Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2015
Eine verantwortliche Politik muss her – kein neues Asylgesetz!
von M. Moustapha Diallo*

«Von denjenigen, die gegen die Flüchtlinge wettern, würden wahrscheinlich 80% Flüchtlinge in der eigenen Familie finden, wenn sie drei Generationen zurückblickten!», kommentierte neulich der Trainer des SC Freiburg, Christian Streich, die hetzerischen Äußerungen pöbelnder Massen. Dieser kritische Blick auf die drängende Flüchtlingsproblematik kontrastiert aufs Eklatanteste mit der Haltung des zuständigen Ministers de Maizière.
Von der angeblich mangelnden «Dankbarkeit», den «sich prügelnden Asylbewerbern» bis zur fahrlässigen Bemerkung über Flüchtlinge, «die Hunderte von Kilometern mit dem Taxi fahren» würden, hat er kaum etwas ausgelassen, was dazu geeignet wäre, die Hilfesuchenden zu diskreditieren. Und es sind alle Hilfesuchende, ob man ihre Not anerkennen will oder nicht! Derartige Äußerungen von offizieller Seite entlarven eine Politik, die sich in Zäunen und Abgrenzungsstrategien offenbart. Sie drücken eine unzeitgemäße Wahrnehmung der Welt aus, eine Denkweise, die es zu überwinden gilt.

Wollte man sich auf das Argumentationsniveau des Ministers begeben, so könnte man Folgendes anmerken:
1. Viele von den Verzweifelten, die im Mittelmeer ihr Leben lassen, sind Nachfahren von Männern, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben riskiert bzw. gelassen haben, um Europa von der Nazi-Herrschaft zu befreien. Wieviel Dankbarkeit haben sie von deutscher bzw. europäischer Seite zu erwarten?
2. Würden sich Deutsche nicht prügeln, wenn man sie zu Hunderten auf engstem Raum zusammenpferchen würde? Dass sie dazu nicht einmal solch eine Stresssituation brauchen, kann man jedes Wochenende bei Fußballspielen beobachten.
3. Wer sagt denn, dass jemand, der Hilfe braucht, bettelarm sein muss? Also nicht mit dem Taxi fahren können darf? Es ist deprimierend, wie Volksvertreter angesichts greifbarer Not von Gipfel zu Gipfel rennen und ein Trauerspiel der zynischsten Art vorführen.
Statt unbedachter – um nicht zu sagen demagogischer – Bemerkungen, sollten die Entscheidungsträger endlich einsehen, dass die Abertausenden, die mit Nachdruck an die Türen Europas klopfen, vor Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen geflohen sind: vor politischer oder religiöser Verfolgung; vor Waffen, die oft aus Europa kommen; und nicht zuletzt vor der Gewalt, die der weltbeherrschenden Wirtschaftspolitik innewohnt: Das gilt für die rücksichtslose Spekulation auf Lebensmittel ebenso wie für das hemmungslose Preisdumping, etwa in Afrika, durch den Export von Milchüberschüssen und Ausschüssen – Hühnerrücken, Schweinepfoten u.a. –, die die Produzenten in den benachteiligten Ländern in den Ruin treiben.
Dass die Gewalt der bestehenden Verhältnisse tödlich ist, zeigen nicht nur Katastrophen wie die zusammengestürzte Textilfabrik in Bangladesh, sondern auch Zigtausende, die täglich in brutaler Stille an Hunger und seinen Folgen sterben. Mit Blick auf die Gleichgültigkeit gegenüber dem vermeidbaren Leid von Millionen forderte Peter Weiss vor zwanzig Jahren, als das Asylrecht unter frustrierenden Umständen ausgehöhlt wurde: «Wir müssen massive Anstrengungen unternehmen, um die ärgerliche Unterscheidung zwischen ‹realen› und ‹wünschenswerten› Rechten zu überwinden, um Richter, Regierungsvertreter und die Öffentlichkeit insgesamt davon zu überzeugen, dass ein knurrender Magen die menschliche Würde genauso verletzt wie mitternächtliches Klopfen an der Tür. Diese Anstrengungen müssen auch politische Aktionen beinhalten.»
Gegen die Panik, die jetzt von verschiedener Seite verbreitet wird, sei daran erinnert, dass vor nicht allzu langer Zeit an die 3 Millionen Russlanddeutsche aufgenommen wurden, die heute nicht mehr aus Deutschland wegzudenken sind. Dass für diese Migranten ganze Siedlungen gebaut wurden, offenbart den politischen Unwillen, eine ähnliche Haltung gegenüber den ebenso oder noch mehr gebeutelten Syrern, Afghanen, Afrikanern etc. einzunehmen. Warum eigentlich?

