von Stephan Krull*
Der Welt größter Automobilkonzern wollte Volkswagen werden. Im Sommer 2015 war es fast so weit: die meisten Autos, die meisten Fabriken, den höchsten Profit, die meisten Leiharbeiter und… betrügerische Abgaswerte. Für Hunderttausende Beschäftigte von VW kam der Schock über Nacht: In Millionen Fahrzeuge, hauptsächlich in Europa und Amerika, wurde eine betrügerische Software eingebaut. Kunden, Umwelt und Steuerbehörden wurden systematisch, vorsätzlich und mit krimineller Energie millionenfach hinters Licht geführt.
Die Angst der Beschäftigten vor Einbußen, vor Arbeitsplatzverlusten und möglicherweise vor Werksschließungen ist begründet: Niemand kann heute sagen, ob das Unternehmen diesen Betrugsskandal überleben wird. Die Aussagen von Unternehmensleitung und Betriebsrat, dass das Unternehmen gestärkt aus der Krise hervorgehen werde, klingen wie Pfeifen im dunklen Wald.
Erste Produktionseinschränkungen, erste Nichtverlängerung von Zeitarbeitsverträgen, erste Investitionskürzungen führen schon zu spürbaren Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in der sogenannten «Randbelegschaft» und bei den Zulieferern. In der monostrukturierten Region von Süd-Ost-Niedersachsen, in den schwach industrialisierten Regionen Nord-Hessen und Ostfriesland kann das schnell zur Katastrophe werden. In West-Sachsen hat VW nicht nur 10.000 Beschäftigte, sondern darüber hinaus über 200 Zulieferbetriebe und Kooperationspartner. Die dort geplanten 1,3 Milliarden Investitionen wird es zum großen Teil nicht geben.
Die Bürgermeister und Kämmerer u.a. der Städte Ingolstadt, Wolfsburg, Braunschweig, Zwickau haben bereits die Notbremse gezogen, Haushaltssperren verhängt und Haushaltsplanungen für 2016 ausgesetzt.
Das alles geschah ab Mitte September pünktlich zur Eröffnung der 66. Internationalen Automobilausstellung (IAA), der «guten Stube» der Automobilhersteller. Von Wilhelm II. über Adolf Hitler bis Angela Merkel hat noch kein Staatsführer darauf verzichtet, diese obszöne Parade zu eröffnen, so auch dieses Jahr zu Frankfurt am Main. Hochfliegende Pläne von selbstfahrenden Autos sollten dem staunenden Publikum vorgestellt werden. Zwischenbilanz sollte gezogen werden im Milliarden Euro teuren Projekt, eine Millionen Elektroautos in Deutschland auf die Straße zu bringen.
Das ist symptomatisch für diese Industrie: Große Veränderungen versprechen, große Innovationen voraussagen, Milliarden an Subventionen kassieren – um dann doch wieder nur zwei Tonnen Stahl, Elektrik und Kunststoff auf vier Gummiräder zu stellen, um damit einen oder zwei Menschen von A nach B zu fahren.
Seit hundert Jahren wird an den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen vorbei geplant und vorbei gebaut. Jetzt werden wieder staatliche Subventionen kassiert, um Luxusautos elektrisch fahren zu lassen.
Kinder und ältere Menschen, die Menschen auf dem Land und Millionen Menschen in den ärmeren Ländern bleiben buchstäblich «auf der Strecke», uns allen geht «die Luft aus», das Klima wird unerträglich erwärmt, die Meeresspiegel steigen – das alles schert die Manager und Eigentümer der Automobilunternehmen und auch einen großen Teil der Beschäftigten nicht die Bohne.
Und dann dieser Betrug, dieser Skandal, diese Razzia und diese Vorladung vor den US-Kongress, bei der der verantwortliche Manager einräumen musste, bereits im Frühjahr 2014 von der Manipulation gewusst zu haben!
Nicht das erste Mal
Volkswagen ist ein sozialpartnerschaftlicher Musterbetrieb, der regelmäßig von Skandalen erschüttert wird.
