Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2015
Der Versuch eines Neuanfangs im Widerstand und nach dem Krieg
von Jörg Wollenberg*

13 Jahre nach seiner Flucht aus Deutschland kehrte der damals 30jährige Schriftsteller und Maler Peter Weiss von Juni bis August 1947 als Reporter der schwedischen Zeitung Stockholms Tidningen nach Berlin zurück. Der unzeitgemäße Heimatlose kommentiert seine Einschätzung der politischen Situation von Juni bis August 1947 in der Retroperspektive folgendermaßen: «Nachdem der Krieg zu Ende war, hatten wir gehofft: Jetzt kommt eine neue Welt. Dieser Tag im Mai 1945 war ein Freudentaumel sondergleichen ... Wir gingen wieder mit neuen Hoffnungen an die Arbeit. Erst 1947 in Berlin, als gerade der Kalte Krieg begann, der Kapitalismus nicht abgeschafft war, wurde mir auch politisch zum ersten Mal ganz bewusst, in welche Welt wir da wieder hineingeraten sind.» Die Enttäuschung darüber, dass kein wirklicher Neubeginn nach 1945 zustande kam, dass die Hoffnung auf die Einheit der Arbeiterbewegung im geeinten Deutschland, geboren im Exil, im Konzentrationslager und im Widerstand, sich so schnell zerschlagen sollte und die Siegermächte Deutschland nach ihren Vorstellungen aufteilten, verarbeitete Peter Weiss später in Die Ästhetik des Widerstands eindringlicher als so mancher Historiker.

Am 11.Juni 1945 traf ein renommierter Vertreter des bürgerlichen Lagers als Repräsentant des deutschen Exils in amerikanischer Uniform in Weimar ein. Es handelte sich um den Schriftsteller Klaus Mann. Der ehemalige Mitunterzeichner des Aufrufes der Deutschen Volksfront in Paris von 1936 besuchte im Rahmen seiner Erkundungsreise für die US-Zeitungen das Goethehaus und das Nietzsche-Archiv. Am nächsten Tag stand eine Begegnung mit dem Anti-Nazi-Komitee in Weimar auf dem Programm. Anschließend fuhr der älteste Sohn von Thomas Mann mit dem damaligen, von der US-Regierung eingesetzten Ministerpräsidenten Thüringens, Hermann Brill, nach Buchenwald.
Es ist davon auszugehen, dass Klaus Mann damals nicht wusste, dass Hermann Louis Brill zu der gleichen Zeit in Berlin die illegale Widerstandsgruppe «Deutsche Volksfront» gegründet hatte, in der er, Mann, mit zahlreichen Mitgliedern des deutschen Exils, darunter sein Onkel Heinrich Mann, Willy Brandt und Walter Ulbricht, den Aufruf der Deutschen Volksfront in Paris am 2.Februar 1936 unterzeichnete.
Erinnern wir deshalb noch einmal kurz an die Volksfrontbündnisse und ihre Vorstellung einer Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg: Trotz Blockaden und Ausgrenzungen – auch gegenüber Widerstandsgruppen aus dem «Reich» – war es nach 1935 unter den Exil-Deutschen zu zahlreichen «Grenzüberschreitungen» gekommen. Auf dem letztlich gescheiterten Weg von der «Volksfront der Not» zur «Verwirklichung einer großen antifaschistischen Volksfront Europas» (Langkau-Alex) entstand ein kompliziertes Geflecht von unterschiedlichen Initiativen, die zum Lutetia-Comité führten und im Pariser Lutetia-Kreis unter Heinrich Manns Leitung kulminierten. Die Moskauer Prozesse und der umstrittene Rückzug von KPD und SAP aus dem Kreis beendeten dieses Bündnis in Frankreich innerhalb eines Jahres. Ausgerechnet in dieser scheinbar ausweglosen, die Linke erneut spaltenden Situation rief eine Berliner Gruppe von Sozialisten im Dezember 1936 dazu auf, «die Gefahr eines neuen Weltkrieges mit allen Mitteln zu bekämpfen» und die «demokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien und Gruppen Deutschlands zu einer Deutschen Volksfront» zu vereinen.
Die Berliner Gruppe um den Verleger Otto Brass und den früheren Reichstagsabgeordneten Hermann Brill bestand gegenüber der SOPADE (dem SPD-Vorstand im Exil) auf ihrer Unabhängigkeit. Dasselbe galt für das ZK der KPD, mit deren Mitgliedern im Berliner KPD-Bezirk um Anton Ackermann sie in Verbindung traten. Sie bemängelten die «Emigrantenluft, die Erlebnisferne, die künstliche Konstruktion» des Pariser Aufrufs. Vergeblich baten sie Mitte Januar 1937 das Prager SOPADE-Büro um Unterstützung ihres Aufrufs.

