Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2015
Über den Umgang mit Widersprüchen
von Angela Klein

Unter dem Druck der Zuspitzung des Konflikts zwischen der Regierung SYRIZA und der Troika nimmt auf der sozialistischen Linken das Bedürfnis nach Kritik am Kurs der Athener Regierung zu. Indes scheint mir die Zeit dafür noch nicht gekommen, und dies soll in fünf Argumenten dargelegt werden.
1. Was sich derzeit zwischen der SYRIZA-Regierung und der Troika abspielt, ist Klassenkampf – und zwar ungeachtet dessen, dass das Programm, das SYRIZA vorträgt, um aus der Krise zu kommen, sich im Rahmen des kapitalistischen Systems bewegt. Die Verfechter neoliberaler Austeritätspolitik, die einseitig die Interessen des Finanzkapitals bedienen, irren sich dennoch nicht, wenn sie SYRIZA gegenwärtig als ihren Hauptfeind ausmachen: Sollte es der Regierung in Athen gelingen, sich aus der Erpressung der Institutionen zu befreien, würde das neoliberale Dogma «Es gibt keine Alternative» fallen – alle Kräfte in Europa, die seit Jahren vergeblich gegen das mörderische Krisenmanagement der EU anrennen, erhielten ungeahnten Auftrieb.
Den Deckel zu sprengen ist heute der erste Schritt, damit für breitere Schichten der Bevölkerung gesellschaftliche Alternativen wieder denkbar werden. Wenn SYRIZA dieser Schritt gelingen sollte, nützt dies dem Klassenkampf in Europa. Für Linke heißt das: In der gegenwärtigen Phase der Auseinandersetzung verdient SYRIZA unsere volle Unterstützung und alles Trommelfeuer ist gegen die Troika und die Bundesregierung als die in ihr tonangebende Kraft zu richten.
2. Auf der radikaleren Linken in Deutschland wird viel Kritik an der Politik von SYRIZA vorgetragen: die Aufschiebung des Mindestlohns, die Bereitschaft zu weiteren Privatisierungen, das Bekenntnis zur Bedienung der Schulden, die Zögerlichkeit, mit der die Reichen zur Kasse gebeten werden, die ständigen Versicherungen, eine Einigung mit der Troika sei möglich… Für sich genommen sind diese Kritiken alle richtig. Im Kern richten sie sich dagegen, dass die SYRIZA-Führung versucht, die Institutionen davon zu überzeugen, dass eine Abkehr von der mörderischen Austeritätspolitik im wohlverstandenen Interesse des Kapitalismus selbst liegt und die einzige Chance ist, den Bestand der EU aufrechtzuerhalten. Das ist natürlich keine linke Position, aber es ist definitiv eine Position, die die Dominanz des Finanzkapitals in Frage stellt.
Bei manchen Zugeständnissen, die SYRIZA macht – soweit sie in unseren Medien richtig kommuniziert werden – mag man sich auch wirklich ans Herz fassen, ob da nicht für den Verbleib im Euro unannehmbare Zugeständnisse gemacht werden.
Dem steht jedoch entgegen, dass SYRIZA einige rote Haltelinien aufgestellt hat, die sie mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit verteidigt: – Ein niedriger Primärüberschuss des Haushalts, damit der Staat die humanitäre Krise lindern und die Wirtschaft wieder ankurbeln kann (der Kompromiss mit der Troika liegt bei 1%).
– Die Renten der kleinen Leute sind tabu. Die Durchschnittsrente liegt derzeit mit 665 Euro auf EU-Armutsniveau, darunter liegende Renten werden bezuschusst; die Troika möchte diesen Zuschuss (den es auch bei uns gibt, siehe Grundrente) streichen.
– Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Strom von 11% auf 23%, wie von der Troika gefordert, kommt nicht in Frage.
– Die Schulden müssen tragfähig sein; die Regierung besteht auf einem Schuldenschnitt.
– Bei Privatisierungen (es geht hauptsächlich um Häfen und Flughäfen) behält sich die Regierung eine Prüfung ihrer Legitimität und eine staatliche Minderheitsbeteiligung vor.
– Das Arbeitsrecht darf nicht ausgehebelt werden (Tarifverträge, Mindestlohn usw.).
SYRIZA stößt mit diesen Haltelinien bei der Troika auf erbitterten Widerstand. Diese möchte mit einem hohen Primärüberschuss, der hauptsächlich in die Bedienung der Schulden fließt, der Zerschlagung sozialer Mindeststandards und der Deform des Arbeitsrechts Griechenland in eine Schuldenkolonie verwandeln. SYRIZA weiß: Wenn sie in diesen Punkten nachgibt, wird die alte Memorandumspolitik der Umverteilung von den Ärmsten zum (hauptsächlich ausländischen) Finanzkapital fortgesetzt.
