Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2015
Zu einem missglückten Debattenbeitrag von Christian Leye
von Thies Gleiss*
1.
Der stellvertretende Landessprecher der LINKEN-NRW, Christian Leye, hat einen Text
zum Thema linke Wirtschaftspolitik veröffentlicht, der im Vorfeld des Landesparteitages
am 28.11.2015 die wirtschaftspolitische Positionierung der LINKEN-NRW bereichern
soll. Ich halte diesen Text – der nach einer kollektiven Diskussion, an der ich wegen
meiner gegenwärtigen Terminbelastung im Betrieb, in dem ich lohnarbeite und
Betriebsratsvorsitzender bin, leider nicht teilnehmen konnte, reichlich ergänzt und
verändert wurde – immer noch für komplett verunglückt.
Hätte der Text sich der Wirtschaftspolitik der LINKEN gewidmet, so wäre er insofern
besser zu diskutieren, als er in der Tat die gleichen methodischen und inhaltlichen
Fehler macht, denen leider mittlerweile die Mehrheit in der LINKEN aufsitzt. Aber klug
und richtig ist diese Politik nicht, und leider auch nicht als linke Politik zu empfehlen.
2.
„Wirtschaftspolitik wird in der Wirtschaft gemacht“ – so das banale Verständnis am
Stammtisch, in dieser besonderen Wirtschaft also, und ebenso im
Durchschnittsbewusstsein der Menschen in diesem Lande. Die bürgerlichen Parteien im
Lande sind sich regelmäßig nicht zu blöde, diese Plattitüde zu ihrem Programm zu
erheben, und die Rechtsentwicklung der SPD unter Schiller, Schmidt und letztlich
Schröder und Steinbrück lief exakt unter dieser Parole ab. Gerhard Schröder ergänzte
sie mit der dumpfbackigen Anmache gegenüber Oskar Lafontaine noch um den
realpolitischen Aphorismus „Es gibt keine linke oder rechte, sondern nur noch moderne
Wirtschaftspolitik“.
Wahrscheinlich Millionen von bedruckten Seiten, ob mit ideologischer,
wissenschaftlicher oder politisch-pragmatischer Zielsetzung ist weit gehend egal, haben
sich in diesem Denkschema zu „Wachstum“, „Industriepolitik“, „Förderung von
Innovation“, „Hilfe für Klein- und Mittelunternehmen“ oder eben „Wirtschaftspolitik“
geäußert. In der SPD und später bei den Grünen war es stets ein besonderes Anliegen
der Parteirechten, der „Modernisierer“ und „Reformer“ ihre angebliche Vernunft mit
dem Vehikel „Wirtschaftspolitik“ voranzutreiben.
Genützt hat es alles nichts. Der Wert all dieser angeblich so wertvollen Expertise und
des angeblich so zupackenden und konkreten Machertums ist nicht viel größer als der
von den Frühling-, Sommer-, Herbst- und Wintergutachten der so genannten
Wirtschaftsweisen, über die Entwicklung der Marktwirtschaft.
Die realen Produktionsverhältnisse, die Macht- und Eigentumshierarchien des
modernen Kapitalismus, die antagonistischen Interessengegensätze (da ich zurzeit fast
rund um die Uhr als Betriebsrat an einem Interessenausgleich arbeite, weiß ich sehr
genau, wovon ich spreche) und vor allem der reale Klassenkampf tauchen in diesen
Texten zur Wirtschaftspolitik nur am Rande, soweit sie nicht wegzuideologisieren sind,
auf.
Die erste Maßnahme linker Wirtschaftspolitik auf der Ebene von Wahlen oder gar
Regierungsübernahme ist deshalb so zusammenzufassen: Abschaffung des
Wirtschaftsministeriums.
3.
