bis 26.April luden die Partei Die LINKE, ihre Bundestagsfraktion und die Rosa-Luxemburg-Stiftung zahlreiche Intellektuelle, Gewerkschafter, Aktive aus dem In- und Ausland zu einer «Linken Woche der Zukunft». Die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger präsentierten bei dieser Gelegenheit ein Strategiepapier, das auch außerhalb der Partei viel Beachtung fand.
Wohltuend erfrischend ist dieses Papier im Vergleich zu den vielen offiziell verabschiedeten Texten der Partei, denen man anmerkt, dass sie aus Textbausteinen zusammengestoppelt und wie bei Tarifverhandlungen Satz für Satz ausgehandelt worden sind.
Tatsächlich wirkt es authentisch, man spürt eine bestimmte Leidenschaft. Hier ist nicht die Rede von vagen Hoffnungen, irgendwann einmal Teil einer Regierung werden zu können, die entweder sowieso nicht kommt oder dieselbe prokapitalistische Politik macht wie SPD und Grüne. Vielmehr geht es um solidarische und grenzüberschreitende Bewegung von unten, um Klassenkampf, um die Durchsetzung der Interessen der Ausgebeuteten, Unterdrückten und Ausgegrenzten, um die Entmachtung des Großkapitals, des reichen einen Prozent der Bevölkerung, um die Rolle einer linken Partei zur Förderung emanzipationsorientierter Bewegungen, um konkrete Ziele, die schließlich in eine völlige Umwälzung der Verhältnisse münden, in eine Gesellschaft mit entwickelter Demokratie, in der die Bedürfnisse der Menschen und die ökologische Verantwortung im Mittelpunkt steht.
Zwischen den beiden Polen der linken Strategiedebatte, revolutionäre oder reformistische Strategie, verorten sich die beiden Parteivorsitzenden wie folgt:
«Die Herausforderung besteht ... darin, die chinesische Mauer zwischen isolierten Tageskämpfen einerseits und weitgespannten Zukunftsvorstellungen andererseits zu durchbrechen.
Der Schlüssel dazu ist, immer mehr Menschen in immer mehr Bereichen dazu zu befähigen, selbst für ihre Interessen einzutreten. Das ist kein abstraktes Fernziel, sondern etwas, das im Heute beginnt. Die folgenden, miteinander verbundenen Vorschläge sind ... nur das Einfache, das heute noch schwer zu machen scheint. Sie folgen der schlichten Einsicht, dass die Demokratie nur noch im Vorwärtsgang, also in der Demokratisierung des ganzen gesellschaftlichen Lebens, verteidigt werden kann. Damit wird ein altes Versprechen vor dem Hintergrund der neuen Erfahrungen aktualisiert: Ein ernstgemeinter Humanismus braucht seine Entsprechung in einem sozialen Universalismus, also die Sicherstellung der ‹sozialen Garantien des Lebens› (Rosa Luxemburg) für alle, ganz unabhängig vom bisherigen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt. Ein ernst gemeinter Humanismus braucht zudem eine Demokratie, die Freiheit und Gleichheit als Bedingungsverhältnis begreift. Es geht darum, das vom Neoliberalismus pervertierte Freiheitsversprechen gegen seine aktuelle Verfallsform zu wenden. Die kommende Demokratie ist daher kein fertiger Zustand, sondern ein offener Prozess. Ein Prozess, der die Fenster öffnen kann für einen freien, grünen, feministischen und lustvollen Sozialismus, einen Sozialismus 2.0. Die Chancen dazu sind auf der Grundlage des aktuellen Wissensstandes und der technologischen Entwicklungen so gut wie nie; die Gefahr sie zu verpassen aber auch...
Kern eines solchen Projektes ist immer noch die Umwälzung der herrschenden Produktions-, Reproduktions- und Eigentumsverhältnisse und die Verwandlung der Produktivkräfte und der technologischen Innovation in Mittel für die kollektive Selbstbestimmung: die Verfügung der Menschen über die Bedingungen, in denen sie leben und arbeiten. Es geht darum, die Demokratie aus ihrer Begrenzung auf das Parlament zu befreien, indem alle gesellschaftlichen Bereiche demokratisch durch die Menschen organisiert werden.
Insofern verstehen wir den neuen Sozialismus auch als eine kulturelle Revolution. Als ein völlig neues Wohlstandsmodell, in dem lustvolle Kooperation und Gestaltung, mehr selbstbestimmt verfügbare Zeit, die Entfaltung des Reichtums der Möglichkeiten und die Vielfalt des Arbeitens, Lebens und Liebens den privaten Warenkonsum als Sinnstiftung ersetzen.»
Das ist linker Reformismus im besten Sinne das Wortes, ganz im Gegensatz zur Politik der sogenannten «Reformer» in der Partei, die den kapitalistischen Verhältnissen nicht an den Kragen wollen mit der Begründung, die Zeit sei dafür noch lange nicht reif, und daher bereit sind, alle neoliberalen Konterreformen mitzutragen, wenn man sie nur mitregieren lässt. Es ist im Grunde die Strategie der Übergangsforderungen, wie sie vom III. und IV.Kongress der Kommunistischen Internationale 1921 und 1922 entwickelt wurde.
Diesen ideengeschichtlichen Bezug nennen Kipping und Riexinger freilich nicht. Vielleicht tun sie es deshalb nicht, weil viele diese Begrifflichkeit immer noch – ideengeschichtlich falsch – als «trotzkistische Spezialität» einordnen. Vielleicht aber doch eher, weil Kipping und Riexinger die Frage des Bruchs mit den bestehenden Verhältnissen eben doch anders sehen als etwa Rosa Luxemburg und andere Verfechter einer «revolutionären Realpolitik».
Im Bild einer umfassenden «Demokratisierung» aller Lebensbereiche, einschließlich der Wirtschaft, droht aus dem Blickfeld zu geraten, dass ein hohes Niveau von Eigenaktivität und Selbstorganisation der abhängig Beschäftigten bzw. der «kapitalfreien» großen Mehrheit der Bevölkerung zur Entstehung potenziell alternativer, demokratisch legitimierter Machtorgane führt, die berufen sind, an die Stelle der heute bestehenden staatlichen Institutionen zu treten.
In dem Papier der beiden Parteivorsitzenden zeigt sich deshalb immer wieder eine gewisse Ambivalenz, etwa wenn sie schreiben, linke Politik dürfe sich nicht auf Stellvertreterpolitik reduzieren. Mandate rückhaltlos zur Förderung der Mobilisierung und Selbstorganisation von unten nutzen hieße aber, mit der Stellvertreterpolitik zu brechen.
www.katja-kipping.de/de/article/ 887.die-kommende-demokratie- sozialismus-2-0.html.