von Angela Huemer
Seit langem beschäftige ich mich mit dem Thema Flucht und Migration. Als nun die Euphorie von Anfang September nach und nach einer, sehr freundlich gesagt, miesepetrigen Stimmung wich, traf ich eine Entscheidung. Bei den diversen Äußerungen von rassistischem Antiislamismus und den hämischen Bemerkungen «Wir schaffens ja doch nicht» schnellt regelmäßig mein Blutdruck in die Höhe. Gleichzeitig gab es in unseren Breiten selten so viele Fälle von Großherzigkeit. Ich will mich auf letztere konzentrieren, denn das einzige, was wir dem «Die Stimmung kippt»-Gerede entgegensetzen können, ist, die Dinge selber in die Hand zu nehmen. Das geht überraschend leicht und steht jedem und jeder offen. Die Auswahl dessen, was man tun kann, ist groß. Tun wir’s, jeder nach seinen Kräften und dem was er geben kann und will.
Ich hatte mich auf eine andere Fahrt als sonst von Köln nach Salzburg eingestellt. Die Sparpreise ausgebucht, die Railjets und Eurocities zwischen München und Salzburg bis auf weiteres suspendiert, durchquerte ich Bayern per Regionalzug. Ab Würzburg stiegen Heerscharen von Oktoberfest-Besuchern, gut gelaunt und mit nicht wenigen Flaschen Bier gerüstet.
An diesem Tag fuhren die Züge nur bis Freilassing, die letzte Stadt vor der österreichischen Grenze. In die Gegenrichtung gibt es an diesem Abend keine Züge mehr.
Anfang September hat alles begonnen. Überfordert, genervt von ihrem EU-Grenzlanddasein und feindselig ließ Ungarn die Flüchtlinge, die über die sog. Balkanroute – Türkei, Griechenland, Mazedonien – gekommen waren, auflaufen. Durch mangelnde bzw. inexistente Versorgung entstand eine Notsituation, auf die Angela Merkel und ihr österreichischer Kollege Werner Faymann reagierten und die Grenzen öffneten. Zuvor war in einem abgestellten Kühlwagen entlang der burgenländischen Autobahn ein grausiger Fund gemacht worden, in der sommerlichen Hitze waren 71 Menschen erstickt. Die Öffentlichkeit war schockiert, sogar flüchtlingsskeptisch- bis feindliche Boulevardmedien weinten fleißig Krokodilstränen. Das Septembermärchen brach aus. Die Augen der Welt waren auf Angela Merkel und Deutschland gerichtet, als sie meinte: «Wir schaffen das.» Und man schaffte es, mit viel Engagement von Leuten, die einfach anpackten.
Es war eine Frage der Zeit, bis das Ganze kippen würde. EU-Gipfel folgten, die strikte Weigerung mancher Staaten blieb und bleibt standhaft aufrecht, nur wenige EU-Staaten – Schweden, Deutschland, Österreich, Italien, Belgien und die Niederlande – sind bereit, die Herausforderung anzunehmen. In den wenigen Wochen seither ist Routine entstanden, weiterhin kommen Flüchtlinge bei Nickelsdorf über die ungarische Grenze. In Wien befeuerte das Flüchtlingsthema den Wahlkampf.
Alltag
Am Hauptbahnhof in Salzburg war außer dem großen Rot-Kreuz-Zelt und den Toilettencontainern alles wie sonst (Container am Bahnhofsplatz waren wegen des Bahnhofsumbaus bis vor kurzem Alltag am Salzburger Bahnhof).
Neugierig und mit dem Wunsch zu helfen, kam ich wenige Tage später zum Bahnhof zurück, einige Leute mit Caritas-Weste waren zugange, Rot-Kreuz-Bedienstete standen vor dem Zelt und im Bahnhof war mehr Polizei als sonst. Von Flüchtlingen keine Spur. Ein Polizist erzählte, es laufe alles sehr ruhig ab und es lasse einen schon nicht kalt, vor allem, wenn Kinder involviert sind, er sei selber Familienvater. Der Mann am Bahnschalter wirkte ebenfalls entspannt, Sie sehen ja, man merkt eigentlich gar nichts.
In Bayern meinen mittlerweile viele, die Österreicher sind die aktivsten Schleuser. Nahe der grünen Grenze werden Flüchtlinge in großen Hallen untergebracht, man weiß genau, dass sie sich selbständig zu Fuß weiter auf den Weg machen, manchmal bekommen sie sogar eine Landkarte mit, damit sie den Weg auch finden. Das ist gefährlich, unlängst wurde eine Frau, die nach Deutschland weiter wollte, des Nachts getötet, eine Autofahrerin hatte sie im Dunkeln übersehen.
Wird Hilfe gebraucht?
Wie man helfen kann, fragte ich die Caritas-Dame, hauptamtlich, wie sie sagt, aber freiwillig hier am Bahnhof. Gegen 18 Uhr könnte man unter Umständen wieder Hilfe gebrauchen, da erwarte man den nächsten Sonderzug aus Wien.