Linke Wirtschaftspolitik muss deshalb zu allererst aufklären. Das beginnt mit der
Sprache. Was ist „die Wirtschaft“? Was ist „Wachstum“? Was ist „Innovation“? Was sind
„Klein- und Mittelbetriebe“? (Zu letzteren könnte ich, weil ich seit 30 Jahren in einem
mittelständischen Industrieladen maloche, Romane schreiben). In einer
Klassengesellschaft gibt es dafür keine gemeinsame Sprache, so wie es kein
gemeinsames Interesse gibt. Es gibt private Kapitalakkumulation und variables Kapital,
gemeinhin als Löhne bekannt. Es gibt Konkurrenzkämpfe zwischen den Kapitalen und
auch zwischen den Arbeitskräften. Es gibt auch, und zwar jeden Tag, egal wie die
Tagesordnung eines Parlamentes aussieht, Klassenkämpfe, die sich fast immer um die
Frage des Lohnes, der Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen drehen. Es gibt in den
Lohnkämpfen ein „historisch-moralisches Element“, in dem sich für die heutigen
Arbeiter_innen die Kämpfe der Vergangenheit ausdrücken, in der Regel zu ihrem Wohl,
aber wenn es bergab geht – politisch und ökonomisch – dann auch mit bitterem
Ausgang. Es gibt eine gesellschaftliche Kräfteverteilung, die sich ökonomisch in der
Lohnquote ausdrückt, und deren Höhe viel über Notwendigkeiten „linker
Wirtschaftspolitik“ aussagt.
Diese Aufklärung über die Sprache und Begriffe hat heute eine zweifache konjunkturelle
Aktualisierung erfahren: Erstens erleben wir seit dreißig Jahren – also ungefähr gut eine
ganze Arbeiter_innen-Generation – einen Wechsel in der Sprache der Herrschenden (in
den reichen Teilen der Welt, in den übrigen Teilen gab es nie eine andere Sprache als
heute). Das soziale Klimbim, das sozialpartnerschaftliche Gedöns und all die ideologisch
zu neutralen und angeblich harmonischen Begriffen weichgespülten
gesellschaftspolitischen Codes weichen einem harten Klassenkampf-von-oben-Sprech.
Im Grunde ist das für sprachliche Klarheit ein Vorteil, aber „linke Wirtschaftspolitik“
muss diesen auch nutzen.
Und zweitens drängt sich seit fünfzig und mehr Jahren ein neues gesellschaftliches
Jahrhundertthema in die Klassenkämpfe und ihrer Sprache: Die ökologische Zerstörung
der Biosphäre. Das nötigt einer „linken Wirtschaftspolitik“ eine besondere begriffliche
Klarheit und auch Neubestimmung bei solchen zentralen Kategorien wie „Wachstum“,
„Innovation“, „Fortschritt“, „Freiheit“ auf.
Schon früher hat sich das Thema „Gender-Ungleicheit“ in die Auseinandersetzungen
gedrängt – leider nehmen die Erfolge dieser Frauenkämpfe in Sachen Sprache des
Klassenkampfs heute schon wieder ab. Auch der männliche Arbeiter beteiligt sich am
Zurückschlagen des Patriarchats.
Wenn ein Text mit dieser ersten elementaren Zielsetzung über „linke Wirtschaftspolitik“
geschrieben werden würde – er sähe komplett anders aus als der Text von Christian.
4.
„Linke Wirtschaftspolitik“ hat über diese elementare Aufklärung, wie diese Gesellschaft
funktioniert, natürlich auch konkrete Zielsetzungen. Sie haben nur wenig mit den
Projekten zu tun, denen sich der Text von Christian widmet.
Das gesellschaftliche Kräfteverhältnis der Klassen muss aus linker Perspektive zu
Gunsten der Arbeiter_innenklasse verschoben werden. Deshalb unterstützen wir mehr
als alle anderen die Kämpfe um Wiederaneignung. Jeden Tag werden die Arbeiter_innen
– und auch die vielen angeblich Selbstständigen, die Erwerbslosen, die Kinder und
Jungendliche,, die Rentner_innen die von solchen Einkünften mit abhängen – enteignet.
Ein Teil des von ihnen produzierten Wertes verschwindet unter die Verfügung des
Kapitals. Lohnsteigerungen, Arbeitszeitverkürzungen, frühere Verrentung ohne
Einbußen, Ausbildungsumlagen, elternunabhängige Förderung für Studierende und
Schüler_innen usw., all das sind Formen der Wiederaneignung, die linke Parteien massiv
unterstützen sollten. Das ist die wichtigste Form der Umverteilung – bei Löhnen und bei
der Arbeitszeit – für die Linke kämpfen müssen. Umverteilung über Steuern ist davon
abgeleitet.
In Nordrhein-Westfalen finden jeden Tag und manchmal komprimiert in größeren
Lohnkämpfen solche Kämpfe um Wiederaneignung statt. „Linke Wirtschaftspolitik“
muss ein großes, lautes und unmissverständliches Bekenntnis abgeben, in diesen
Kämpfen auf der Seite der Arbeiter_innen zu sein. Wir wollen eine ausdrückliche Politik
der Vertretung von Klasseninteressen, weil bisher immer nur das Interesse der anderen
Klasse die Politik bestimmt hat.
