von Carlos Pérez Soto*
Die Nacht der Hoffnung vor dem großen Ochi in Athen: Das demokratische «Nein» der vielen wird später vom Grundgesetz der europäischen Austerität missachtet. Griechenland ist aus chilenischer Perspektive nur ein weiteres starkes Beispiel für die Entdemokratisierung im Neoliberalismus.
Bei den Ereignissen rund um das griechische Referendum und der ihm folgenden Kapitulation der griechischen Regierung unter dem Druck der europäischen Banken handelt es sich für viele in Europa sicher um eine der gravierendsten Verletzungen des demokratischen Repräsentanzprinzips in den vergangenen Jahrzehnten. Aus chilenischer Sicht ist das nicht der gravierendste Fall. Griechenland ist aus hiesiger Perspektive nur ein weiteres starkes Indiz dafür, dass die politische Dimension des Neoliberalismus von einer Tendenz geprägt ist: die Entdemokratisierung der gegenwärtigen «Demokratien».
Dabei gibt es grundlegende Standards, die nach langen Kämpfen auch in bürgerlichen Demokratietheorien feststehen. Danach erfordert ein demokratisches System direkte Wahlen nach dem Verhältnisprinzip; keine öffentliche Macht darf sich der Volkssouveränität entziehen oder sie umgehen; staatliches Handeln unterliegt einer wirksamen Transparenzpolitik; Bürger werden mittels allgemeiner, verbindlicher Volksentscheide regelmäßig zu relevanten Angelegenheiten befragt. Diese Volksbefragungen können auch Mandate öffentlicher Amtsträger zurücknehmen. Bürger müssen in der Lage sein, mit Unterstützung eines vorgegebenen Anteils der Stimmberechtigten bestimmte Volksbefragungen zu erwirken oder das Parlament dazu zu zwingen, bestimmte Themen zu diskutieren.
Nichts davon geschieht, weder in Griechenland noch in Chile oder in einem beliebigen anderen Land, das Teil der neoliberalen Ordnung ist. Die Zentralbanken regieren und entscheiden über wesentliche Aspekte des Lebens unter Missachtung der Volkssouveränität. Über «Frei»handelsabkommen und staatliche Garantien für das transnationale Kapital und die Banken verhandeln die Parlamente im Geheimen und winken diese Abkommen häufig ohne Diskussion durch. Angesichts von niedriger Wahlbeteiligung und Stimmenthaltung haben viele Regierungskoalitionen keine wirkliche Mehrheitsunterstützung der Bevölkerung. Die geltenden Transparenzbestimmungen besitzen keinerlei reale Wirksamkeit. Viele gewählte Vertreter billigen regelmäßig Gesetzesvorhaben, die den Interessen der von ihnen Vertretenen zuwider laufen. Parlamente nehmen absichtlich vage gehaltene Gesetzesentwürfe an, die erst durch Verordnungen der Ministerien und Ämter wirklich Gestalt annehmen und dabei keinerlei Druck der Öffentlichkeit mehr unterliegen.
Rhetorische Untermalung
In der Praxis repräsentieren diese Systeme nicht mehr den Volkswillen. Vielmehr sind sie darauf ausgerichtet, öffentliche Güter im Sinne privater Interessen zu verwalten. Demokratische Rhetorik dient lediglich der Untermalung. Darin allerdings hat sich der Neoliberalismus als sehr wirksam erwiesen. In Chile haben die demokratischen Regierungen der Concertación schärfere Gesetze zur Merkantilisierung der Gesellschaft, der Bürgerrechte und des staatlichen Handelns verabschiedet als die Pinochet-Diktatur. Diese Form des Neoliberalismus braucht keinen Rückgriff auf eine Schockpolitik durch einen Militärputsch. Dieser Neoliberalismus verzerrt stattdessen den Charakter und die Praxis demokratischer Strukturen tiefgreifend und bis zur Unkenntlichkeit.
Immer wieder gab es die Hoffnung, an die Macht kommende linke Regierungen könnten sich dem Druck der neoliberalen Kräfte entziehen. Und immer wieder wurden diese Hoffnungen enttäuscht. Und immer wieder folgte der Vorwurf des Verrats. Ethische Fragen sind wichtig, um das Handeln einzelner in der Politik und in der Geschichte zu beurteilen. Aber bevor man solche Urteile fällt, sollte man zuallererst verstehen, was vor sich geht, und erst danach urteilen und – so denn gerechtfertigt – verurteilen. Ein wichtiger Teil der Regierung Tsipras glaubte doch offenbar trotz der überwältigenden Unterstützung durch das Referendum, dass das Risiko, die Banken auf der ganzen Linie herauszufordern, zu groß war. Er fürchtete eine akute Krise bei der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und mit Ressourcen zur Aufrechterhaltung der wenigen noch arbeitenden Betriebe. Er erwartete untragbare Erhöhungen der Preise für Energie, Wasser und Kommunikation. Er ging davon aus, dass er nicht in der Lage wäre, einer Wirtschaftsblockade durch die Eurozone standzuhalten, von der Griechenland in den elementarsten Fragen des Alltagslebens abhängig ist.
Ob die Ängste berechtigt waren oder nicht, ist nicht die zentrale Frage. Das entscheidende Problem besteht darin, dass Griechenland oder auch Spanien, Irland oder Portugal überhaupt solchen Befürchtungen ausgesetzt sind. Meines Erachtens liegt das entscheidende Problem in der folgenschweren Deindustrialisierung Europas. Griechenland verfügt nicht über den erforderlichen Produktionsapparat, um eine Wirtschaftsblockade realer Güter zu überstehen. Auch eine Finanzblockade hätte existenzielle Folgen.
