von Andrej Hunko*
Die aktuelle «Flüchtlingskrise» zeigt wieder einmal, wie grundsätzlich falsch die EU-Migrationspolitik ausgerichtet ist. Derzeitige Vorschläge sehen lediglich mickrige Summen für die Verbesserung der Lage in den Herkunftsländern vor. Stattdessen werden die Instrumente zur Überwachung und Kontrolle geschärft. Die Mitverantwortung für die Ursachen der Flucht wird dabei ausgeblendet.
Am 9.September hatte die EU-Kommission ein neues Maßnahmenpaket zur Umsetzung der «europäischen Migrationsagenda» vorgelegt. Das Papier sollte der «Bewältigung der Flüchtlingskrise» dienen. Vorgeschlagen wurde die Umverteilung von weiteren 120.000 Menschen, die «eindeutig internationalen Schutz benötigen», auf andere EU-Mitgliedstaaten. Gemeint sind vor allem Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea.
Die EU hat einen mit 1,8 Mrd. Euro vergleichsweise mickrig ausgestatteten Fonds zur Bekämpfung der Ursachen der «Migrationsproblematik» in Afrika eingerichtet – als wenn diese Summe auch nur ansatzweise das durch Kriegs- und Handelspolitik verursachte Desaster in vielen Ländern Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens ausgleichen könnte. Weitere 3,9 Mrd. Euro für Entwicklungs-, Wirtschafts- und Stabilisierungshilfe für die Verbesserung der Lage der syrischen Bevölkerung sind ebenfalls höchstens ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist fraglich, inwiefern die Gelder die Betroffenen überhaupt erreichen. Nur ein Teil wird für die Situation in Syrien aufgewandt, finanziell unterstützt werden damit auch die Länder, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben: Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten und die Türkei.
Im Einvernehmen mit den Regierungen der Mitgliedstaaten setzt die EU-Kommission parallel dazu eine Politik fort, die mitverantwortlich dafür ist, dass Millionen Menschen ihre Heimat verlassen müssen: Durch Militärinterventionen wie 2001 in Afghanistan, 2003 im Irak, 2011 in Libyen – maßgeblich vorangetrieben von Frankreich, Großbritannien und Italien – und durch das Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg seit 2011 wurde eine ganze Region destabilisiert. Zugleich sorgt die ungerechte globale Wirtschafts- und Handelspolitik dafür, dass vielen Ländern dieser Region jede Entwicklungsperspektive genommen wird. Doch während die direkten Nachbarn der kriegsgeplagten Länder unter enormen Anstrengungen Millionen Geflüchteter aufnehmen, setzt die EU weiter auf Abschottung.
Afrika: Vorverlagerung der EU-Außengrenzen
So hat die Kommission den engen Schulterschluss mit dem Auswärtigen Dienst (EAD) angekündigt. Der ist allerdings nicht nur für die Außen-, sondern auch für die Sicherheitspolitik zuständig. Mehrere Länder der Sahelregion werden vom Auswärtigen Dienst beim Aufbau und Betrieb von Grenzanlagen unterstützt.
Einige der Maßnahmen gehören zum sogenannten Sahel-Aktionsplan der Europäischen Union, sie ergänzen Polizeiprojekte europäischer Innenministerien in Libyen und Tunesien. Es handelt sich dabei um eine Vorverlagerung der EU-Außengrenzen bis weit in den afrikanischen Kontinent hinein. Auch das Auswärtige Amt finanziert Grenzpolizeistationen und Grenzanlagen in Burkina Faso, Mauretanien, Mali und im Niger. Weitere Anlagen entstehen im Tschad und in Kamerun. Die dort tätigen Beamten werden von deutschem Personal der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit fortgebildet. Auch die Staatsschutzabteilung des Bundeskriminalamts führt «Expertentreffen» und Fortbildungen durch.
Viele Flüchtlinge aus Afrika müssen Mali und den Niger durchqueren. Die verstärkte Überwachung und Kontrolle der dortigen Landgrenzen und Landwege ist deshalb eine Drohgebärde. Besonders bedenklich ist, dass dabei auch auf zivil-militärische Operationen der EU gebaut wird. Wie im Mittelmeer wird dabei jede Art von Fluchthilfe kriminalisiert.
