Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2015
Handwerk und Mundwerk - Womit befasst sich Naturwissenschaft?
von Manuel Kellner

Seit vielen Jahren kenne und schätze ich die Kleine Philosophie der Naturwissenschaften1 von Peter Janich. Vor einigen Monaten habe ich sein Spätwerk Handwerk und Mundwerk2 gelesen, das seine Auffassungen zusammenfasst. Wo viele Naturwissenschaft und Natur verwechseln, sieht Janich «lebensweltliche Zusammenhänge», aus denen naturwissenschaftliche Praxis hervorgeht. Für ihn sind Handwerk und Technik die Grundlage der Naturwissenschaften – nicht eine in erkenntnistheoretisch naiver Weise unterstellte Natur, unabhängig vom menschlichen Tun. Am 17.April dieses Jahres durfte ich einige Stunden mit ihm in seinem Haus in Rauschenberg nahe Marburg verbringen und mich vergewissern, dass ich ihn nicht völlig missverstehe.

Die Zeit
Woher kommt der moderne, naturwissenschaftlich bedeutsame Begriff der exakt gemessenen «Zeit» im Gegensatz zur Empfindung der Zeit: vom Hahnenschrei bis zum Sonnenuntergang und durch den Wechsel der Jahreszeiten? Voraussetzung ist zum einen die Technik der Wasserbeförderung durch Aquädukte, zum anderen das Aufkommen von Gerichtsverhandlungen zur Schlichtung von Konflikten in Zusammenhang mit Eigentumsinteressen.
Die ersten Uhren im modernen Sinne waren nicht etwa Sonnenuhren, sondern Wasseruhren, mit denen gleiche Zeitspannen gemessen wurde. Es galt sicherzustellen, dass zwei Konfliktparteien vor Gericht die gleiche Redezeit zur Verfügung hatten. Dafür wurde Wasser in einen Behälter gefüllt, der sich mithilfe eines kleinen Lochs allmählich entleerte. Dahinter steht die Idee der Gleichberechtigung der Konfliktparteien durch die Gleichheit der Redezeit.
Nun ist es von herausragender Bedeutung, sich dieses «lebensweltlichen» Zusammenhangs bewusst zu bleiben, aus dem die Exaktheit der Zeitmessung hervorgegangen ist. Gesellschaftliche Praxis steht Pate bei der Herausbildung des modernen Begriffs der exakt gemessenen Zeit, gestützt auf die Technik der Wasserbeförderung. Die «Zeit» der Naturwissenschaften – vor allem der Physik – bleibt daran gebunden, und wenn wir das nicht durchschauen, erliegen wir einer falschen Vorstellung außermenschlicher «Objektivität».

Lebensweltliche Zusammenhänge
Woher kommen die Kategorien der euklidischen Geometrie, angefangen mit der Vorstellung ebener Flächen? Aus der Natur sicherlich nicht. Wenn aber Steine so aneinander gerieben werden, dass sie zueinander Passform erreichen, dann entstehen Flächen, die den Begriff der Ebene nahelegen.
Handwerker stellen Dinge her, die zum Ausgangspunkt einer universalen Beschreibung werden – nicht einer Beschreibung von Naturgegebenheiten, sondern von Artefakten. Zugleich entstehen damit universal gültige Handlungsanweisungen, die, wenn sie befolgt werden, immer zum gleichen Ergebnis führen.
Ein Bild für diese Art von Universalismus ist das Kochrezept. Die Aufzählung der Ingredienzien und die Vorschriften, wie mit ihnen Schritt für Schritt verfahren werden soll, stellen sicher, dass von egal wem immer das gleiche Ergebnis erzielt wird. Das ist die Grundlage für die universelle – intersubjektiv gültige, weil immer und überall nachvollziehbare und überprüfbare – Geltung naturwissenschaftlicher Experimente. Die «Befragung» der Natur erfolgt vermittelt über eine nach exakten Vorschriften arrangierte Apparatur, deren Selbstlauf immer wieder die gleichen Resultate hervorbringt.
Für Janich basieren die Naturwissenschaften auf Handwerk und Technik. Vor Physik, Chemie und Biologie kommen Protophysik, Protochemie und Protobiologie. Das Rad, die Achse, der Wagen wurden nicht aufgrund von physikalischen Einsichten entwickelt, die im modernen Sinne naturwissenschaftlich gewonnen wurden, sondern sie waren Voraussetzungen der modernen Physik. Ebenso waren Praxen des Zusammenführens und Erhitzens von Stoffen einschließlich der Alchimie die Vorläufer der modernen Chemie. Auch der moderne Begriff der Evolution des Lebendigen, verdeutlicht am Schlagwort der «natürlichen Zuchtwahl» Darwins, ist undenkbar ohne die Praxis des Züchtens von Nutztieren und -pflanzen.
Ein kritischer Blick auf die Art und Weise, wie Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung ein breites Publikum erreichen, zeigt immer wieder typische (Selbst-)Missverständnisse der Forscher in bezug auf ihre Praxis, die falsche Schlussfolgerungen nahelegen, politische Entscheidungen (z.B. bei der Vergabe von Forschungsgeldern) beeinflussen und systematisch Illusionen befördern. Gestützt auf die Errungenschaften der «linguistischen Wende» der Wissenschaftstheorie zeigt Janich an vielen Beispielen auf, wie missbräuchlicher Sprachgebrauch solche Illusionen schafft.