Fluchtursachen bekämpfen?
Auf die Frage nach der Lösung für das Flüchtlingsproblem heißt es mittlerweile allenthalben: Wir müssen die Herkunftsländer unterstützen! Wir müssen die Ursachen von Flucht bekämpfen!
Beim jüngsten UN-Entwicklungsgipfel im Juli in Addis Abeba konnte man feststellen, wie ernst die westlichen Regierungen diese Erklärung meinen: «kompromisslos und mit allen Mitteln der Einschüchterung» beharrten die Vertreter der reichen Länder auf dem Status quo und lehnten nahezu alle Vorschläge der krisengeschüttelten Länder ab. Angesichts der unübersehbaren Vernachlässigung des «öffentlichen Wohls» zugunsten der «Gewinnmaximierungsinteressen transnationaler Konzerne» fordert Bernd Pickert, Redakteur der Taz, von dem diese Zitate stammen, zu Recht: «Spätestens wenn das nächste Mal ein europäischer Regierungspolitiker daherredet, man könne nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, man solle besser die Fluchtursachen angehen, gehört ihm das Abschlussdokument von Addis Abeba so lange um die Ohren gehauen, bis es richtig wehtut.»
Wie unverantwortlich und entlarvend die aufkeimende «Das Boot ist voll»-Debatte ist, ist dem Parteifreund von de Maizière, Kurt Biedenkopf, aufgestoßen: «Immerhin haben wir 500 Jahre die Welt regiert als Europäer, haben überall ausgebeutet, wo wir hingekommen sind.» Gegen ein Verständnis von Globalisierung als Fortsetzung dieser Praxis sind die Belange der Benachteiligten energisch zu behaupten. Die Verbreitung von Panik bedeutet deshalb eine perfide Untergrabung der kulturellen Erneuerung, die eine menschliche Weltgesellschaft erfordert
«In der Tat ist auf der Grundlage einer universalistischen Ethik nicht ohne weiteres einzusehen, warum der Sozialstaat auf die eigene Nation beschränkt sein sollte.» So bringt das der deutsche Philosoph Vittorio Hösle auf den Punkt. Mit anderen Worten: Ob Flüchtlinge Europa weiter bedrängen, hängt davon ab, ob Europa seine egoistische Politik weiterbetreibt. Dass hinter jeder Flucht der Drang nach würdigem Leben, Sicherheit und Freiheit steht, ist aus der Geschichte der westlichen Welt bestens bekannt.

Hilfe oder Selbstgefälligkeit?
«Unterlassene Hilfeleistung» ist nicht zufällig ein juristisch relevanter Begriff und wird strafrechtlich verfolgt; er gilt auch für das Leid von Menschen am anderen Ende der Welt. Zumal es nachgewiesenermaßen vermeidbar ist. Eine Gesellschaft, in der Tiere mehr zur Verfügung haben als 2 Milliarden Menschen, ist eine zutiefst kranke Gesellschaft. In einem Interview legte der französische Wirtschaftswissenschaftler und langjährige Berater von François Mitterrand, Jacques Attali, kürzlich das Versagen der aktuellen Entscheidungsträger offen und nannte zwei Möglichkeiten für den Ausgang aus der derzeitigen Krise: Entweder es komme irgendwann zu einer Revolution, oder ein neuer Typ von Politikern betrete die Bühne, ein «weitsichtigerer Typ als die kleinen Männer, die heute die vermeintlich großen Nationen regieren». Hinzuzufügen ist nur der einfache Satz: «Es gibt keine neue Politik, wenn man sie nicht einfordert.»

* M.Moustapha Diallo kommt aus dem Senegal und ist in Deutschland freiberuflich als Publizist und Übersetzer tätig. Veröffentlichungen u.a. zu den Themen «Interkulturalität» und «Postkoloniale Studien».

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