von Sai Englert
Israel hat seine Repression gegen die Palästinenser verschärft. Extremistische Banden marodieren mit Rufen wie «Tod den Arabern» auf den Straßen auf der Suche nach palästinensischen Opfern, und die israelischen Behörden haben die Palästinenser vom Vorplatz der Al-Aqsa-Moschee verbannt. Doch für die westlichen Medien geht die Gewalt von den Palästinensern aus, während das obszöne Ausmaß der Gewalt gegen die Palästinenser und der Kontext der militärischen Besatzung übergangen werden. Bis heute (17.10.) sind seit Anfang Oktober etwa 40 Palästinenser getötet und 1600 verwundet worden (im selben Zeitraum wurden sieben Israelis Opfer von palästinensischen Attacken).
Der folgende Augenzeugenbericht vom 6.Oktober von SAI ENGLERT für die britische Webseite «revolutionary socialism in the 21st century» beschreibt die aktuelle Situation in Jerusalem.
An diesem Nachmittag ging ich in die Altstadt von Jerusalem. Sie ist wie eine Geisterstadt. Viele Läden sind geschlossen, so auch die meisten Zugänge zur Al-Aqsa-Moschee, wenige Palästinenser sind auf den Straßen. In den Passagen, die offen geblieben sind, sind viele Polizisten, nur Personen über 55 Jahre und Touristen erhalten Zugang. Die Straßen sind voll von mobilen Checkpoints. Jede Straßenecke ist von einer Gruppe «Polizisten» besetzt, die in Wirklichkeit Soldaten in anderer Uniform sind.
Überall, in allen Nachbarschaften, gibt es kleine Gruppen bewaffneter israelischer Siedler. Auf der Straße, auf der am Sonnabend [3.10.] zwei bewaffnete Siedler getötet worden waren, hält eine Gruppe von Komplizen ein Sit-in ab: mit Gitarren, Liedern, Kerzen und Fahnen sowie Schildern in Englisch und Hebräisch fordert sie Rache und Vergeltung. Sie lachen und schwatzen, größtenteils in perfektem amerikanischem Englisch – oder schlechtem Hebräisch – von «ihrem Land», «ihrer Nachbarschaft», «ihren Häusern».
Überall ist eine große Spannung, es ist entweder sehr ruhig oder sehr laut. Der Besatzer ist mit all seiner Macht überall präsent. Es sieht auch so aus, als wären die «Polizisten» bereit, länger zu bleiben. Die Touristen setzen ihre Besichtigungen fort und bewundern die Schönheit der Gebäude, als ob sie den sie umgebenden Horror gar nicht beachteten.
Was mit der Al-Aqsa-Moschee geschehen wird, ist jetzt eine offene Frage. Wird der Staat so vorgehen wie in Hebron (die Stadt im Westjordanland wurde in einen palästinensischen und einen israelischen Sektor geteilt) und auch die heilige Stätte teilen: in einen Teil für Juden und einen Teil für Muslime? Das scheint nun mehr als eine nur theoretische Möglichkeit.
In Jerusalem und im Westjordanland leisten die Menschen verstärkt Widerstand. Es ist noch weit bis zu der dritten Intifada, die so viele in den sozialen Medien ankündigen, in der Hoffnung, dass sie stattfinden wird.
Gestern [5.10.] haben die PLO und die Islamische Front in Ramallah eine gemeinsame Erklärung herausgegeben, in der sie zur Bildung von Volkskomitees zur Selbstverteidigung aufrufen. Palästinenser in Haifa haben Solidaritätsdemonstrationen organisiert. Die Schulen in Bethlehem streiken heute als Antwort auf die Ermordung des 13jährigen Abdel Rahman Shari durch die Armee im Flüchtlingslager Aida. Alle Universitäten im Westjordanland, im besetzten Jerusalem und im Gazastreifen streiken heute zum drittenmal innerhalb einer Woche.
Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) spielt weiter ihre Rolle als Außenposten der israelischen Polizei, da Präsident Abbas (Abu Mazen) die Polizei aufruft, die Demonstrationen so schnell wie möglich aufzulösen. Die israelische Armee verstärkt ihre Angriffe. In den letzten 72 Stunden wurden über 500 Palästinenser verwundet, 9 wurden getötet. Israelische Banden greifen Palästinenser auf den Straßen und in den Läden Jerusalems an.
Netanyahu stachelt seine Leute noch an, indem er die Repressalien ausweitet und Polizei und Soldaten ermutigt, jeden zu erschießen, der einen Molotowcocktail oder nur einen Stein wirft. Die Behörden haben in Ost-Jerusalem die Häuser von zwei «Terroristen» zerstört. Am Sonntagabend [4.10.] töteten Israelis den 18jährigen Huthayfa Othman Suleiman.
Netanyahu nutzte die Gelegenheit, um gegen die Hamas im Westjordanland vorzugehen, und ließ vor zwei Nächten den Gazastreifen bombardieren.
Der Zionismus lässt seine militärische Macht einmal mehr auf das palästinensische Volk los, und der Westen zahlt weiter die Rechnung und unterstützt das koloniale Projekt. Demonstrationen, Protestaktionen und die BDS-Kampagne für den Boykott Israels sollten verstärkt auf diese Situation antworten. Sie werden Palästina nicht befreien oder die aktuelle Agression stoppen, aber sie können den Druck auf den Westen und seine israelischen Freunde weiter verstärken. Sie können deutlich machen, dass die Welt nicht nur zusieht, sondern reagiert, aus Solidarität mit dem palästinensischen Volk, gegen den zionistischen Kolonialismus und Rassismus.
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