von Angela Huemer
Blau-weißes pulsierendes Licht, Techno-Musik. Eine junge Frau tanzt und sieht glücklich dabei aus. Die Kamera ist nah an ihr dran. Sie bindet ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und geht hinaus, eine Schlange an der Toilette. Ein junger Mann fängt an, mit ihr zu reden, sie reden englisch, eher rudimentär, sie ist Spanierin, heißt Victoria und kommt aus Madrid, erst seit kurzem ist sie in Berlin. Er stellt sich als «Sonne» vor, seine drei Kumpels heißen Boxer, Fuss und Blinker.
Gemeinsam gehen sie raus auf die Straße, «komm doch mit uns, in unser Auto», das Auto ist eine großzügige Ami-Karre und ist ganz sicher nicht ihres, obwohl sich die Tür öffnen lässt. Der Besitzer ist aber nicht weit. Es ist spät, bzw. sehr früh, so um 4 Uhr morgens, diese wunderbare Zwischenzeit, wo der alte Tag schon zu Ende ist und der neue noch nicht begonnen hat.
So ein wenig sind die vier auch in einer Zwischenphase ihres Lebens, alle so um die Mitte 20, nicht mehr ganz frisch, aber auch noch lange nicht dort angekommen, wo sie vielleicht einmal hin wollen. Die vier Jungs wollen noch nicht nach Hause, einer von ihnen, Fuss, feiert seinen Geburtstag. Ohne Auto, dafür mit dem Fahrrad von Victoria (gespielt von der brillanten Laia Costa) ziehen sie weiter, ganz nach oben, aufs Dach eines Wohnblocks. Da wirken sie fast zahm, die vier Berliner Jungs, sie ermahnen Victoria, leise zu sein – die Nachbarn hier wären nicht so nett – und werden nervös, als sie sich auf die Balustrade setzt und runterschaut.
Bald muss sie los, um 7 Uhr früh muss sie das Café aufschließen, in dem sie arbeitet. Sonne begleitet sie, er wird verkörpert von Frederick Lau, einer jener Schauspieler, die man nicht mehr vergisst, wenn man sie einmal gesehen hat. Jahrgang 1989 ist er, was man kann glauben kann, wenn man sieht, wieviel Film und Fernsehen er schon gemacht hat. (Eine seiner herausragenden Rollen war die des Frank Lehmann in Neue Vahr Süd, die fast kongeniale Verfilmung des Romans von Sven Regener – nicht umsonst gewann er dafür den Grimme-Preis, einer von mehreren Preisen, die er schon erhalten hat).
Wir sind richtige Berliner Jungs, sagt er gleich am Anfang zur Spanierin Victoria. Frederick Lau ist es in der Tat, er ist in Zehlendorf aufgewachsen. Fast ganz automatisch sind wir drin in der nächtlichen Berliner Welt, spätestens als Sonne Victoria zum Café begleitet. Das kommt auch daher, und das ist das ganz Besondere an dem Film, dass er in einem einzigen «Take» gedreht wurde, also in einer einzigen Einstellung, ohne Schnitt. Die Ereignisse spielen sich also in Realzeit ab.
Das Drehbuch von Regisseur Sebastian Schipper war nur wenige Seiten lang. Es enthielt nämlich keine Dialoge. «Normalerweise arbeitest du Ewigkeiten an einem Drehbuch – also, Ewigkeiten, wenn’s schlecht läuft, und zwei Jahre, wenn’s gut läuft. Dann drehst du wie verrückt und sitzt anschließend im Schnitt und denkst: Scheiße, das funktioniert nicht, wie können wir das retten? Bei Victoria haben wir im Prinzip das Drehbuch, die Struktur, die Dialoge gemeinsam vor Ort geschrieben und währenddessen die Szenen immer wieder überarbeitet und neu arrangiert», erzählt Sebastian Schipper in einem Interview mit Spiegel online.
In der NDR-Talkshow erzählt Frederick Lau davon, wie er und der Regisseur sich in einem Biergarten getroffen haben und die Idee geboren wurde, «mit jedem Bier wurde die Geschichte interessanter». Niemand dachte jedoch, ergänzt er, dass es möglich sein würde, den Film in einer Einstellung zu drehen.
Für ihn ist ein Kern des Films, dass es um «Straßenköter» geht, das meint er liebevoll, der Film ist eine Hommage an Berliner Jungs sagt Lau. «Du fängst halt an und dann spielst du 140 Minuten durch und bist in der Rolle und erzählst eine Geschichte über Berlin, über Freundschaft», sagt Lau. Das ist ganz anders als beim Theater, dort will man auch die auf den hinteren Bänken erreichen. Dadurch dass die Kamera zwangsweise immer nah dran ist, sind es auch wir, die Zuschauer, wir werden fast ein Teil der Gruppe.
«Alles was ich erzähle, erzähle ich, weil ich es erzählen wollte», meint Lau und ergänzt, dass darin auch Anekdoten aus seinem Leben sind, «was ich immer schon mal sagen wollte in einem Film». Irgendwie hat man das Gefühl, das ist reinstes Kino.
«Das Kino gibt es seit mehr als hundert Jahren», sagt Sebastian Schipper, der Regisseur. «Mittlerweile scheint sich das Gefühl breit gemacht zu haben, man hätte die Bestie Film gezähmt. Aber diese Bestie darf nicht gezähmt werden. Manchmal habe ich das Gefühl, die Bestie ist in die großen amerikanischen Serien geflohen. Dort passieren zur Zeit die wirklich wilden Dinge». Und er wünscht sich, dass auch im Film Unberechenbarkeit möglich ist. Er, der Kameramann, das gesamte Team haben genau das möglich gemacht. Eine fantastische Leistung.
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