Gegründet wurde das Unternehmen von Ferdinand Porsche im Auftrag der Nazis als NS-Musterbetrieb mit geraubtem Gewerkschaftsvermögen und betrieben mit Zwangs- und Sklavenarbeit von Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen und Verschleppten. Ab dem Beginn der 50er Jahren arbeitete VW eng mit dem Apartheidsystem in Südafrika, später auch mit der Militärjunta in Brasilien zusammen – diese Geschichte ist weitgehend noch nicht aufgearbeitet.
Auf Druck der CDU wurde das bis dahin «herrenlose» Unternehmen in den 60er Jahre privatisiert und die Volks- und Betriebsgemeinschaftsideologie der Nazis mit der ersten «Volksaktie» gekrönt. In der ersten Konzentrationswelle in den 60er Jahren übernahm Volkswagen von Daimler-Benz die Auto-Union mit den vier Ringen, davon blieb lediglich Audi erhalten, die übrigen Marken und die Produktion u.a. von DKW und NSU wurden eingestellt.
Beim Auslaufen der Käfer-Produktion in den 70er Jahren gab es existenzielle Turbulenzen mit massivem Personalabbau, weil Nachfolgemodelle (Polo, Golf und Passat) zu spät entwickelt wurden. In dieser Zeit schälte sich, unterstützt durch das VW-Gesetz und die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, die besondere Form der Sozialpartnerschaft bei VW heraus: die entwickelte Mitbestimmung, Kooperation und Korporation (Co-Management).
In den 90er Jahren warb der neue Vorstandschef Ferdinand Piëch, der gegen Daniel Goedevert inthronisiert wurde, den Einkaufschef Ignacio Lopez von General Motors ab, der mit seinen «Kriegern» und vielen Geschäftsgeheimnissen zu Volkswagen wechselte. Wenig später musste Lopez wieder gehen und VW ein vielfache Millionenstrafe zahlen. In den 2000er Jahren kam ans Licht, dass der Personalvorstand Peter Hartz den Gesamtbetriebsrat korrumpiert hatte. Einige kamen vor Gericht, Hartz wurde zu Haft auf Bewährung und zu einer Geldstrafe von über 500.000 Euro verurteilt, der Betriebsratsvorsitzende Klaus Volkert ging für ein Jahr in den Knast.
Und nun, in den 2010er Jahren, der Abgasbetrug mit völlig offenem Ausgang. Der mörderische Kampf um Marktanteile, Absatzmärkte und Höchstprofite ist der wesentliche Grund für diesen Skandal, die Überheblichkeit der Mächtigen kommt hinzu.
Die Multimilliardäre vom Porsche-Piëch-Clan und ihre millionenschweren Manager (Winterkorn & Co.) wähnen sich als Herren der Welt, die nur dem Gesetz der Profitlogik zu folgen haben – mit Betrug und ohne Skrupel, ohne Rücksicht auf staatliche Regelungen und Naturgesetze. Von der Bundesregierung, die von der Lücke zwischen Werksangaben und tatsächlichen Emission längst wusste, werden sie nun wieder mit Subventionen in dieser Haltung unterstützt.
Eine Seilschaft an der Spitze
Da wird ein Problem deutlich, das mit dem Begriff «System Volkswagen» nur ungenau beschrieben ist: Die enge Verbindung zwischen Unternehmen, Staat, Gewerkschaft und Betriebsrat. Seinen Ursprung hat dieses Netz in der Geschichte, in den Eigentumsforderungen der Gewerkschaften und der staatlichen Beteiligung im Zuge der Teilprivatisierung 1960 und dem damit zusammenhängenden VW-Gesetz.
Doch nicht die staatliche Beteiligung und die gewerkschaftliche Mitbestimmung sind das eigentliche Problem, sondern deren Unterordnung unter die Profitinteressen der Eigentümer und das schamlose Ausnutzen dieses Netzes für die private Absicherung einzelner Akteure!
