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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2015
Kriegsdiskurs des Präsidenten

von Gilbert Achcar

Mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes begeht Frankreich einen Fehler
Der Kriegsdiskurs des französischen Präsidenten zielt darauf ab, diese Maßnahme zur Norm zu machen.
Ein strategischer Irrtum, verbunden mit einem politischen Fehler, der das Risiko des Terrorismus
weiter anwachsen lässt.François Hollande hat auf die Schmach des Terrorismus, der neuerlich im Herzen von Paris zugeschlagen hat, mit einer „Kriegserklärung“ reagiert – so wie dies George W. Bush angesichts der „Mutter
aller terroristischen Attentate“ mitten in New York gemacht hat. Dadurch hat sich der französische
Präsident bewusst über die Kritik an der Entscheidung der Bush-Administration hinweggesetzt, die
zur damaligen Zeit die vorherrschende Meinung sogar in Frankreich gewesen ist (und auch von den
früheren Außenministern Hubert Védrine und Dominique de Villepin geteilt wurde). Er hat dies trotz
der verheerenden Bilanz des „Krieges gegen den Terrorismus“ der Bush-Administration getan, die
diese Kritik vollumfänglich bestätigt hat. Sigmar Gabriel, der deutsche Vizekanzler und Vorsitzende
der SPD, der Bruderpartei der französischen PS, hat erklärt, von Krieg zu sprechen hieße das Spiel des
Islamischen Staates (Daesh) zu betreiben.
Zunächst könnte es scheinen, dass der Kriegsdiskurs nur eine verbale Überreaktion darstellt, eine Art,
auf die legitime Emotion zu reagieren, die das abscheuliche Attentat mit bislang 130 Toten hervorgerufen
hat.
Doch wird der Kriegsdiskurs von der Durchsetzung eines Gesetzes durch François Hollande begleitet,
das den Ausnahmezustand auf drei Monate verlängert. Der Präsident möchte außerdem die französische
Verfassung ändern, um die Ausnahmen von den demokratischen Regelungen auszuweiten, obwohl
es sich um eine Verfassung handelt, die 1958 in einer Situation des Ausnahmezustandes entstanden
ist. Sie sieht bereits die Möglichkeit des Ausnahmezustandes (Art. 16) und des Belagerungszustandes
(Art. 36) vor. Nun werden schlimmste Verletzungen der Menschenrechte möglich: der Entzug
der Staatsbürgerschaft, die Haft ohne Anklage, sowie weitere Freifahrtscheine für die Repressionskräfte.
Was aber noch schlimmer ist: Im Gegensatz zu den Attentaten in New York wurden diejenigen im Januar
und November 2015 in Paris von französischen Staatsbürger_innen begangen (deswegen die
Drohung mit dem Entzug der Nationalität). Während der Kriegszustand seinem Wesen nach per se
ein Ausnahmezustand ist, also ein Zustand der Aufhebung der Rechte der menschlichen Person, gibt
es einen qualitativen Unterschied in den Konsequenzen, je nachdem ob der Krieg außerhalb des nationalen
Territoriums stattfindet, oder ob sich der potenzielle Feind im Lande selbst befindet. Die USA
konnten die Ausübung der – abgebauten - Bürgerrechte dem Grunde nach wiederherstellen, nachdem
die Sicherheit ihres Territoriums neuerlich gegeben war, wohingegen sie den Ausnahmezustand
im Ausland praktizierten und dies weiterhin tun. Die ganze Heuchelei von der Aufrechterhaltung des
juristischen Niemandslandes Guantanamo bis zu den extralegalen Hinrichtungen durch Drohnen
macht aus dem Pentagon den brutalsten aller Massenmörder.
Aber Frankreich? Das Problem des Dschihad gehört zu seiner Geschichte. Und dies so sehr, dass die
erste Konfrontation mit dem Dschihad auf die blutige Eroberung Algeriens durch die französische Armee
vor bald zweihundert Jahren zurückreicht, auch wenn der Dschihad von heute sich qualitativ
vom früheren durch seinen totalitären Charakter unterscheidet. Sodann war der französische Militärund
Sicherheitsapparat mit der algerischen FLN (nationale Befreiungsfront) konfrontiert, deren Zei-tung El Moudjahid („der Dschihadist“) hieß.
Übersteigerter Groll
Frankreich hat, als es sich ab 1955 auf diesen dreckigen Krieg einließ, ein Gesetz über den Ausnahme-zustand erlassen. Und unter den Bedingungen des Algerienkrieges wurde der Ausnahmezustand zum letzten Mal vor dem 14. November 2015 in den Jahren 1961 bis 1963 auf dem gesamten Staatsgebiet verkündet. Im Rahmen jenes Ausnahmezustandes wurden auf französischem Boden schlimme Unta-ten verübt, neben den Verbrechen, die in Algerien massenhaft geschahen.
Der Ausnahmezustand wurde am 8. November 2005, also fast genau vor zehn Jahren, für einen Teil Frankreichs neuerlich ausgerufen. Die Beziehung zum Algerienkrieg ist damals niemandem entgan-gen: Ein Großteil der jungen Leute, die sich an den Aufständen der Vorstädte beteiligt haben, waren „Produkte“ der langen französischen Kolonialgeschichte in Afrika. Dies trifft genauso auf den größten Teil der französischen Dschihadisten der letzten Jahre zu, die unter den Bedingungen des zunehmen-den Grolls und der Hoffnungen auf die dann enttäuschten Versprechungen aufgewachsen sind, der 2005 seinen Ausbruch fand. Es handelt sich um diejenigen, die unter dem leiden, was kein geringerer als Ministerpräsident Manuel Valls in einem flüchtigen Moment politischer Einsicht am 20. Januar 2015 „die territoriale, soziale und ethnische Apartheid“ genannt hat.
Die logische Konsequenz dieses Eingeständnisses läge gerade in der Beendigung des territorialen, so-zialen und ethnischen Ausschlusses der eingewanderten Teile der Bevölkerung und aller Diskriminie-rungen, die sie erleiden muss; dies wäre die erste Antwort auf die Gefahr des Terrorismus. Damit muss eine Außenpolitik einhergehen, die den Verkauf von Kanonen und das militärische Gehabe ei-nes Staates, der sich als imperiale Macht ausgibt, durch eine Politik des Friedens, der Menschen-rechte und der Entwicklung gemäß der Charta der UNO, die er mit verfasst hat, ersetzt. Der schwedi-sche sozialdemokratische Außenminister, der den Verkauf von Waffen an das Königreich Saudi-Ara-bien durch Händler seines Landes untersagt hat, hat den richtigen Weg aufgezeigt.
Eine adäquate Antwort auf die Gefahr des Terrorismus läge auch in einer entschiedenen, aber nicht aufdringlichen Unterstützung aller Männer und Frauen, die im Nahen Osten und in Nordafrika gegen die Despoten der Region für Demokratie und Emanzipation kämpfen, gleichgültig ob es sich um Öl-monarchien oder Militär- oder Polizeidiktaturen handelt. Der „arabische Frühling“ von 2011 hat für einige Zeit den dschihadistischen Terrorismus an den Rand gedrängt. Seine Niederlage unter Mithilfe der Großmächte hat, gestärkt durch die frustrierten Hoffnungen des „Frühlings“, zu seiner kraftvollen Wiederauferstehung geführt.
Gilbert Achcar ist Professor an der SOAS (Hochschule für orientalische und afrikanische Studien) der Universität London.
Aus: Le Monde, 26. November 2015
Übersetzung: Paul B. Kleiser

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