Im Internet hatte ich gesehen, dass es eine ehrenamtliche Unterstützergruppe an der Grenze Salzburg/Freilassing gibt. Hier waren Schichten eingetragen, die besetzt werden sollten mit Freiwilligen für die Essens- oder Kleiderausgabe. Ich fuhr einfach hin. Salzburg und Freilassing sind mittlerweile zusammen gewachsen, der kleine Grenzverkehr ist Alltag, viele Leute pendeln nach hüben oder drüben, Freilassinger Schüler besuchen Salzburger Gymnasien, Salzburger Unternehmen betreiben Zweigstellen in Freilassing.
Angekommen im ehemaligen Zollgebäude, läßt mich ein junger Grundwehrdiener aufs Gelände. Zelte zum Schlafen sind aufgebaut, eines ist für Kinder und Frauen reserviert. Ich registriere mich bei einem Beamten des Salzburger Magistrats. In der Stadt bemerkt man gar nichts von all dem, meine ich fragend und er bestätigt, wenn die Leute am Bahnhof ankommen, werden sie gleich per Bus weitertransportiert. So weit läuft alles gut, meint er, die jungen Afghanen sind mitunter etwas unruhig und ungeduldig, aber meist reicht eine klare Ansage.
Eine junge Freiwillige, die gerade Kaffeepause macht, frage ich, was denn zu tun sei. In einer Stunde, meint sie, öffnet die Kleiderausgabe, ich könnte da schon mal nachsehen und prüfen, woran es mangelt. Sie wohnt in der Nähe, sagt sie, als ich frage, was sie hierhergebracht hat. Sie hat die Flüchtlinge gesehen, die zu Fuß über die Grenze gingen, da ist sie einfach hergekommen und tut das nun sehr oft, seit vier Wochen. Eigentlich schließt sie gerade ihr Masterstudium ab.
Viel Zeit ist nicht für Smalltalk, wir holen den Schlüssel zur Kammer und sie zeigt mir den kleinen Raum, indem viele, viele Klamotten nach Kategorie und Größe sortiert sind. Viel Kinderkleidung, Schuhe, wenig Windeln und zu wenig Herrensachen. Ich setze eine Mängelliste auf, eine Kollegin ergänzt sie und schreibt sie ordentlicher. Irgendwann kommt ein frischer Schwung an nützlichen Dingen. Die Caritas hat ein ganz großes Kleider- und sonstiges Lager, von dort wird die Zeltstadt immer wieder bestückt.
Viel zu groß
Um 18 Uhr öffnet die Kleiderkammer. An der Tür steht ein Tisch, rechts ist die Schlange der Männer, links die für Frauen und Kinder. Auf dem Tisch, der auch als Art Barriere dient, liegen Zettel, auf denen die einzelnen Kleiderstücke abgebildet sind, so geht die Verständigung besser. Bald merken wir, dass wir viel zu wenig Herrenschuhe haben, Sport- bzw. Turnschuhe. Und die Jungs sind durchaus modebewusst. Eine zugegebenermaßen den meisten etwas weite Burberry-Cordjacke kommt nicht gut an. Socken nehmen fast alle mit. Die Zusammenarbeit der Freiwilligen klappt wunderbar. Mitunter lassen wir kleine Kinder oder Frauen rein, damit sie anprobieren bzw. aussuchen können. Ein etwa sechs Jahre altes, syrisches Mädchen wählt rigoros nur rosa Schuhe und Pullover und erklärt mir mit Gesten, dass sie auch Unterwäsche braucht. Ein vierjähriger Junge strahlt, als ihm die schöne grüne Winterjacke auf Anhieb passt, und sein Glück ist perfekt, als wir seine dünnen Turnschuhe gegen robuste neue mit Klettverschluss tauschen. Eine ältere Syrerin hat das Problem, dass die Hosen, die wir ihr reichen, zu schmal sind. Ich versuche es mit einer der vielen Herrencordhosen, viel zu lang, gibt sie mir zu verstehen, ich zeige ihre, dass man die Hosen ja auch hochkrempeln kann. Das leuchtet ihr sofort ein. Gegen Ende kommen vor allem sehr junge Afghanen, da sind nur noch voluminöse Pullover und riesige Hosen vorhanden, Schuhe ohnehin nicht mehr. Da fällt mir ein, dass wir einfach kleine Damensachen, die «unisex» wirken, verteilen können. Mit Erfolg. Die Kurz- und Langarmleibchen finden Anklang.