Notwendig wäre hingegen, legale Einreisemöglichkeiten in die EU zu schaffen. Stattdessen beabsichtigen die EU-Mitgliedstaaten den Aufbau eines «multifunktionalen Zentrums» im Niger, um Geflüchtete von einer Überfahrt über das Mittelmeer abzuhalten. Allerdings dürfte es sich bei dem Zentrum eher um ein riesiges Sammellager handeln, von dem aus Abschiebungen in die Herkunftsländer vorgenommen werden.
Frontex soll mehr Abschiebungen vornehmen
Auch in Europa soll mehr abgeschoben werden, wenn es nach der EU-Kommission geht. Dies betrifft vor allem Menschen aus zentralafrikanischen Ländern oder aus dem Balkan. Schon jetzt gelten sie in einschlägigen EU-Dokumenten als «Wirtschaftsmigranten». Die Kommission fordert nun eine «effektivere Rückkehrpolitik» gegenüber jenen, die wegen Armut und Hunger in die reichen EU-Länder fliehen. Erst kürzlich hat die EU-Kommission in einem «Rückkehrhandbuch» für die Grenzbehörden der Mitgliedstaaten «Handreichungen» ausgegeben, in denen sie Bedingungen für die Festnahme, Haftbedingungen oder «Abschiebemethoden» für Personen ohne entsprechenden Aufenthaltsstatus darlegt; u.a. plant sie die Erweiterung einer gemeinsamen «Liste der sicheren Herkunftsstaaten» als Verordnung zu beschließen. Ziel ist die deutliche Zunahme von Sammelabschiebungen, die zukünftig vermehrt von Frontex übernommen werden sollen. Die EU-Grenzagentur ist angehalten, hierfür ein «Rückkehrbüro» einzurichten.
Für 2016 kündigt die Kommission weitere Legislativvorschläge zur Stärkung des Mandats der Grenzagentur an. Die Rede ist von einem «Doppelmandat», wonach Frontex außerdem mehr Kompetenzen bei der Durchführung von Operationen an den EU-Außengrenzen erhalten soll. Ankommende Geflüchtete würden mit «schnellen Eingreifteams» an den Außengrenzen aufgegriffen, dort in neuen Sammellagern interniert, mithilfe von Frontex-Mitarbeitern im Schnellverfahren durch das Asylverfahren geschleust und dann in Frontex-Massenabschiebungen außer Landes gebracht.
Konferenz in Malta nutzen!
Die aktuelle Flüchtlingskrise wirft die Frage nach der grundsätzlichen Ausrichtung der EU-Politik auf: Soll weiter an einer «Festung Europa» gebaut werden, umringt von einem Kordon wirtschaftlich völlig abhängiger Länder, die kaum die Möglichkeit haben, eine eigenständige Sozialpolitik zu betreiben und in die die Flüchtlingsabwehr hineinverlagert wird? Oder soll die EU endlich anfangen, die Einreise zu legalisieren und zugleich eine Nachbarschaftspolitik betreiben, die auf Kriege und Rüstungsexporte verzichtet und die soziale und wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder fördert – auf dem Balkan wie in Afrika? Meines Erachtens wäre nur die letzte Option mit den viel beschworenen europäischen Werten vereinbar.
Mitte November findet in Malta die «Valletta Conference on Migration» statt. Die Regierungschefs der EU laden dort afrikanische Länder zu Gesprächen über die derzeitigen Migrationsbewegungen ein. Das Auswärtige Amt ist in die Vorbereitung eingebunden und befürwortet, dass die Bekämpfung von Fluchthilfe, mehr Grenzüberwachung und schnellere Abschiebungen ganz oben auf der Agenda stehen. Ich fordere die Bundesregierung hingegen auf, in Valletta andere Prioritäten zu setzen.
Kurzfristig müssen wesentlich mehr Mittel für die Bewältigung der aktuellen Krise bereitgestellt und die Politik der «Festung Europa» durch legale Einreismöglichkeiten beendet werden. Mittelfristig kann nur eine grundlegende Umkehr die Ursachen von Flucht wirksam bekämpfen: weg von militärischen Eingriffen, von Waffenexporten, Wettbewerbslogik und Abschottung, hin zu ziviler Konfliktprävention und -bearbeitung sowie zu solidarischen Handelsbeziehungen.
*Andrej Hunko ist MdB der LINKEN und für diese Mitglied im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union sowie Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.
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