Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2015

Eine militante Untersuchung über selbstverwaltete Betriebe in Argentinien
von Jochen Gester

Unter dem Titel „Wir übernehmen“ gibt es ein neues Buch im Mandelbaum-Verlag Wien. Bei diesem kleinen feinen Verlag hat die Analyse zeitgenössicher Arbeiter/innenbewegungen einen festen Platz. Besetzt wird er vor allem durch linke Aktivist/innen in operaistischer Tradition, die es verstehen ihre sozialwissenschaftliche Ausbildung mit profunden Kenntnissen der Arbeitswelt zu verbinden. Dies gilt für den Autor Juan Pablo Hudson ebenso wie für Alix Arnold, die sein Buch zusammen mit Gabriele Schwab ins Deutsche übersetzt hat. Alix verfolgte auch über mehrere Wochen die Debatten der Zanon-Belegschaft nach der Betriebsübernahme und war an der Erstellung eines Dokumentarfilms zu Zanon maßgeblich beteiligt.

„Wir übernehmen“ behandelt den Zeitraum von 2000 bis 2010. 2011 entstand daraus die spanische Originalausgabe des Buches. Hudson ist ein 1978 im argentinischen Rosario geborener Sozialwissenschaftler. Er arbeitet am staatlichen Institut für Wirtschaftsförderung CONICET. Örtliches Untersuchungszentrum Hudsons sind die Betriebe seiner Geburtsstadt Rosario, mit fast 1 Mio. Einwohnern neben Buenos Aires und Coredoba die drittgrößte Stadt Argentiniens.

Sein Buch beschreibt anschaulich den schwierigen Prozess, in dem der mit den Werksbesetzer/innen sympathisierende Akademiker langsam Zugang und Verständnis für die sich selbst ermächtigenden Belegschaften findet. Er stolpert zunächst mal darüber, dass er von den Arbeiter/innen auf seine Fragen, die er ihnen für die Fertigstellung seiner Dissertation stellt, nur gleichartige und geradezu stereotyp Antworten erhält. Er muss begreifen, dass die Befragten ihre Gründe haben, nicht jemand ihnen Unbekannten all die Klippen, Auseinandersetzungen und Probleme zu schildern, mit denen sie sich in ihrem Überlebenskampf rumschlagen müssen. Hudson begreift, dass die „Erzählungen“ zwei Funktionen zu erfüllen haben: Sie ermöglichen es „den Arbeitern, Konflikte, Spannungen und neue Projekte nach außen hin abzuschirmen“ und sie formen einen eigenen Mythos über den gemeinsamen Kampf von der Zeit der Krise, über die Besetzung der Fabrik bis zur Selbstverwaltung. Erst nachdem ein echtes und persönliches Vertrauensverhältnis zu den betrieblichen Akteuren entsteht - der Autor lässt dafür auch sein Aufnahmegerät zu Hause -, erhält der Wissenschaftler Zugang zur realen Situation. Am intensivsen und fruchtbarsten wird seine Beziehung zu Lissandro, der bei La Victoria, einem Betrieb für Teigwaren, zuerst zu den schärfsten Kritikern der neuen Betriebsleitung gehört, dann jedoch selbst Teil der administrativen Führung wird. Lissandro ist in der Lage aufgrund seiner Erfahrungen „auf beiden Seiten“, in Produktion und Verwaltung, die Komplexität der zu lösenden Probleme zu erfassen und - im Buch - scharfsinnig zu vermitteln.

