von Angela Klein
Birlikte heißt Zusammenstehen. Es ist ein honoriges Bündnis, dem u.a. der Kölner antirassistische Kulturverein «Arsch huh», die Stadt und das Schauspiel Köln sowie der Interessenverband der Geschäftsleute IG Keupstraße angehören.
Birlikte ist entstanden aus der, ja man kann sagen, Bewegung, die sich seit zwei Jahren um die Opfer des Nagelbombenattentats des NSU in der Keupstraße in Köln-Mülheim bildet. Zum zweitenmal seitdem im November 2011 aufgeflogen ist, dass der NSU neun Morde an vorwiegend türkischstämmigen Mitbürgern zu verantworten hat, fand nun Mitte Juni, wenige Tage nach dem Gedenken an das Attentat, wieder ein großes Straßenfest am Ort des Geschehens statt. Viel Multikulti, sicher, auch unweigerlich Kölsches am Rande, aber auch wertvolle Einblicke in die Gemütsverfassung der Anwohner und in die vielen offenen Fragen.
Die «Initiative Keupstraße ist überall» bildet den politischen Kern dieser Bewegung. Es gibt sie seit zwei Jahren, sie wird vorwiegend von Einzelpersonen, etliche davon mit linksradikalem Hintergrund, getragen und ihr größtes Verdienst es, nach diesem traumatischen Erlebnis und nach neun Jahren seines kollektiven Beschweigens eine Brücke zwischen der türkischsprachigen und der deutschen Bevölkerung geschlagen zu haben.
Es begann damit, dass ein paar Leute sich in den Kopf gesetzt hatten, die Personen, die als Zeugen im NSU-Prozess aussagen sollten, dorthin zu begleiten und Öffentlichkeit zu schaffen für «die Perspektive der Opfer». Die standen dem Vorhaben anfänglich äußerst zurückhaltend gegenüber: Was wollen die auf einmal, nachdem sich neun Jahre niemand um uns gekümmert hat? Nur wenige waren überhaupt bereit, mit der Initiative Kontakt aufzunehmen und sich in die Planungen der Fahrt nach München einzubringen.
Heute, eineinhalb Jahre danach, haben sie sich geöffnet, können sie – nicht alle, aber doch ein großer Teil – reden und treten mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit.
Geschichten
«Heute gehe ich leichter damit um. Ich halte auch nicht mehr nach jedem Fahrrad Ausschau.» Im Hinterzimmer eines türkischen Internet-Cafés organisiert die Initiative Keupstraße den ganzen Nachmittag lang politische Veranstaltungen der unterschiedlichsten Art zusammen mit den Betroffenen. Das alles beherrschende Thema ist «der Anschlag nach dem Anschlag». Zu Tode war in der Keupstraße zum Glück niemand gekommen, das eigentliche Trauma ist die Behandlung der zum Teil schwerverletzten Opfer und Betroffenen durch die Behörden und die Polizei nach dem Anschlag. Das Trauma hat sich bis heute nicht aufgelöst und die Anwohner der Keupstraße haben nicht einen Funken Hoffnung, dass der Mammutprozess in München etwas dazu beitragen könnte.
Obgleich elf Jahre zurückliegend, klingen die Geschichten immer noch unglaublich. Immer wieder mussten sie zum Verhör, jedesmal aufs neue wurden Fingerabdrücke und Speichelprobe genommen, als sei es das erste Mal. Und es wurden immer wieder die gleichen Fragen gestellt: «Du weißt, wer das war.» «Ihr habt alle Angst zuzugeben, dass es jemand aus der Keupstraße war.» Das sind Überfallmethoden, die man aus dem Sonntagabendkrimi kennt. Die stupide Wiederholung einer entwürdigenden Behandlung erinnert sogar an Foltermethoden. Im Gegensatz zu den Tatortpolizisten waren die Ermittlungsbehörden an einer Aufklärung aber nicht interessiert. Und das ist bis heute so: Jeden Versuch, die Hintergründe der Mordserie aufzudecken, schlägt die Bundesanwaltschaft mit dem Argument nieder, im Prozess gehe es ausschließlich um die Schuld des «Trios».
