Interview mit Michel Warschawski
Israels Ministerpräsident Netanyahu sieht in den zunehmenden palästinensischen Angriffen nur eine neue terroristische Kampagne, die nichts mit der Politik Israels in den besetzten Gebieten zu tun hat. Diese These wird nicht nur von Palästinensern bestritten, auch von israelischen Aktivisten wie Michel Warschawski vom Alternative Information Center in Jerusalem. Mit ihm sprach am 13.10. die linke italienische Tageszeitung Il manifesto.
Für viele führende israelische Politiker hat dieser Konflikt keine Wurzeln, die tief in die vergangenen Jahre zurückreichten. Als sei er erst vor einigen Tagen ausgebrochen.
Viele Leute, auch im Ausland, haben ein kurzes Gedächtnis. Die palästinensische Gewalt, die wir seit einigen Tagen erleben, ist kein Selbstzweck, wie israelische Führer behaupten. Warum ist sie jetzt ausgebrochen? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Erstens ist die Zeit vorbei, in der die palästinensische Bevölkerung dem Präsidenten der Autonomiebehörde (PA), Abu Mazen, für Verhandlungen und den Abschluss eines Abkommens mit Israel zur Verfügung stand. Ich glaube, dass die Palästinenser, einschließlich Abu Mazen, verstanden haben, dass es keinen israelischen Partner gibt, der ernsthaft verhandeln will. Wir sind am Ende der Illusionen über den sog. Friedensprozess angelangt.
Der zweite Grund liegt in der langen Reihe schwerwiegender Provokationen der israelischen Regierung gegen die Palästinenser, angefangen bei ihrer Verbannung vom Vorplatz der Al-Aqsa-Moschee, ganz zu schweigen von der ständigen Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland. Wenn wir diese Provokationen in einen Zusammenhang mit dem Ende der Illusionen über den «Friedensprozess» bringen, ergibt sich die Reaktion, die wir in den letzten Tagen gesehen haben und die spontan gewesen ist.
Netanyahu wiederholt, dass seine Regierung am Status quo der Al-Aqsa-Moschee nichts ändern wird. Die Palästinenser und die islamische Welt glauben ihm nicht.
Die Organisationen und Gruppen, die, oft unterstützt von Ministern und Abgeordneten, mit Provokationen die israelische und jüdische Souveränität über den Vorplatz der Moschee durchsetzen wollen, haben diese Intifada zweifellos mit ausgelöst. Vergessen wir auch nicht die ständigen Polizeirazzien an diesem für die Muslime der ganzen Welt heiligen Ort, die auch bei den palästinensischen Christen für Empörung gesorgt haben. Wenn diese Provokationen vor der Moschee nicht aufhören, wird jedes Szenario vorstellbar. Deshalb hat selbst ein moderater arabischer Führer wie König Abdallah von Jordanien bei Netanyahu interveniert und ihn gewarnt, er könne mit diesen Provokationen eine verheerende Lawine auslösen.
80% der Angriffe der letzten Wochen in Jerusalem sollen das Werk von Palästinensern sein, die in der Stadt leben. Was bedeutet Jerusalem heute für einen Palästinenser?
Nach Hebron, der geteilten Stadt im südlichen Westjordanland, ist die Situation in Jerusalem heute für einen Palästinenser die schlimmste. Seit mehr als einer Generation sind die Palästinenser Jerusalems einer ständigen Aggression in ihren Wohnvierteln ausgesetzt, die arabischen Viertel wurden isoliert und durch israelische Siedlungen eingekreist mit dem Ziel, Jerusalem zu einer rein israelischen Stadt zu machen. Die Palästinenser Jerusalems stehen im Zentrum dieser Pläne und sind gleichzeitig vom Rest des Westjordanlands durch die von Israel zwischen der Heiligen Stadt und den besetzten Gebieten errichtete Trennmauer abgeschnitten.
Das Schweigen der israelischen Linken ist ohrenbetäubend.
Wenn wir damit die Arbeiterpartei und Peace Now meinen, können wir mit absoluter Sicherheit sagen, dass es die israelische Linke nicht mehr gibt. Yitzhak Herzog, der Führer dieser Partei, die sich immer noch Arbeiterpartei nennt, ist in einen Wettlauf nach rechts mit Netanyahu eingetreten. Er behauptet, der Ministerpräsident sei unfähig, «den Terrorismus zu stoppen und dem Land wieder Ruhe zu verschaffen». Was einst als moderate Linke bekannt war, existiert nicht mehr. Sicher gibt es immer noch die radikale Linke, aber sie kann nur einige hundert von den Tausenden mobilisieren, die man einst auf den Demonstrationen sah.
Warum versteht und unterstützt die Welt – vor allem die westliche – die Bestrebungen der Palästinenser nicht stärker?
Es gibt einen Unterschied zwischen der internationalen öffentlichen Meinung und der sog. internationalen Gemeinschaft. Erstere lehnt die Politik der israelischen Regierung ab und ist weitgehend für eine gerechte Lösung. Die internationale Gemeinschaft, die aus Regierungen und offiziellen Institutionen besteht, wird weitgehend von Netanyahu konditioniert. Sie gibt sich mit der Vorstellung zufrieden, dass Israel eine Festung der Stabilität in einer Krisenregion ist, in der extremistische Bewegungen wie der IS agieren. Netanyahu weiß das; seine Außenpolitik zielt genau auf die Befürchtungen des Westens, auch deshalb gelingt es ihm, ihn an seiner Seite zu halten.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.