Nervenzellen kommunizieren nicht
Ein Beispiel dafür ist die Erforschung des menschlichen Gehirns und seines Funktionierens. Wenn davon die Rede ist, dass zwei Nervenzellen miteinander über ein Axon «kommunizieren», dann ist das ein aus menschlich-gesellschaftlicher Praxis entlehntes Bild und nicht mehr. In Wirklichkeit handelt es sich um elektrochemische Prozesse. Ein Mensch, der mit einem anderen Menschen telefoniert, kommuniziert in der Tat mit ihm. Doch keine Nervenzelle kommuniziert in diesem Sinne mit einer anderen Nervenzelle.
Desgleichen ist es eine von der modernen Physik (wie in der Antike von der Musik) nahegelegte Illusion zu glauben, die Mathematik sei «die Sprache der Natur». Es ist zwar vollkommen richtig, dass insbesondere die Quantenmechanik nur in Modellen ausgedrückt werden kann, die auf mathematischen Formalismen beruhen. Doch diese Formalismen sind keineswegs «der Natur abgeschaut», sondern vielmehr an die Apparaturen gebunden, mithilfe derer die Forscher die Natur «befragen».
Ein weiteres Beispiel ist die Wissenschaft von der Entwicklung des Lebendigen. Wenn diese Geschichte erzählt wird als eine von den forschenden Menschen unabhängige Naturgeschichte, als sei der Erzähler dabei gewesen und gar als ob «die Natur» eine Entwicklung zum Komplexeren quasi intendiert habe, so geraten die Intentionen und die Kulturleistungen der Forschergemeinde aus dem Blickfeld, die von Befunden der Gegenwart ausgehend die Resultate einer Entwicklung kausal zu erklären bemüht ist, die in der Vergangenheit in keiner Weise vorauszusehen gewesen wären.
Um eine eigene Erwägung einzufügen: Immer wenn wir davon abstrahieren, wie Menschen in ihrer gesellschaftlichen Praxis in das Naturgeschehen eingreifen und dabei Vorstellungen von der Natur unabhängig von diesem Eingreifen gewinnen, erliegen wir einer Art von Fetischismus, den die naturwissenschaftliche Praxis uns dadurch aufdrängt, dass ihre Verfahren selbst die Abstraktion vom (experimentellen) menschlichen Eingreifen ins Naturgeschehen voraussetzen. Zugleich ist ihre Wiederholbarkeit die Grundvoraussetzung aller Naturwissenschaft, während der Gegenstand aller Wissenschaft die Geschichte ist – die Wirklichkeit der Unwiederholbarkeit allen Geschehens.

Und was sagt Marx?
Janich bezieht sich nicht auf Marx und Engels und deren Ansatz einer historisch-materialistischen Dialektik. Vermutlich würde er die – später im stalinistischen Dogma unglücklich verallgemeinerten – Bemerkungen von Engels in seinen Fragmenten zur «Dialektik der Natur» (gedacht als unabhängig vom menschlichen Eingreifen in die Natur) ohne viel Federlesen verwerfen, ähnlich wie er den unkritischen Gebrauch sehr viel später in Mode gekommene Begriffe wie den der «Emergenz» (dem durchaus einiges abzugewinnen ist) mit dem Argument in Frage stellt, dass sie wie der Begriff der «Dialektik» als eine Art von Alleskleber fungieren, wenn wir nicht so recht erklären können, was sich abspielt.
Gleichwohl sehe ich eine große Nähe des philosophisch-kulturalistischen Ansatzes von Janich zum Denken von Marx. Beide waren in keiner Weise Skeptiker im Hinblick auf die Naturwissenschaften, und doch haben beide auf ihre je eigene Weise den naturwissenschaftlichen Objektivismus hinterfragt und zurückgeführt auf menschlich-gesellschaftliches Tun.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Peter Janich der achten These von Karl Marx über Feuerbach widersprechen würde3, in der es heißt:
«Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.»

Peter Janich ist ein deutscher Philosoph und war Hochschullehrer (zuletzt in Marburg). Seit April 2007 ist er emeritiert.

1 Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München: C.H.Beck, 1997.
2 Handwerk und Mundwerk. Über das Herstellen von Wissen. München: C.H.Beck, 2015.
3 Nach Durchsicht des Artikelentwurfs hat Peter Janich bestätigt, dass er mit dieser Aussage von Karl Marx übereinstimmt.

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