Selbsthilfe
Langsam werden es weniger, die bei der Kleiderausgabe anstehen, und ich finde Zeit, mit dem anderen Übersetzer zu reden, Salim aus Damaskus. Sein Deutsch ist passabel, es überrascht mich zu hören, dass er erst seit drei Monaten hier ist. Er ist legal aus Syrien ausgereist, sagt er, gemeinsam mit seiner Frau und seinem Kind ist er nach Beirut. Die beiden sind noch dort, denn die Flucht nach Österreich war illegal, sagt Salim, der ein kleines Kreuz um den Hals trägt. Ob er evangelisch oder katholisch ist, will ich wissen. Weder noch, antwortet er, griechisch-orthodox. In Damaskus hat er für Volkswagen gearbeitet, im Vertrieb, seine Frau für Porsche. Man spürt, dass er es kaum erwarten kann, wieder zu arbeiten, und wie froh er ist, hier bei der Kleiderausgabe als Dolmetscher aushelfen zu können.
Ein etwa achtjähriger Junge schlüpft zu uns herein und will uns etwas sagen. Leider kann Salim nicht helfen, der Kleine spricht Farsi, er ist Afghane. Als er Kleidung ablehnt, sich aber immer wieder die Schläfen reibt und wir bemerken, dass er ganz glasige Augen hat, bringt ihn Conni zum Arzt. Conni ist die sympathische und erstaunliche Sozialarbeiterin, die «nur» einmal in der Woche kommt, weil sie schon beruflich Flüchtlinge und Obdachlose berät, die sie manchmal auch beherbergt und noch dazu zwei kleine Kinder hat.
Ehrenamt
Gegen 20.15 Uhr ist die Schicht zu Ende. Auf dem Weg zum Ausgang begegnen wir Doraja Eberle, einige Jahre lang Landesrätin und seit dem Jugoslawienkrieg unermüdliche ehrenamtliche Helferin, gelernte Sozialarbeiterin. Wir unterhalten uns. Sie ist nur noch ehrenamtlich tätig, aber bei allen Krisenstäben dabei. Man merkt, wie sehr sie sich auch mit praktischen Dingen auskennt. Die Duschcontainer, sagt sie, sind noch nicht aufgesperrt, da bräuchte es mehr Leute, die helfen. Und sie erzählt, wie oft sie in ähnlichen Situationen schon erlebt hat, dass anfangs ganz viel ehrenamtlich passiert, sozusagen improvisiert wird, und dann die Koordination von NGOs bzw. von der Stadt oder vom Bundesland übernommen wird und das Ehrenamt sich wieder zurückzieht, nicht nur wegen etwaiger Animositäten. Dabei ist ehrenamtliche Hilfe ganz wesentlich, die Kleider- und Essensausgabe erklärt sie, könne eigentlich nur von ehrenamtlichen Helferinnen durchgeführt werden.
Sie redet viel mit den Flüchtlingen. Viele hätten zu idyllische Vorstellungen und zuckten zusammen, wenn sie hören, dass ihr nächster Halt in Deutschland vermutlich eine Massenunterkunft sein wird und Schweden ein ganzes Stück weiter entfernt ist, als sie dachten. Oft ist Eberle in Radios oder Telefonhotlines von Zeitungsredaktionen zu Gast, um Auskunft zu geben. Dabei bittet sie die Redakteure, auch unliebsame und herausfordernde Anrufer durchzustellen. Oft ruft sie diese Leute dann in aller Ruhe zurück – das tut sie, wenn sie eine diffuse Angst spürt, was die eigentliche Ursache von Ablehnung und Vorurteilen ist.
Ausgang offen
Gegen 21 Uhr verabschiede ich mich. Im Vorbeigehen sehe ich, wie sich die Frauen mit den Kindern in ihre Zelte zurückziehen und Isomatten und Schlafsäcke verteilt werden. Ihren nächsten Halt in Bayern werden sie wohl am nächsten Tag erreichen. Zu Fuß. Über die Fussgängerbrücke, immer dann, wenn die Bayern mit einem Signalstab signalisieren, dass wieder welche rüber können. Keine Ahnung, was passiert, meint Eberle, wenn die Bayern dicht machen. So richtig sei die Unterbringung von womöglich Tausenden, die über das Burgenland und Wien nach Salzburg kommen, nicht klar.
Trotzdem mag mir nicht bang werden an diesem Abend. Einige junge Afghanen haben doch noch ein paar passende T-Shirts bekommen, ein Vierjähriger wurde gut für den Winter gerüstet, ein kleines Mädchen in ihrer Lieblingsfarbe Rosa eingekleidet und zum Abschied gab mir ein etwa Dreijähriger einen sog. High-Five, wir klatschten die Hände gegeneinander, er tat das, um mir seine schönen neuen Handschuhe zu zeigen.
Während ich auf den Bus warte, fällt mir ein, was Doraja Eberle über die Kinder erzählte, die auf der Flucht sind. Bis zum Alter von etwa drei Jahren vergessen sie die schlimmen Dinge, am stärksten traumatisiert werden Kinder im Alter von 3 bis 10, da kriegen sie alles mit, merken es sich, können es aber kognitiv noch nicht einordnen. Mir fällt der kleine Afghane mit den glasigen Augen ein.
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