Es gab sogar Bestechungsversuche: Ein Betroffener berichtete, beim Verhör habe man ihm einen Zettel hingehalten, darauf stand: «80000». Mündlich die Aufforderung: «Nennen Sie Namen.»
Einer hat den Mut und sagt der Polizei frei heraus seine Meinung: «Das waren Neonazis.» Da richtet sich der Polizist drohend vor ihm auf und legt den Finger an den Mund: «Sagen Sie das nie wieder!» Einem anderen rät der eigene Anwalt, er soll vor Gericht nicht sagen, dass es Nazis waren. Über ein halbes Jahr lang ist ihm ein Auto zwei-, dreimal in der Woche abends nach Hause gefolgt und dort stehengeblieben.
Der Dienst über dem Recht
Die Angehörigen von Frau Kiesewetter, der ermordeten Polizistin aus Heilbronn, erfuhren eine andere Behandlung, einfühlend und beratend, wie es sich gehört: mit rechtlichen Ratgebern, Adressen für psychologische Hilfe und allem drum und dran. Anders die Opfer des Attentats in der Keupstraße: Sie wurden behandelt wie Verbrecher. Wegen seiner Verletzungen musste A.O. ins Krankenhaus; kaum ist er entlassen, nimmt ihn die Polizei mit aufs Revier, er muss sich nackt ausziehen und wird stundenlang in eine Zelle gesperrt.
«Erschreckend ist, dass es bei allen so war, nicht nur in Köln, überall.» Die Rechtsanwältin, die eine Nebenklägerin aus Nürnberg vertritt, berichtet: Ihr Mann hat den Anschlag nicht überlebt, sie wird an sein Sterbebett gerufen, doch ein Abschied ist ihr nicht vergönnt, vom Sterbebett weg wird sie zur Vernehmung geschleppt.
Warum ist das so? Das ist die Frage, die bis heute alle umtreibt und auf die sie keine Antwort finden. «Der Dramaturg vom Schauspiel war der erste, der mir zugehört hat.» Schließlich bleibt ein Verdacht hängen: Irgendwelche Leute sollen geschützt werden. Und die Angst: Leben wir noch in einem Rechtsstaat, wenn so etwas möglich ist?
Je länger man bohrt, desto mehr bleibt man an der Rolle des Verfassungsschutzes hängen. Trotz dessen eklatanten Versagens und Fehlverhaltens hat aber von den V-Leuten, wie auch von den ermittelnden Polizisten, niemand Konsequenzen zu befürchten. Seit Beginn des Prozesses fordern die Rechtsanwälte der Nebenkläger Einsicht in die VS-Akten. Sie könnten vielen Zeugen helfen, ihr schwaches Gedächtnis aufzufrischen. Vergeblich. «Der NSU ist nur durch einen Zufall aufgeflogen, obwohl der Verfassungsschutz alles wusste. In der privaten Wirtschaft wäre so jemand längst entlassen worden.»
Dafür sind inzwischen fünf wichtige Zeugen verschwunden, teils durch «natürlichen Tod», teils durch Selbstmord, darunter V-Mann Corelli, Florian Heilig und dessen Freundin, Melisa M.
Für die Politik aber ist der Geheimdienst heilig. Trotz seiner widerrechtlichen Methoden besteht sie auf Geheimhaltung und stattet ihn mit noch mehr Befugnissen und Geld aus. Wenn es einen «Staat im Staat» in Deutschland noch nicht zu geben scheint, hier wird er herangezüchtet: das Feld der absoluten Willkür jenseits aller Gesetze. Wahrlich, Keupstraße ist überall.
«Der Staat übernimmt seine Verantwortung nicht», sagt einer der Betroffenen am Ende einer der Veranstaltungen. «Die Anschläge betreffen uns alle. Es kommt darauf an, wie wir zusammenstehen und für Aufklärung sorgen.» Es ist ein weiter Weg von der Opferrolle hin zu diesem Perspektivwechsel.
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