von Dick Nichols*
Eine Zeitlang sah es im späten Mai so aus, als sei ein Ende der Verhandlungen mit den «Institutionen» (EU, EZB und IWF) über die Bedingungen für die Freigabe der letzten Tranche über 2,7 Mrd. Euro in Sicht. Das Verhandlungsteam der Regierung SYRIZA sprach von «fruchtbaren Diskussionen» und einem «substanziellen Prozess», Regierungssprecher erklärten sogar, ein Abkommen könne «in ein bis zwei Wochen», spätestens bis zum 18.Juni erzielt werden.
Der verhaltene Optimismus löste sich jedoch in Luft auf, als am 3.Juni Griechenlands Gläubiger Ministerpräsident Tsipras eine letzten Liste mit Forderungen präsentierten; sie war im Anschluss an einen informellen EU-Gipfel erstellt worden, an dem EU-Kommissionspräsident Juncker, EZB-Präsident Draghi, IWF-Generaldirektorin Christine Lagarde sowie die Staats- und Regierungschefs von Frankreich und Deutschland beteiligt waren.
Der Vorschlag enthielt Vorgaben für einen Primärüberschuss des griechischen Haushalts (vor Abzug des Schuldendienstes), die eine Fortsetzung der Austeritätspolitik erfordert hätten; des weiteren eine Begrenzung der Mehrwertsteuerbefreiung auf die griechischen Inseln [d.h. den Tourismus], Rentenkürzungen im Wert von 1,8 Mrd. Euro (1% des BIP), einen «Konsultationsprozess» über Arbeitsmarktreformen und ein beschleunigtes Privatisierungsprogramm.
Die vorgegebene Zielmarken für den Haushaltsüberschuss 2015, 2016 und 2017 hätten ein jährliches Wachstum von 5% vorausgesetzt – unter den vorgegebenen Sparzielen unmöglich zu erreichen. Für Griechenland hätte deshalb die Annahme des Vorschlags der «Institutionen» die Fortsetzung von Stagnation und sozialem Niedergang bedeutet – das Gegenteil dessen, wofür SYRIZA am 25.Januar gewählt wurde.
Die Gläubiger wischten mit diesem Dokument die partielle Annäherung, die in den Verhandlungen mit der sog. Brüssel-Gruppe erreicht worden war, schlicht beiseite – die Brüssel-Gruppe setzt sich aus niedrigrangigeren Vertretern der EU-Kommission, der EZB, des IWF und ESM (des Stabilitätsfonds der EU) zusammen [den sog. Technikern]. Sie hatte ihre Arbeit am 20.Februar aufgenommen.
Das Dokument bereinigte auch die Differenzen innerhalb der Troika über ihre Haltung zur Regierung SYRIZA und zu den Vorschlägen, die diese am 31.Mai unterbreitet hatte. Vor dem gemeinsamen Treffen war der IWF den griechischen Vorschlägen gegenüber aufgeschlossener gewesen als die Vertreter der Troika.
In einem Interview mit dem Tagesspiegel am 9.Juni beschrieb Yanis Varoufakis das Paket vom 3.Juni als ein «Zurück auf Los, so als hätte es die Verhandlungen nie gegeben. So einen Vorschlag macht man, wenn man eine Einigung nicht will.» Tsipras kommentierte den Vorgang so: «Ich hätte mir nie vorstellen können, dass sie ein Paket vorlegen würden, das alle Fortschritte ignoriert, die wir in der Brüsselgruppe erreicht haben. Dass unser Bemühen um eine ehrenhafte und vollständige Lösung als Zeichen der Schwäche ausgelegt würde.»
Zähmen oder zerstören
Die «Institutionen» sind zu einer kompromisslosen Linie zurückgekehrt, weil die griechische Wirtschaft stagniert, während die Regierung SYRIZA in den Umfragen ihre Popularität nicht eingebüßt hat. Sie setzen darauf, dass die Regierung Tsipras früher oder später kapitulieren muss: wegen des anhaltenden Abflusses von Einlagen bei griechischen Banken, des Ausblutens der Staatskassen und des Niedergangs der Unternehmensinvestitionen, die das Land wieder in eine Rezession geführt haben.
Seit dem 3.Juni verkünden die Institutionen nun u.a. durch den Mund des polnischen Premiers Donald Tusk, der bis Ende Juni den Vorsitz im Europäischen Rat führt: «Der Ball liegt im griechischen Feld», «unsere Geduld ist am Ende», «es gibt keinen Raum und keine Zeit mehr für Spiele», «wir brauchen Entscheidungen, keine Verhandlungen». «Ich fürchte der Tag kommt, wo jemand sagt: Game over.» Auf dem G7-Gipfel schloss sich Barack Obama diesem Chor an. Die Botschaft lautete, Griechenland steuere nun auf ein Ultimatum zu.