3. Für ihr Festhalten an den Haltelinien gebührt der griechischen Regierung hohe Anerkennung. Es ist dies eben nicht die klassische sozialdemokratische Politik, die mit hehren Versprechungen in den Wahlkampf zieht, um sie nach dem Wahltag nacheinander wieder zu räumen. Es ist eine Politik, die nicht mehr versprochen hat, als die schlimmsten Auswüchse der humanitären Katastrophe zu lindern und im Rahmen der EU einen Weg zu finden, wie der Wirtschaft wieder auf die Beine geholfen werden kann. Diese Leitplanken aber verteidigt sie mit bewundernswerter Zielstrebigkeit und einer Kompromisslosigkeit, die für sozialdemokratische Politik ungewöhnlich ist.
Wir haben es hier mit einem neuen Typ von Politik und Politikern zu tun, der in die bisherigen Denkmuster nicht hineinpasst. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass SYRIZA keine klassisch sozialdemokratische Partei ist, sondern ein Bündnis verschiedener Strömungen mit einem starken linken Flügel. Dass sie mit den griechischen Eliten so gut wie nicht verbandelt ist. Und dass sie ein offenes Ohr für die sozialen Bewegungen und für deren Bemühungen hat, die schlimmsten Krisenfolgen, etwa im Gesundheitswesen, durch solidarische Initiativen zu lindern. In diesen Initiativen steckt das Potenzial für eine Überwindung der kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft, und viele Initiativen sehen ihre Arbeit ausdrücklich in dieser Perspektive.
4. Sozialistische Linke verweisen immer wieder auf die Tatsache, dass eine Überwindung der Krise im Rahmen der bestehenden EU nicht möglich ist. Die jüngste Reaktion der Troika auf die griechischen Vorschläge geben dieser Kritik völlig recht. Nachdem die Troika verstanden hat, dass sie SYRIZA nicht weichkochen kann, hat sie eine Kehrtwende vollzogen: Sie setzt jetzt darauf, die Regierung in Athen finanziell zu erdrosseln und mit einer medialen Desinformationskampagne die Bevölkerung gegen sie aufzubringen, damit sie fällt. Regime change ist angesagt.
Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass es nur die beiden Varianten: Kapitulation oder Grexit gibt. Erstens scheuen die Verantwortlichen in der EU (und in den USA) selber einen Grexit wegen der unvorhersehbaren Folgen – die Finanzkrise ist ja auch in den reichsten Industrieländern alles andere als überwunden. Und zweitens sind die westlichen Institutionen und Geldgeber nicht mehr die einzig möglichen Gläubiger.
Tsipras hat einen dritten Weg gefunden: die Annäherung an die Kräfte, die versuchen, gegen den globalen Westen ein alternatives Machtzentrum in Position zu bringen, namentlich Russland, mit dem Griechenland traditionell eng verbunden ist. Putin hat Tsipras bei seiner jüngsten Moskaureise am 19.Juni in Aussicht gestellt, Griechenland könne sechstes Mitglied in der 2014 gegründeten Entwicklungsbank der BRICS-Staaten werden – womit ihm eine neue kräftige Kreditquelle offen stünde (die Bank ist mit einem Eigenkapital von 100 Mrd. Dollar ausgestattet). Der griechische Premier hat mit Freuden zugegriffen. Das verändert die Konstellation erheblich und nimmt von der Regierung den Druck, auf einen Bruch mit der EU zusteuern zu müssen, den die griechische Bevölkerung in der Mehrheit nicht will. Sie kann bei ihrer Linie bleiben, einen Politikwechsel innerhalb der EU durchsetzen zu wollen.
5. Es gibt in Griechenland keine vorrevolutionäre Situation. Die Mehrzahl der Bevölkerung möchte ein Ende der Austeritätspolitik, zugleich sind fast 70% weiterhin gegen den Ausstieg aus der Eurozone, selbst wenn dies mit Opfern verbunden ist. Die Kräfteverhältnisse innerhalb von SYRIZA, wo die Stimmen erstarken, die einen Bruch fordern, geben insofern die Stimmung in der Bevölkerung nicht wieder. Das Programm der Einleitung eines Bruchs mit der EU ist nach wie vor ein Minderheitenprogramm, für das SYRIZA nicht gewählt wurde. SYRIZA wurde genau für den Spagat gewählt, den sie derzeit unternimmt.
Niels Kadritzke beschreibt in seinem Beitrag für die Juni-Ausgabe von Le Monde Diplomatique trefflich, warum das so ist: «Die starke Euro-Bindung der meisten Griechen [ist] auch im Misstrauen gegen die eigenen Eliten begründet: Die Leute wollen nicht, ‹dass staatliche Repräsentanten abermals die Hände an die Gelddruckmaschine legen können, um die eigene Gefolgschaft in Landeswährung zu bedienen›. Der Wahlsieg der SYRIZA war auch Ausdruck der Einsicht, dass diese politischen Krankheit überwunden werden muss. Ein Grexit würde den Ansatz wieder im Keim ersticken.»
Hinzu kommt, dass ein Grexit keine Garantie bietet, dass die Austeritätspolitik ein Ende findet, eher scheint dies eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Das Festhalten am Anspruch, den Kurs der EU zu ändern, aber hat den Vorteil, dass nicht nur die EU Griechenland unter Druck setzt, sondern auch Griechenland die EU. Der Bruch mit der EU kann nicht einfach propagiert werden, es muss eine Situation geschaffen werden, in der er möglich erscheint.
Stand: 21.6.

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