Niedergang Europas
Dass ein Land ein anderes finanziell ausplündert, ist global nur deshalb möglich, weil die Hauptachse der kapitalistischen Realwirtschaft von den USA und Europa nach China und Indien sowie in andere Schwellenländer verlagert wurde. Es kann keine reale kapitalistische Hegemonie mehr geben, wenn die sie stützende produktive Grundlage verloren gegangen ist. Wer glaubt, dass die USA und Europa ihre Hegemonie und ihre Macht mit Finanzspekulationen und ihrer Vorherrschaft auf technologischem Gebiet aufrechterhalten können, unterliegt einer Illusion. Europa hat diese strategische Schwäche bislang verschleiert. Die dramatischste Wendung dabei ist die Plünderung eines europäischen Landes durch ein anderes. Dabei wird in Wahrheit nur die Tatsache verhüllt, dass sich die gesamte europäische Wirtschaft im Prozess des Niedergangs befindet. Heute stehen Deutschland und Frankreich gegen Griechenland, Spanien, Irland, Portugal. Morgen werden Italien, die Niederlande, Großbritannien und Frankreich selbst an der Reihe sein. Und der Tag ist nicht weit, an dem Deutschland im Schatten von China und Indien stehen wird.
Wir leben in einer tragischen, endgültigen Zeit, in der der jahrhundertealte europäische Dünkel nur noch kurz aufflackert, bevor er erlischt. Dieser Dünkel hat die Welt verwüstet. Und die Deutschen haben ihn immer besonders gut repräsentiert.
Reindustrialisierung auf Sparflamme
Wir alle stehen vor der großen Herausforderung, auf diese europäischen Probleme, die auch die lateinamerikanischen sind, möglichst konkrete Antworten zu finden. Meiner Ansicht nach macht eine radikal demokratische und gleichzeitig radikal linke Perspektive zumindest folgende Maßnahmen erforderlich:
Die erste und dringendste besteht darin, Schulden und Garantieverpflichtungen, die von korrupten Regierungen aufgenommen und eingegangen wurden, für nichtig zu erklären. Jede Form von Korruption muss in öffentlichen Gerichtsverfahren verhandelt werden. Dabei geht es nicht um einen Denkzettel, eine Einführung von Volksgerichten oder um die Verhängung exemplarischer Strafen. Es geht darum, die Strafbarkeit solcher Handlungen vor der eigenen Öffentlichkeit und gegenüber internationalen Gremien zu bekräftigen, ja dies sogar durch einen bindenden Volksentscheid zu bestätigen. Dies ist in Island exemplarisch erfolgt. [Damals wurde per Referendum entschieden, die Banken nicht zu retten und viele für die Bankenkrise Verantwortliche vor Gericht gestellt.] Das müsste sich vielerorts wiederholen.
Eine zweite Maßnahme bestünde darin, dass die Staaten öffentlich ankündigen, nicht mehr für die von privaten Banken oder sonstigen Unternehmen im Ausland aufgenommenen Schulden zu bürgen.
Solche Maßnahmen können die laufende Krise vielleicht verlangsamen, rückgängig machen können sie sie nicht. Um gegen ein alles verschlingendes Finanzkapital wieder Hoffnung auf eine reale Alternative zu schaffen, müssten wir radikal und zeitnah in autonome Nahrungsmittel- und Energieversorgung und in den Wiederaufbau von Leichtindustrie investieren. Ich spreche von einer Politik der Reindustrialisierung auf Sparflamme. Nur so haben alternative Modelle, wie sie in Griechenland gedacht wurden, eine Chance, sich gegen die zu erwartende ökonomische Blockade von Kapital und Waren zu wappnen. Damit dies nachhaltig gestaltet werden kann, ist es erforderlich, alle Naturressourcen zu nationalisieren, die für die Volkswirtschaft von strategischer Bedeutung sein könnten, und Gesetze zu erlassen, die sicherstellen, dass die daraus erwirtschafteten Güter der Gesamtgesellschaft zugutekommen. Diese Ressourcen könnten zudem als Grundlage für Verhandlungen mit den Weltwirtschaftsgremien dienen, um sich Spielraum für eine Politik der Autonomie und Reindustrialisierung zu verschaffen.
Sicherlich wird all dies mittelfristig nicht ausreichen. Ein demokratisches, radikales, linkes Programm müsste vorrangig die Ausgaben auf den Gebieten des Gesundheits- und Bildungswesens sowie des Rentensystems verstärken, auf der Grundlage dezentral verwalteter staatlicher Systeme, die in der Lage sind, den Bedarf vollständig abzudecken. Was wir wollen, ist weder idealistisch noch utopisch. Erstmalig in der Geschichte der Menschheit haben wir viel mehr Lösungen als Probleme zur Hand. Für die große, aus vielen Linken bestehende Linke, stellt sich die Aufgabe, so konkret wie möglich die beiden wesentlichen Aufgaben anzugehen: das Sammeln und das Vorantreiben.
* Carlos Pérez Soto ist Physiker und marxistischer Philosoph aus Chile. Wir entnehmen den Beitrag mit freundlicher Genehmigung dem «medico-Rundbrief» 3/15. (Übersetzung: Ralph Apel.)
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