Erinnert sei an den «Scheinwerkvertrag», den Sigmar Gabriel zur Überbrückung erhielt, als er 2003 die Landtagswahl in Niedersachsen verlor: Mit seiner zu dem Zeitpunkt gegründeten Firma Communication Network Service (2003–2004) erhielt er einen 130.000 Euro schweren Beratervertrag von Volkswagen «zur europäischen Industriepolitik». Jetzt sagt er vor Betriebsräten in Wolfsburg: «Die Ehre der Arbeitnehmer muss verteidigt werden.»
Wie schlecht dieses Netz wirkt, wird an der gerade verpassten Chance deutlich, das Unternehmen mit einem anderen Führungspersonal auf einen ökologischen und verkehrspolitisch nachhaltigen Kurs zu schicken. Die Männer «mit Benzin im Blut», die den Karren in den Dreck gefahren haben, die den Betrug zu verantworten haben, werden diese nötige Kehrwende nicht leisten können. Stattdessen hat der Aufsichtsrat – trotz der Mehrheit von Gewerkschaftern in diesem Gremium – den bisherigen Porsche-Chef Matthias Müller zum neuen Vorstandsvorsitzenden von VW ernannt. Der Eigentümergesellschaft von Volkswagen, der Porsche-Holding, steht weiterhin Martin Winterkorn bevor; der neue Aufsichtsratsvorsitzende Hans-Dieter Pötsch und der neue VW-Chef Müller komplettieren den Vorstand dieses Hauptgesellschafter von Volkswagen.
Die Ideologie der Volks- und Betriebsgemeinschaft
Dieses historisch zu erklärende Netzwerk ist Ursache und Symptom der bei Volkswagen besonders verbreiteten Ideologie der Betriebsgemeinschaft – heute «kooperative Konfliktlösung» oder auch Co-Management genannt. Die Ursprünge dafür liegen in der NS-Gründungsgeschichte. Ich empfehle dazu das vor zwei Jahren erschienene Buch Volksburg/Wolfswagen aus dem Ossietzky-Verlag**.
Wie lebendig diese Ideologie der Volks- und Betriebsgemeinschaft ist, wird an vielen Reaktionen der Beschäftigten nach Bekanntwerden der Krise erschreckend sichtbar. Sichtbar wird auch, dass diese Ideologie von der Unternehmensleitung gefordert und von der Betriebsrats- und Gewerkschaftsspitze gefördert wird. VW-Chef Müller rief auf der jüngsten Betriebsversammlung am 5.Oktober unter tosendem Beifall: «Zeigen Sie, dass Sie hinter Volkswagen stehen.» Das Symbol dafür sind Buttons, Aufkleber und T-Shirts mit der Parole «VW und IG Metall: Ein Team, eine Familie». Ein Betriebsratsmitglied, nicht IG Metaller, hat folgende Losung entworfen, die Tausende Beschäftigte als Button tragen oder auf ihr Auto kleben: «In guten wie in schlechten Tagen: Treue, Loyalität, Zusammenhalt.» Andere, in der Tonart nicht weit entfernt von «Ein Volk, ein Reich, ein Führer», tragen: «Ein Verein, eine Stadt, ein Unternehmen.» Am harmlosesten ist da noch: «Mein Herz schlägt für Volkswagen.»
Bald mischen sich in diese standortkorporatistischen und nationalistischen Losungen auch dezidiert antiamerikanische Positionen, nach dem Motto: Haltet den Dieb! Selbst ein sonst ganz fitter Betriebsratskollege erklärt nach der TTIP-Demo in Berlin: «Endlich kommen die Massen auf die Straße, um unseren Ami-hörigen Politikern in den Arsch zu treten» – ignorierend, dass die Bosse von Volkswagen zu den aggressivsten Lobbyisten für TTIP gehören.