Das Programm
Die «Begründung des deutschen Volksfront-Programms» ging 1936 davon aus, dass das soziale und politische System der deutschen Gesellschaft gänzlich zerstört sei. Was von den alten Parteien noch vorhanden sei, habe mit den früheren Organisationen nichts zu tun. Niemand, der von der früheren SPD jetzt noch aktiv sei, denke an die Wiederherstellung einer Partei der parlamentarischen und sozialen Reform, und alle jetzt noch aktiven Kommunisten wollten kein Wiederaufleben des Bruderkampfes und des Putschismus. Eine Volksfront jenseits der auch ideologisch überlebten Parteien werde deshalb das Bündnis mit dem Bürgertum erschweren.
Oppositionellen in monarchischen Kreisen, im ehemaligen Stahlhelm oder in Zentrumsgruppen wurde grundsätzlich die Fähigkeit abgesprochen, eventuell geeignete Bürgerliche für eine solche Volksfront zu repräsentieren. Und alles Pro-Hitlerische sei von vornherein fernzuhalten. Dazu zählten die der NSDAP angeschlossenen Verbände, der Staatsapparat, die Finanzoligarchie der Groß- und Privatbanken, der Schwerindustrie, ein Teil des Adels und der Wehrmacht. «Mit der Einbeziehung des Großgrundbesitzes und der Verstaatlichung der Banken (Frhr. v.Schroeder, Schacht, Reinhardt) und der Schwerindustrie (Fritz Thyssen), die Hitler finanziell den Weg an die Macht geöffnet haben, reißt man die Wurzeln der Diktatur aus.»
Das Rekrutierungsfeld einer Volksfront sei auch deshalb eingeschränkt, weil man unter den Jugendlichen lediglich auf Menschen «zwischen 30 und 50 Jahren» zurückgreifen könne. Die Jüngeren seien vom Nationalsozialismus vergiftet, die Älteren von den überkommenen Parteiideologien geprägt. Von ungeheurer Problematik sei auch der Stand der Frauenfrage. Um Missverständnisse zu verhindern, fügte Brill 1947 in Bremen hinzu: «Für die Schaffung einer neuen Lebensordnung ist die frühzeitige und richtige Eingliederung der Jugend und der Frauen in das gesellschaftliche Leben eines der größten Probleme ... Eine Politik, die ohne die Frauen gemacht wird, ist genauso unsinnig wie eine, die versuchen würde, gegen die Frauen zu arbeiten.»
Und last but not least: In der «Begründung» wurde ausdrücklich auf die langjährigen Genossen und Gewerkschafter verzichtet, die ihre frühere Tätigkeit in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) fortgesetzt hatten.