Diese Haltung der Gläubiger zeigt deutlich, was von Anfang an ihr Verhandlungsziel gewesen ist: Die einzige Regierung in Europa, die sich dem Sparkurs widersetzt und eine andere politische Vorstellung von Europa verfolgt als die Geschäftswelt und die politischen Eliten zähmen oder zerstören. Es spielt keine Rolle, dass die Gläubigervorschläge Griechenland noch tiefer in die Krise stürzen und eine Rückzahlung der Schulden vollends unmögch machen würden, die Griechen müssen einfach nur verstehen, wer der Herr im Haus ist.
«Es geht um Regime change», erklärt Mark Weisbrot vom Center for Economic and Policy Research in Washington. «Ein älterer griechischer Beamter, der an den Verhandlungen beteiligt ist, hat das als ‹schleichenden Staatsstreich› bezeichnet. Aufmerksame Beobachter konnten es von Anfang an erkennen: Das ganze Theater und Va-Banque-Spiel verfolgt nur das Ziel, die griechische Wirtschaft zu destabilisieren. Die unerklärte Absicht ist, die politische Unterstützung für die Regierung SYRIZA so weit zu schwächen, bis die Regierung stürzt und es ein neues Regime gibt, das den europäischen Partnern und den USA genehmer ist. Das ist die einzige Strategie, die aus ihrer Sicht einen Sinn macht. Sie werden Griechenland genug Sauerstoff geben, damit eine Zahlungsunfähigkeit und ein Grexit vermieden wird – denn das wollen sie nicht –, aber nicht genug für einen wirtschaftlichen Aufschwung, den wollen sie auch nicht.»
Zweierlei Maß
Eine solche Haltung hat mit angeblich objektiven ökonomischen Kriterien nichts zu tun. Man vergleiche nur den Fall der Ukraine, die ebenfalls am Rande der Zahlungsunfähigkeit steht. Am 12.Juni erklärte der IWF dazu in einem Kommuniqué: «Im allgemeinen unterstützt der IWF freiwillige Vorabvereinbarungen bei der Umstrukturierung der Schulden, aber wenn ein mit privaten Gläubigern ausgehandeltes Abkommen nicht eingehalten werden kann und das Land zum Schluss kommt, dass es seine Schulden nicht bedienen kann, kann der Fonds der Ukraine Geld leihen in Übereinstimmung mit seiner Politik, Kredite für die Bedienung von Zahlungsrückständen zu bewilligen.» [Auf der Basis dieses Grundsatzes könnte er auch Griechenland solange Geld leihen, wie seine Regierung die Verhandlungen mit offenkundig gutem Willen fortsetzt.]
Der gewählte Zeitpunkt für die Offensive der Gläubiger spricht dafür, dass die diesen für den besten Zeitpunkt hielten, um die SYRIZA-Regierung zu knacken – wo sie in Europa noch keine Freunde hat und der politische Preis für eine solche Operation erträglich scheint. Das Zeitfenster reicht nur bis November, dann finden in Spanien Parlamentswahlen statt, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Herrschaft der konservativen Volkspartei entweder durch eine radikale Koalition oder durch eine sozialdemokratische Regierung beendet wird, die empfänglich ist für Druck von links.
Die griechische Regierung hingegen hat in den letzten drei Monaten Fortschritte gemacht im Kampf um die Herzen und Köpfe der griechischen Bevölkerung, insbesondere durch die öffentlichen Auftritte von Varoufakis und Tsipras.
Die Knackpunkte
Um die Verhandlungen – und damit den Kampf um die öffentliche Meinung – am Laufen zu halten, hat die griechische Regierung Konzessionen gemacht, die sie nicht wirklich machen wollte. Im Tagesspiegel vom 9.Juni erklärte Varoufakis: «Obwohl es immer heißt, wir wären nicht konstruktiv, haben wir sogar gegen unsere Versprechen verstoßen und viele unserer roten Linien überschritten. Wir bieten ihnen einen Primärüberschuss im Haushalt, an dessen Wirkung ich nicht glaube. Nur um uns ihrer Position anzunähern. Wir haben eine Erhöhung der Mehrwertsteuer angeboten, die sehr problematisch für uns ist. Es waren Zeichen des guten Willens, dass wir ernsthaft daran interessiert sind, eine Einigung zu finden. Ich werde versuchen, bis zum letzten Moment optimistisch zu bleiben, aber es ist klar, dass die andere Seite sich jetzt bewegen muss.»
Griechenlands Gläubiger aber haben ihre Vorschläge so formuliert, dass es der griechischen Regierung unmöglich wurde, sie anzunehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Sprecher der Troika unisono verkünden, sie wollten Griechenland im Euro halten. Dabei ist der Vorschlag so strukturiert, dass die Gläubigerseite sich in Einzelfragen als konziliant und vernünftig darstellen kann.
Für Griechenland sind zwei Punkte zentral: die Umschuldung und ein Investitionsprogramm, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Varoufakis sagte dazu im Tagesspiegel: «Bis wir diese beiden Themen, die Umschuldung und das Investitionsprogramm, nicht besprochen haben, läuft bei uns nichts.»
