von Paul B. Kleiser
Anders als der Buchtitel vermuten lässt, behandelt der vom früheren deutschen Botschafter in Athen, Wolfgang Schultheiß (2005–2010), und dem früheren Kulturattaché und späteren Botschafter in Marokko, Ulf-Dieter Klemm, herausgegebene Sammelband keineswegs nur die Wirtschaftskrise in Hellas seit dem Jahr 2009, sondern geht auch auf geschichtliche Entwicklungen seit der Unabhängigkeit des Landes 1830 bis in die jüngste Zeit ein. Außerdem kommen das Verhältnis zu Deutschland, die Frage nach den Verbrechen der Wehrmacht und den Reparationen, vor allem aber auch die Kampagne diverser Presseorgane über die «Pleitegriechen» ausführlich zur Sprache.
Über 30 Autorinnen und Autoren, mehrheitlich Griechinnen oder Griechen, beschreiben in gut zwei dutzend Artikeln wichtige Aspekte von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sowie die Beziehungen Griechenlands zu den umliegenden Staaten und zu Deutschland. Das Buch weist jedoch auch zwei wichtige Lücken auf, nämlich die Zusammensetzung und Rolle der griechischen Bourgeoisie, insbesondere der Reeder, sowie Bedeutung und Reichtum der orthodoxen Kirche. Das sind die beiden Tabuthemen der Griechenland-Diskurse, nicht nur in Hellas.
Ein starkes Augenmerk liegt hingegen auf den Themen Staatsverständnis, Klientelismus und Korruption, zwei in der griechischen Gesellschaft ohne Zweifel weit verbreitete Übel, die jedoch im Hinblick auf die konkrete Krise ab 2009 nur geringe Erklärungskraft besitzen, da sie ja schon lange vorhanden sind. Als Griechenland im Mai 2010 das erste Sparprogramm der Troika akzeptieren musste, sprach man noch von einem Sonderfall, bald zeigte sich jedoch, dass die gesamte Peripherie der EU (südliche Länder, Irland, Slowenien und Kroatien, Baltikum) betroffen war, die Krise aber vor allem für die Länder der Euro-Zone drastische Auswirkungen hatte, weil ihnen der Weg in die Währungsabwertung versperrt war und sie daher zu Maßnahmen der «inneren Abwertung» (Kürzung von Löhnen und Sozialausgaben) gedrängt wurden.
Im Hinblick auf die Krisenanalyse hat mir der Beitrag von Manolis Galenianos (Professor für Wirtschaftswissenschaften in London) am besten gefallen. Er stellt die drei vorherrschenden Muster der Krisenerklärung in Frage: dass die früheren griechischen Regierungen für die Krise selbst verantwortlich seien, weil sie in Sachen Schulden eine verantwortungslose Politik betrieben hätten; dass die Griechen wieder auf den Wachstumspfad zurückkehren könnten, wenn sie nur genügend sparten; dass die Eurokrise vermieden worden wäre, hätte man Griechenland nur nicht in den Euro aufgenommen. Im Wahlkampf 2013 hat Angela Merkel in ihren Auftritten diese Themen immer wieder variiert. Galenianos vergleicht nun Griechenland mit den anderen Krisenländern der Eurozone Irland, Portugal und Spanien, die ebenfalls große Handelsbilanzdefizite und eine Zunahme der Außenverschuldung aufwiesen.
Er kommt zum Schluss, dass für die Krise die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und nicht die Haushaltsdefizite verantwortlich waren, denn im Fall von Spanien und Irland spielten die Defizite, die damals deutlich unter dem deutschen Niveau lagen, überhaupt keine Rolle.
Die Einführung des Euro führte zu einem Zustrom von Kapital aus den Kern- in die Peripherieländer. Doch war dies nicht mit einer Zunahme der Arbeitsproduktivität verbunden, weil das Kapital in starkem Ausmaß im Immobiliensektor eingesetzt wurde statt in neue Industrien oder Dienstleistungen.
Da die verbreitete Krisenerklärung wenig zutrifft, sind auch die angepriesenen Remeduren wenig glaubwürdig. Kai Carstensen, über einige Jahre am Münchner ifo-Institut die rechte Hand von Hans Werner Sinn, schreibt im Gefolge seines Meisters, ein Grexit mit Wiedereinführung der Drachme würde Exporte und Dienstleistungen verbilligen, die Wettbewerbsposition im Tourismus verbessern sowie die Landwirtschaft auf Vordermann bringen. Kostas Lapavitsas hat ähnliche Töne angeschlagen. Dabei wird übersehen, dass die Reichen ihr Geld längst ins Ausland gebracht haben, Griechenland im Tourismus (trotz oder wegen des Euros) sehr erfolgreich ist und der dynamische Teil der griechischen Wirtschaft (etwa die Pharmaindustrie) stark mit anderen EU-Ländern verwoben ist.
In einem überzeugenden Beitrag über die EU betont Andreas Stergiou, Assistent an der Uni von Kreta, dass die griechische Wirtschaft in einen modernen und einen archaischen Teil zerfällt; letzterer war auch schon zu Zeiten der Drachme in der EU (EWG) nicht wettbewerbsfähig. Eine Währungsumstellung würde – abgesehen von der Rückkehr einer starken Inflation – Importe häufig unerschwinglich machen und insgesamt zu einer massiven weiteren Verarmung der Bevölkerung führen. Außerdem würden sich die Schulden, die ja zumeist in Euro zu bezahlen sind, dramatisch erhöhen. Das Land wäre wohl über Nacht zahlungsunfähig; die politischen Folgen bis hin zu einer Militär- oder faschistischen Diktatur wären unberechenbar.
Für alle an Griechenland Interessierten bietet der Reader ein breites Spektrum an Themen mit einer Fülle von Informationen und Literaturhinweisen.
* Frankfurt a.M., New York: Campus 2015. 546 S., 29,95 Euro
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