Das Buchenwalder Manifest
Die Widerstandsgruppe wurde von Brill bis zu seiner Verhaftung am 22.September 1938 geleitet. Sie verstand sich mit seinen Worten als «denkender Teil des Proletariats», als «neue kämpfende politische Klasse», die sich gegen alte politische Strukturen als Einheitsfront derjenigen definierte, die «unter der Diktatur anständig und vernünftig geblieben sind». Das bedeutete auch eine Auseinandersetzung mit dem «geraden Weg der SPD in die Kapitulation». Eine Partei, so Brill, die auf ihrer letzten Reichskonferenz vom 26.April 1933 immer noch der «Nation und dem Sozialismus» dienen wollte und deshalb am 17.Mai 1933 dem außenpolitischen Programm Hitlers zustimmte, der könne er nicht mehr angehören, zumal die SPD Ende Mai 1933 nicht einmal zur Selbstauflösung fähig war. «Ich bin und bleibe Sozialist. Sozialdemokrat bin ich für alle Zeiten gewesen», lautete sein am 31.Januar 1934 formuliertes Bekenntnis.
Hermann Brill saß, wie schon nach 1918, erneut zwischen den Stühlen von SPD und KPD. Er setzte fortan im Widerstand und, nach seiner Verhaftung, im KZ Buchenwald (Häftlingsnummer 21358) ebenso wie nach der Befreiung im April 1945 auf die Gründung einer neuen geeinten Arbeiterpartei jenseits der alten SPD und KPD. Beide Parteien hätten sich nach seiner Vorstellung wegen ihres Versagens vor und im Faschismus aufzulösen.
Im KZ-Buchenwald konnte Brill als politisch prominenter Häftling deshalb überleben, weil ihm KPD-Häftlinge dabei halfen, sich als Sanitäter in der Typhus-Quarantäne-Baracke zu verbergen. Federführend gründete er im Februar 1944 mit Sozialdemokraten (Ernst Thape, Benedikt Kautsky), Kommunisten (Walter Wolf) und Bürgerlichen (Werner Hilpert für die christlichen Demokraten) ein Volksfront-Komitee, das «sich nicht auf die deutschen Gefangenen beschränkte», weil «es uns insbesondere gelang, die Zustimmung der französischen Sozialisten (Eugène Thomas) und Kommunisten (Marcel Paul) zu der Plattform vom 1.Mai 1944 herbeizuführen». Das von Brill geleitete Volksfront-Komitee legte nach der Befreiung am 13.April 1945 das Buchenwalder Manifest «Für Frieden, Freiheit und Sozialismus» vor und veröffentlichte am 19.April 1945 Entschließungen zur demokratischen Neuordnung Deutschlands. Noch im Lager von Buchenwald wurden die Entschließungen «von der ersten Mitgliederversammlung der KPD wie auch von dem Manifest der demokratischen Sozialisten voll inhaltlich aufgenommen».
Der von Hermann Brill am 8.Mai 1945 ausgerufene und am 8.Juli 1945 in Weimar gegründete «Bund demokratischer Sozialisten» (BdS) sollte als weiterer Schritt auf dem schwierigen Weg zu diesem Ziel dienen. Brill scheiterte bald darauf mit seinen Einheitsstreben an dem von Walter Ulbricht geleiteten ZK der KPD. Anfang August 1945 wurde die Bezeichnung Bund demokratischer Sozialisten von den Sowjets verboten, «so dass wir uns SPD nennen müssen». Dennoch plädierte er weiter für Fraktionsgemeinschaften im Block der antifaschistischen Parteien.
Der später in der SBZ von oben befohlenen Einigung von SPD und KPD zur SED folgte er im Gegensatz zu Otto Brass nicht, der nach 1945 zu den Gründern des FDGB zählte. Denn, so Brill, «nicht eine Vereinigung von SPD und KPD, sondern einen neuen Organisationstyp wollen wir». Er verließ Anfang 1946 den SED-Ausschuss und kehrte nach seiner Flucht aus Thüringen über (West-)Berlin aus pragmatischen Gründen zum linken Flügel der hessischen Sozialdemokratie zurück. Er blieb jedoch weitgehend heimatlos in der SPD Kurt Schumachers mit ihrem doktrinären Antikommunismus; ein Rigorismus, der dem von Walter Ulbricht, seinem alten Gegner aus der KPD schon in den Weimarer Jahren, kaum nachstand.

*Jörg Wollenberg ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte der Arbeiter und ihrer Organisationen und em. Hochschullehrer für politische Bildung.

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