Auf den ersten Blick erscheint das Spekrum der selbstverwalteten Betriebe als eine völlig vernachlässigbare Nische der argentinischen Volkswirtschaft, in hohem Maße beschränkt auf Betriebe, die ihre Besitzer in den Konkurs gebracht haben oder von ihnen wegen mangelnder Profitabilität einfach aufgegeben wurden. Nach Zahlen von 2013 arbeiten in den Empresas Recuperadas por sus Trabajadores (ERT) 13.460 Beschäftigte in 311 Betrieben, drei Viertel von ihnen sind Kleinbetriebe mit weniger als 50 Beschäftigten. Doch die These, diese Betriebe seien reine Produkte der Wirtschaftskrise, die mit dem Ende dieser Krise unweigerlich wieder zur Normalität kapitalistischer Eigentumsstrukturen zurückkehren, greift zu kurz. Die Zahlen belegen, dass der Umfang der seit der großen Krise 2001 übernommenen Betriebe nicht geschrumpft, sondern weiter gewachsen ist. Allein in den drei Jahren (2010-13) sind 62 Betriebe dazu gekommen. Branchenmäßig steht die Metallverarbeitung an erster Stelle, gefolgt von der Lebensmitelindustrie. Das Alter der Belegschaften ist verhältnismäßig alt und männlich dominiert. Und die Fähigkeit sich in der kapitalistischen Umwelt zu behaupten ist sehr unterschiedlich entwickelt. Zumeist ist die Kapitalknappheit ein zentrales Problem, das es erschwert, kostengünstig einzukaufen oder den Maschinenpark zu erneuern. Der in 56% der Fälle gezahlte Salair übersteigt nicht den Mindestlohn, von dem eine Familie nicht zu ernähren ist.

Doch das Buch hat trotzdem eine über diese Nische weit hinausgehende Bedeutung. Denn es gelingt diesen ERT-Experimenten „eine Reihe grundlegender Fragen zu den konkreten und materiellen Herausforderungen für die Arbeiterselbstverwaltung in diesem neuen Jahrhundert aufzuwerfen.“ Sie machen sichtbar, welch großer Wurf es ist, das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital und all die dadurch geschaffenen Mentalitäten und Spaltungen zu überwinden und die im Kampf gegen die Fabrikeigentümer erreichte Einheit auch bei einem in eigener Regie organisierten Arbeitsprozess zu erhalten. Lissandro: „Die Aneignung der Produktionsmittel bedeutet nicht zwingend, dass die Fabriken auch kollektiv und mit Beteiligung aller geführt werden. Die Betriebsübernahme eröffnet zwar potenziell diese Möglichkeit und schon gar nicht endgültig.“
Besonders gut herausgearbeitet werden im Buch die Differenzen zwischen den Kooperativistas, die zumeist von Anfang am Kampf beteiligten waren und den befristet Beschäftigten im Angestelltenverhältnis. Das Gesetz zu den Kooperativen verpflichtet die neuen Besitzer der Betriebes neu Eingestellte entweder zu Kooperativistas zu machen oder sie nach Ende der Befristung wieder zu entlassen. Das bietet Stoff für ernsthafte Konflikte, die noch dadurch verschärft werden, dass die Kooperativistas der jüngeren Generation ihre „Überlebenstugenden“ unter den heutigen neoliberalen gesellschaftlichen Voraussetzungen entwickeln mussten als ihre älteren Kolleg/innen, die durch die fordistischen Ära geprägt wurden. Wenn beide „Parteien“ nicht bereit sind ihre Perspektive zur Diskussion zu stellen, ist das emanzipative Projekt vom Scheitern bedroht. Lissandro trifft den entscheidenden Punkt: „Den Kampf haben wir geteilt. Und wenn wir im Kampf alle Soldaten waren, dann sind wir nach dem Sieg alle Vorsiteznde, das heißt: alle gleich. Ich denke, Verantwortung heißt in erster Linie, zu wissen, dass wir alle gleich sind. Danach zeigt jeder seine Stärken, ohne dass dadurch die Gleichheit verloren geht, und letzen Endes werden die Stärken geteilt: Ich gebe dir meine und du gibst mir deine.“

Juan Paulo Hudson und Alix Arnold befinden sich seit dem 13. April auf einer Lese- und Diskussionsreise zum Buch. Nach Erscheinen der SoZ gibt es noch am 25. April auf der Anarchistischen Buchmesse in Mannheim und am 28.4 um 19 Uhr im Berliner Mehringhof Veranstaltungen mit den beiden. Ich konnte bereits an einer von Alix allein Ende letzten Jahres organisierten Diskussion zum Thema des Buches dabei sein. Es war ein ungewöhnlich produktiver Gedankenaustausch.

Juan Pablo Hudson: Wir übernehmen. Selbstverwaltete Betriebe in Argentinien. Eine militante Unterschung. Herausgegeben und übersetzt von Alix Arnold und Gabriele Schwab, Mandelbaum Verlag Wien, 212 Seiten, 16,90 €.

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