Der Umschuldungsplan der griechischen Regierung sieht vor, 27 Mrd. Euro von der EZB zum ESM umzuschichten, die Tilgungsfrist zu verlängern und Griechenland damit die Möglichkeit zu geben, am Anleihekaufprogramm der EZB («Quantitative Easing») teilzunehmen. [Griechenland ist bislang als einziges Land davon ausgenommen.] Das Investitionsprogramm soll von der Europäischen Investitionsbank finanziert werden.
Keines der beiden Themen findet jedoch im Vorschlag der Gläubiger vom 3.Juni auch nur Erwähnung. Das EZB-Vorstandsmitglied Benoît Coeure sagte dazu am 10.Juni in einem Interview mit der französischen katholischen Tageszeitung La Croix: «Das Thema ist nicht tabu, griechische Schulden privater Banken wurden bereits umstrukturiert … Muss mehr getan werden? Die Antwort hängt davon ab, wie am Ende das Abkommen zwischen den Gläubigern und den griechischen Behörden aussieht.»
Die Standardantwort der Troika auf die griechischen Vorschläge lautet: Alles kann diskutiert werden, wenn die Regierung bei den «Reformgrundsätzen» einknickt. In einer Rede am 8.Juni in Berlin erwähnte Varoufakis seinen Vorschlag an die Troika, Reformen, über die es ein Einverständnis gebe, schon mal umzusetzen, während die Verhandlungen über den Rest weiter laufen. «Die Antwort, die ich erhielt, war unmissverständlich: Nein! Sie dürfen dem Parlament nichts vorlegen, solange die Revision des Griechenlandpakets nicht erfolgreich beendet ist. Wir werden jedes aus dem Zusammenhang gelöste einzelne Gesetz als einseitige Maßnahme betrachten, sie wird Ihre Beziehungen zu den Institutionen gefährden.»
Gleichzeitig entfachten die Medien einen Sturm der Entrüstung gegen die griechische Seite, die als der Buhmann hingestellt wurde. Die führende Rolle in diesem Spiel spielte Juncker, der sich selbst gern als Freund der Griechen in den Institutionen der Troika darstellt. Auf einem Treffen der EU-Kommission am 9.Juni behauptete er, Tsipras habe eine mündliche Vereinbarung über Primärüberschüsse im Haushalt wieder in Frage gestellt, Athen habe deshalb «die EU-Kommission verloren. Sie haben nicht gesehen, dass die EU-Kommission der beste Freund der kleinen und mittleren Mitgliedstaaten ist.» Zur gleichen Zeit wiederholte der sozialdemokratische Präsident des Europaparlaments Martin Schultz bei Maybritt Illner die Lüge vom irrationalen griechischen Starrsinn, der die Verhandlungen in die Sackgasse geführt habe; er habe «die Faxen dicke».
In dem Maße, wie die Offensive der Gläubiger Griechenlands gegen SYRIZA Fahrt aufnimmt, wird die Nebel der Legenden um Griechenland dichter. So äußerte Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem gegenüber der finnischen Tageszeitung Helsingin Sanmat am 11.Juni: «Wenn die griechische Regierung nicht akzeptieren kann, dass es keine einfachen Lösungen gibt und schwierige Entscheidungen zu treffen sind, bleibt sie allein. Wir können Griechenland nicht helfen, wenn es sich nicht selbst helfen will.»
Die Reaktionen in Griechenland
Die Reaktionen in Griechenland und in SYRIZA selbst waren explosiv. Die meisten griechischen Medien kritisierten vor allem die Gläubigervorschläge, die Renten der Ärmsten noch weiter zu kürzen und die Mehrwertsteuer auf Strom um 10 Prozentpunkte anzuheben. Die Online-Finanzzeitung Macropolis, die im allgemeinen gegen SYRIZA eingestellt ist, kommentiert am 11.Juni: «Der [griechische] Vorschlag ist voll mit den EU-Verträgen und den Regularien der Institutionen kompatibel … Der IWF hat solch ein Modell von Vorabvereinbarungen im Fall von Irland und Portugal bereits akzeptiert, die Generaldirektorin Christine Lagarde hat Portugal sogar dafür gepriesen.»
Innerhalb von SYRIZA wurde dadurch die Position derer gestärkt, die gegen jegliche weitere Zahlungen an die Gläubiger sind; sie unterlag auf der letzten ZK-Sitzung nur knapp mit 75:95 Stimmen. Ein Vorschlag, den Ausstieg aus der Eurozone in Betracht zu ziehen, unterlag mit 70:90 Stimmen.
* Dick Nichols ist Mitarbeiter der australischen Wochenzeitung Green Left Weekly und lebt in Barcelona.
Einer am 15.Juni vom Fernsehsender Mega veröfentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GPO zufolge sind 69,7% der Befragten für den Verbleib in der Eurozone, auch wenn dies mit harten Sparmaßnahmen verbunden sein würde. 67,8% der Befragten gehen davon aus, dass Athen trotz der Streitigkeiten mit den Gläubigern am Ende nachgeben und die Sparmaßnahmen der Geldgeber akzeptieren wird.
Stand: 15.6.
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