In Nordrhein-Westfalen gibt es jede Woche, und gegenwärtig wieder vermehrt, reale
Katastrophen der kapitalistischen Marktwirtschaft: Firmen gehen pleite (Küpperbusch,
Kettler, Opel, bald wieder Thyssen usw.), Firmen schließen sich zusammen und
erzeugen „Synergieeffekte“ in Form von Entlassungen. „Linke Wirtschaftspolitik“ muss
eine klare Regel fordern und erkämpfen: Die Lohnabhängigen haben diese Katastrophen
nicht verursacht und hatten keine Möglichkeiten, sie zu verhindern, deshalb tragen sie
auch nicht einen Cent der Folgekosten. Der Staat muss – so wie er es nach jahrelangen
Kämpfen der Frauen und immer noch nicht ausreichend, auch für Frauen macht, die von
Männern verlassen wurden und keine Einkommen mehr haben – notfalls zum
Bestandsschutz der Einkommen (das ist nicht gleichbedeutend mit dem Erhalt der
Arbeitsplätze) einspringen und sich bei den Verursachern das Geld zurückholen. Verbot
von Massenentlassungen ist dabei eine kleine Maßnahme der Prophylaxe.
Wenn die LINKE in Zusammenarbeit mit der Linken regiert – und sie sollte immer und
überall fordern, dass sie endlich regieren soll und will, weil die anderen Parteien nicht
versagt haben, sondern Büttel eines antagonistischen Interessenkartells sind, und das in
der Vergangenheit sogar oft nicht schlecht – dann muss ihr Anliegen sein,
„wirtschaftspolitisch“ Musterbeispiele in Sachen Löhne und Arbeitszeiten zu schaffen.
Sie soll öffentliche Sektoren mit höheren Löhnen, kürzeren Arbeitszeiten und
humaneren Arbeitsbedingungen fordern und aufbauen.
5.
Der Kampf um Wiederaneignung ist das eine und das wichtigste Element „linker
Wirtschaftspolitik“.
Das andere ist die Verbesserung der Kampfbedingungen für die Arbeiter_innenklasse.
Das bedeutet Ausbau der Arbeiter_innenrechte, Vetorechte für die Beschäftigten und
Ausbau der mickrigen, reaktiven „Mitbestimmung“ von heute zu einem realen Netz von
Kontroll- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Das bedeutet natürlich auch
Ausweitung des Streikrechts. Da ist sehr viel auch auf Landes- und sogar kommunaler
Ebene zu verwirklichen – aber im Prinzip sind diese Kämpfe um soziale Rechte
grenzenlos.
„Linke Wirtschaftspolitik“ hat in dieser Sicht auch „große strategische Zielsetzungen“:
Der komplette Umbau der überzentralisierten, die Umwelt zerstörenden Produktion.
Das geht selten, sehr selten, einvernehmlich mit den bisherigen Eignern und
Entscheidern der großen Unternehmen. Das sind Machtkämpfe, bei denen die
politischen Vorgaben der LINKEN eindeutig sein müssen: Vergesellschaftung der
Produktion, aber eben auch unter vergesellschafteten Produktionsmitteln und nicht
Vergesellschaftung wie heute, mit privater Aneignung der Gewinne und
gesellschaftlicher Organisierung der Arbeit.
Ein kleiner Teil der „großen strategischen Zielsetzungen“ erfolgt im Übrigen auch in der
Förderung und Ausbau kleiner Leuchturminitiativen und Inseln im Kapitalismus:
Genossenschaften, solidarische Ökonomien usw. Sie gibt es auch in NRW und „linke
Wirtschaftspolitik“ sollte sie integrieren, ohne ihre Möglichkeiten ideologisch zu
überschätzen. Das hören die Freunde von der SAV nicht gern, aber ein Teil der neuen
linken Wirtschaftspolitik entsteht auch in diesem Milieu.
Der größere kommt allerdings durch staatliche Maßnahmen einer linken Regierung
zustande, und der größte durch Wiederaneignungskämpfe der Arbeiter_innenklasse,
dort, wo sie arbeitet und wohnt.
Soweit nur ein paar Anregungen, wie ein Text zur „linken Wirtschaftspolitik“ aussehen
sollte. Seine Ausarbeitung kann natürlich ein kleines Autorenkollektiv machen, besser
wäre ein kollektiver Prozess, der möglichst viele Mitglieder der LINKEN einbezieht.
* Köln, 08. November 2015

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