Das ist die Richtung dieser Vernebelungsstrategie: Die «eigenen» Herren aus dem Feuer nehmen und mit dem Finger auf andere zeigen: «Wir» gegen das Böse von außen. Gute Unternehmer in Deutschland, böse Kapitalisten in Amerika. So einfach funktionieren Betriebs- und Volksgemeinschaft. Der freiwillige Verzicht auf Entgeltbestandteile («scheiß auf den Bonus») ist die logische Folge dieser Ideologie, die die gegensätzlichen Interessen im Land und im Betrieb negiert.
Ein paar Beispiele noch aus der Facebook-Gruppe «Ich halte zu Volkswagen – egal was passiert»: Sag ja zu VW – sag ja zu Deutschland. Einer für alle, alle für einen – in Treue und Stolz. Hier will jemand unser Land kaputt spielen. Das ist ein Angriff auf die deutsche Automobilindustrie …stört mich, dass einige Kollegen die neuesten Fremdfabrikate auf dem Parkplatz präsentieren. Glaubt ihr, ich kaufe was anderes als ein DEUTSCHES Auto? … die scheiß Amerikanisierung von Deutschland kotzt mich an. VW – Opfer eines genialen Schachzugs. Ein Löwe scheißt darauf, was Schafe über ihn denken. Automobilbau ist Deutschlands höchstes Gut. Wir müssen jetzt zeigen: Ganz Wolfsburg steht hinter VW. VW sollte die Werke in Amerika zumachen, da spart VW Geld … der Tochtergesellschaft den Schaden aufbürden und pleite gehen lassen.
Schlussfolgerungen
– Der Porsche-Piëch-Clan hat viele Milliarden Profit kassiert und muss für die Folgen des Betruges zur Kasse gebeten werden. Konkret muss die Porsche Automobil Holding SE als Hauptgesellschafter von Volkswagen für die entstehenden Schäden in Haftung genommen werden, der Umbau des Konzerns ist mit deren Mitteln zu finanzieren. Dazu sind alle gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen. Das gilt auch für die Qatar-Holding, die Investmentsparte des Terrorstaats Qatar, der mit fast 20% an den Stammaktien beteiligt ist.
– Auf der Produktionsseite muss entschieden umgesteuert werden. Die bisherige Technologie, die bisherige Produktion und die Orientierung auf maximalen Profit sind untauglich, die gesellschaftlichen Anforderungen zu erfüllen. Da die Unternehmensleitung keinen Plan B hat, muss dieser Plan gesellschaftlich entwickelt werden: Der Staat, die Beschäftigten, die Gewerkschaft, Umweltverbände und Wissenschaft verständigen sich auf die Richtung einer anderen Produktion und einer anderen Mobilität. Die besondere Mitbestimmung durch das VW-Gesetz ebenso wie das Land Niedersachsen mit seiner Sperrminorität ermöglichen diese sozialökologische Wende mit starken wirtschaftsdemokratischen Elementen.
– Die weitere Massenmotorisierung verträgt sich nicht mit den begrenzten Ressourcen der Erde und mit dem Gebot, den Klimawandel zu stoppen. Es bedarf einer grundsätzlichen anderen Verkehrspolitik: weg vom motorisierten Individualverkehr, hin zu einem umweltfreundlichen und kostengünstigen öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Dieser Paradigmenwechsel bedarf der gesellschaftlichen Planung und der Mitbestimmung von Produzenten und Konsumenten.
So gewendet, birgt dieser Skandal, wie jede Krise, Chancen und Risiken. Es liegt an den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften, an der Linken, an der internationalen Solidarität und an globalen Klimaallianzen, ob diese Chancen genutzt werden. Die Alternative dazu wäre eine Marktbereinigung zulasten von vielen Städten und Gemeinden, von Hunderttausenden Beschäftigten und zugunsten der verbliebenen Autokonzerne.
* Stephan Krull war Mitglied des Betriebsrats von VW in Wolfsburg von 1990 bis 2006.
** Volksburg/Wolfswagen. 75 Jahre «Stadt des KdF-Wagen». (Hrsg. von Stephan Krull.) Berlin: Ossietzky, 2013. 164 S., 14,95 Euro.
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