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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2015
Ausmaß und Ursachen
von Manuel Kellner

Der Islamische Staat (IS) ist nicht der Hauptverantwortliche für die Massenflucht aus Syrien. Die Verantwortung teilt er sich brüderlich mit dem Westen und der Assad-Diktatur.
Laut Bericht von Amnesty International vom 4.September dieses Jahres sind über die Hälfte der Bevölkerung Syriens (20 Millionen) auf der Flucht, die meisten im eigenen Land. Über 4 Millionen sind ins Ausland geflohen (Stand: Juni 2015), davon leben 95% heute in nur fünf Ländern: in der Türkei (1,9 Millionen), im Libanon (1,2 Millionen), in Jordanien (650.000), im Irak (250.000) und in Ägypten (132.000). Im Libanon erhalten die Flüchtlinge weniger als einen halben Dollar pro Tag für Lebensmittel. In Syrien selbst wären weit über 10 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen, die sie aber nicht erreicht.
Russland, das ebenso wie der Iran das Assad-Regime entscheidend stützt, sowie Saudi-Arabien und die Golfstaaten Qatar, die Vereinigten Emirate, Kuwait und Bahrain, die die in Syrien operierenden Islamisten unterstützen, gehören zu den Ländern, die keinerlei syrische Flüchtlinge aufnehmen.
Auf den ersten Blick sind die Fluchtursachen klar: Krieg seit 2011 mit 200.000–300.000 Toten, ganze Städte in Schutt und Asche, eine beispiellose humanitäre Katastrophe. In den Medien gilt der IS (Daesh) als Hauptschuldiger, eine ultrareaktionäre Terrororganisation, die sich mit barbarischen Gewaltorgien brüstet, um ihre Feinde einzuschüchtern und neue Killer zu rekrutieren. Von den in Assads Kerkern zu Tode Gefolterten ist kaum noch die Rede.

Mörderische Diktatur
Der IS ist aber erst im Herbst 2013 in Syrien aufgetaucht, und da waren schon über 6 Millionen Syrer auf der Flucht. Die Hauptursache dafür waren die Bomben der Assad-Diktatur auf große Teile der eigenen Bevölkerung, die Repression, die willkürlichen Verhaftungen.
Auch seit dem Eingreifen des IS in Syrien verursacht das Assad-Regime laut Angaben von Amnesty bei weitem die meisten Todesopfer, in etwa siebenmal so viele wie die bewaffneten islamistischen Terroristen. Ganze Städte werden belagert, ausgehungert, von jeder Versorgung mit Strom, Wasser, Medikamenten u.a. abgeschnitten. Der blinde Terror mit Fassbomben, die von Hubschraubern aus abgeworfen werden, ist keine Erfindung der Gegner des Assad-Regimes.
Beispielhaft sei eine Pressemeldung von Amnesty International vom 5.Mai 2015 zitiert:
«Seit Januar 2014 sind in der Provinz Aleppo mehr als 3000 Zivilisten durch Fassbomben der syrischen Luftwaffe getötet worden. Mindestens 600 Zivilisten starben durch Angriffe mit Mörsern und improvisierten Raketen durch bewaffnete Oppositionsgruppen. Der syrische Präsident Assad bestreitet bis heute, dass die Luftwaffe jemals Fassbomben eingesetzt hat. Die syrische Luftwaffe bombardiert auch zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen, Moscheen und öffentliche Plätze. Viele Schulen und Krankenhäuser wurden daher in Bunker und Keller verlegt, um den wahllosen Bombardierungen zu entgehen.»
Das Assad-Regime hat selbst viel dafür getan, den IS stark zu machen. Gemeinsam mit ihm hat er das Feuer auf die demokratisch und säkular gesonnenen Kräfte konzentriert. Diese haben kaum Unterstützung aus dem Westen erhalten, gerade auch nicht von der großen Mehrheit der politischen Linken, die den Konflikt hauptsächlich geostrategisch beurteilt und die Legitimität der Auflehnung gegen die Assad-Diktatur entweder verdrängt oder bestreitet.
Die am ehesten demokratisch und säkular orientierten Kräfte unter den bewaffneten Konfliktparteien in Syrien, die Freie Syrische Armee (FSA), hat nie effiziente Waffen, z.B. Flugabwehrgeschütze, erhalten. Heute kann sich Assad gar als möglicher Verbündeter gegen den IS ins Spiel bringen. Der IS ist der «ideale Feind» für ihn, eine äußerst hässliche Vogelscheuche für alle, die eine Alternative zu seinem Regime anstreben – man muss nur sehen, welch große Anziehungskraft das befreite, vielfältig demokratisch selbstorganisierte Raqqa hatte, bevor es vom IS eingenommen und zur bösartigen Karikatur eines mittelalterlichen Kalifats gemacht wurde.

Die Verantwortung des Westens
In einer gemeinsamen Erklärung vom 4.September haben Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch von der Partei Die LINKE die Assad-Diktatur als Fluchtursache nicht einmal erwähnt. Sie benennen stattdessen – vollkommen zu Recht – die Verantwortung des Westens, der die Waffen exportiert, Interventionskriege veranstaltet und seine Handelsinteressen rücksichtslos durchsetzt. Dabei fällt dann aber das Wort vom «regime change», als zettele der Westen künstlich Revolten gegen missliebige Regierungen an, als ob Regierungen und Geheimdienste Massenbewegungen auslösen könnten.
In diesem Konflikt ist die Verantwortung des Westens in der Tat groß, obwohl die Menschen keineswegs vor den USA oder der EU aus Syrien fliehen. Doch die Intervention der USA und ihrer Verbündeten im Irak und die Installierung eines religiös-sektiererischen Regimes dort haben erst die Voraussetzungen für das Erstarken der islamistischen Kräfte in der Region verursacht. Der IS hat starken Zulauf aus den Reihen ehemaliger Offiziere des lange Zeit vom Westen gestürzten Baath-Regimes von Saddam Hussein. Und der Hauptverbündete des Westens in dieser Region, die wahhabitische Monarchie Saudi-Arabiens, ist nicht viel besser als ein IS an der Macht.

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