von Manuel Kellner
Im Fernsehen, in den Tageszeitungen gab es immer wieder Berichte über den Krieg in Vietnam. Wir, drei 16- bis 17jährige Jungs in Brüssel, die sich seit der zweiten Jahreshälfte 1971 für kommunistische Revolutionäre hielten, und ein maoistischer Klassenkamerad, hatten Zugang zu den Gegeninformationen des Vietcong. Eines Tages wird Alarm geschlagen: Die fortgesetzte Bombardierung von Hanoi und Haiphong könnte die Dämme zerstören, mit einer unabsehbaren Zahl von Opfern.
Das rüttelt mich auf. Mir gefällt das beeindruckende Fremdwort «Genozid» für «Völkermord». Ich verwende es für mein erstes Flugblatt, getippt auf der Reiseschreibmaschine meines Vaters, kopiert auf einer der damals nicht allzu zahlreichen öffentlich nutzbaren Kopiermaschinen. «Es droht ein Genozid!» Es folgt der Aufruf, ein Vietnamkomitee an unserer Schule zu gründen, in unfreiwillig komischer Alliteration: «Kommt zum Komitee!» Rasche und diskrete Verteilaktion in der Schule.
Sommerfest in der Deutschen Schule in Brüssel. Wir schreiben das Jahr 1972. Ein Film wird gezeigt über den Krieg in Vietnam. Mit John Wayne. Wie die schlitzäugigen hinterhältigen Kommunisten gottlob abgeschossen werden. Wir sind schockiert.
Es muss auch die andere Seite gehört werden! Wir verlangen, einen Film des Presse- und Informationsbüros der vietnamesischen Nationalen Befreiungsfront (FNL) zeigen zu dürfen. Unser Schuldirektor, Werner Haubrich, liberaler Anhänger von Walter Scheel, will sich das vorher ansehen und geht mit uns zum Informationsbüro. Rattern der Flugabwehrgeschütze. Junge drahtige vietnamesische Männer geben in heroischer Pose mit emporgerecktem Arm das Kommando. Der große B52-Bomber trudelt zu Boden. Momente, bei denen in den Vorführsälen Beifall geklatscht wird.
Der liberale Schuldirektor wird kategorisch: Das ist Propaganda! Das wird an unserer Schule nicht gezeigt! Und der Film mit John Wayne, war das etwa keine Propaganda? Doch der Direktor lässt weder diesen Einwand noch das gelehrt klingende «Audiatur et altera pars»* gelten. Wir sind empört und benennen unser Vietnamkomitee in Aktionskomitee um. Wir wollen gegen die Fiktion einer Meinungs- und Informationsfreiheit angehen, deren angebliche Pluralität nur Meinungen und Informationen zulässt, die den Herrschenden in den Kram passen.
Unter uns geben wir aber zu, dass auch wir den Film nicht mögen. Wir können uns nicht vorstellen, dass wir damit bis dahin gleichgültige oder gegen den Vietcong eingenommene Mitschüler umstimmen können. Wir haben das Einverständnis eines linkssozialdemokratischen Lehrers, dass ein Film der Informationsstelle Vietnam in den Klassen heimlich vorgeführt werden kann, in denen er Gemeinschaftskunde unterrichtet. Gisela und Ernest Mandel von der IV.Internationale geben uns, wie so oft, guten Rat: «Zeigt doch den Film La bataille sanitaire!» (In etwa: «Der Kampf um die Gesundheitsversorgung».)
Dieser Film gefällt uns sehr gut und hat auch später viele der Schülerinnen und Schüler beeindruckt. Diese Höhlengänge unter der Erde, in denen die Verletzten versorgt werden. Diese improvisierten Operationssäle, beleuchtet von Fahrradlampen, deren Dynamos beharrlich pedaletretend angetrieben werden. Dieser Rücken voller Splitter, die einer nach dem anderen bei Flackerlicht in mühevoller Kleinarbeit entfernt werden. Diese perfekte kleine Welt des Überlebens, um einem übermächtigen Feind zu trotzen – ohne jede heroische Pose.
*Man höre auch die andere Seite.
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