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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2015

Rache, nicht wahlloser Mord
von Patrick Cockburn*

Der Islamische Staat (IS) hat stets Zivilisten in großer Zahl massakriert, um seine Stärke zu zeigen und seinen Feinden Furcht einzuflößen. Der Westen nimmt diese Scheußlichkeiten allerdings nur wahr, wenn sie auf seinen Straßen geschehen, obwohl Selbstmordattentäter des IS am 12.November in Beirut 43 Menschen und am 13.November in Bagdad 26 weitere töteten.
Diese Angriffe zu stoppen ist nahezu unmöglich, weil sie sich direkt gegen Zivilisten richten, die nicht alle verteidigt werden können, und die Attentäter auch bereit sind zu sterben, um ihre anvisierten Ziele zu vernichten.

Der IS hat sich zu den Pariser Anschlägen bekannt und Frankreich zur Zielscheibe erklärt – wegen der französischen Bombardements in Syriens. Der Einsatz von acht Selbstmordattentätern und Todesschützen in der Hauptstadt eines Landes, der somit die maximale Medienberichterstattung garantiert, hat alle Merkmale einer Operation.
Ein unheilvoller Unterschied zu den Angriffen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt im Januar besteht darin, dass die jüngsten Anschläge, vermutlich aufgrund der Urheberschaft des IS, besser geplant und raffinierter ausgeführt wurden. Die Rekrutierung, die Bewaffnung, die Koordinierung und die Verborgenheit, in der sich die Attentäter bis zum letzten Moment halten konnten, zeugen von einer guten Organisation. Dasselbe gilt für das Schmuggeln einer Bombe an Bord eines russischen Flugzeugs vor dessen Start in Sharm al-Sheikh am 30.Oktober.
Welche Erklärung gibt es für die jüngste Intensivierung der IS-Selbstmordattentate außerhalb Syriens und des Irak? Tötung von Zivilisten, die als Komplizen der Taten ihrer Regierungen betrachtet werden, war stets Teil der Ideologie von al-Qaeda – seit den Anschlägen vom 11.September in New York. Die Attentätern greifen die weichsten Ziele heraus und sind entschlossen, sich selbst zusammen mit ihren Feinden zu töten als Demonstration ihres religiösen Glaubens.
Aber es gibt einen weiteren Grund, warum der IS zeigen will, dass er überall auf der Welt zuschlagen kann: Zum ersten Mal seit zwei Jahren, seit er im westlichen Irak und östlichen Syrien einen eigenen Staat errichtet hat, wird er an mehreren Fronten zugleich militärisch zurückgedrängt. In der Vergangenheit hätte er sich seinen zahlreichen, aber uneinigen Feinden nacheinander entgegengestellt, doch jetzt sieht er sich an mehreren Fronten gleichzeitig attackiert.
Die syrische Armee beendete Anfang November, unterstützt von russischen Luftangriffen, die Belagerung der Airbase Kweiris westlich von Aleppo durch den IS. Es ist der größte Erfolg der syrischen Regierung seit zwei Jahren. Die syrischen Kurden rücken in Zusammenarbeit mit der US Air Force nach Süden gen Hasaka vor, während die irakischen Kurden, ebenfalls mit US-Luftunterstützung, die Stadt Sinjar westlich von Mossul eroberten. Der IS hat nun Schwierigkeiten, sich zwischen Raqqa und Mossul zu bewegen, und könnte seinen Zugriff auf die Ölfelder im Nordosten Syriens verlieren, die seine Einkommensquelle sind.
Diese Entwicklungen auf den Schlachtfeldern im Irak und Syrien scheinen weit entfernt vom Massaker im Herzen von Paris. Aber es ist wichtig zu begreifen, dass der IS eine effektive Kampfmaschine ist, weil seine militärischen Fähigkeiten, in jahrelangen Kämpfen entwickelt, eine schlagkräftige Mixtur aus städtischem Terrorismus, Guerillataktik und konventioneller Kriegführung sind. Seinen blitzartigen Vorstößen im Irak im Sommer 2014 ging eine Welle von Selbstmordattentaten voraus, bei denen Fahrzeuge voller Sprengstoff in den Schiitenvierteln Bagdads und des Zentral-Irak verwendet wurden. Damit sollten die Feinde in Schrecken versetzt und durcheinander gebracht werden, potenziellen Anhängern sollte vermittelt werden, dass der IS eine Macht im Lande war.
Niemand in der übrigen Welt schenkte den Tausenden irakischer Schiiten groß Beachtung, die damals getötet wurden und weiterhin durch Terroranschläge des IS im Irak sterben. Die Zahl der im Irak getöteten Zivilisten stieg von 4623 im Jahr 2012 auf 9473 im Jahr 2013 und auf 17045 im Jahr 2014 – laut der unabhängigen Webseite Iraqi Body Count. Ein großer Teil dieser Getöteten waren schiitische Opfer von Bombenangriffen und Exekutionen durch den IS. Diese Barbarei wiederholt sich nun auf den Straßen von Paris und Ankara, wo am 10.Oktober 102 Friedensdemonstranten von zwei Selbstmordattentätern getötet wurden.
Es ist Teil des Taktikhandbuchs des IS, gegen jeden Gegner mit allen Mitteln auf spektakuläre Weise Vergeltung zu üben. So reagierte er auf US-Luftangriffe, die er militärisch nicht verhindern konnte, mit schockierenden Videos von der Enthauptung amerikanischer Journalisten und Entwicklungshelfer. Als die Enthauptungen ihre Schockwirkung verloren, verbrannte der IS einen jordanischen Piloten bei lebendigem Leib in einem Käfig.
Der IS besteht darauf, die Tötung von Zivilisten sei nicht wahlloser Mord, sondern Rache: Eine dem IS verbundene Gruppe, die behauptete, hinter dem Abschuss des russischen Flugzeugs und seiner 224 Insassen zu stehen, zeigte im Internet Bilder vom Flugzeugwrack zusammen mit Aufnahmen von Gebäuden in Syrien, die russische Bomben zerstört hatten. Damit bringt er zum Ausdruck, wenn ein Land ihn aus der Luft bombardiert, wird er am Boden mit städtischem Terrorismus antworten, der von einem gutorganisierten Staat unterstützt wird. Es ist schwer vorstellbar, dass es so etwas je zuvor gegeben hat.
Diese Terrorakte erfordern einige Ressourcen, aber keine größere Ausbildung, denn die ausgewählten Ziele sind schutzlos wie die britischen Touristen am Strand von Tunesien oder die Menschen in Paris, die während eines Rockkonzerts ermordet wurden. Es bedarf keiner großen Anzahl islamischer Fanatiker, um diese Monstrositäten durchzuführen, die in der ganzen Welt ein Echo finden. Der IS hat eine große Anzahl ausländischer Kämpfer in seinen Reihen und findet gewöhnlich fanatische Anhänger in den Ländern, die er zur Zielscheibe ausersehen hat.
Es gibt einen weiteren Grund, warum der IS möglicherweise leichter potenzielle Selbstmordattentäter außerhalb des Kalifats findet und verwendet. Einer der Rückschläge, die er in diesem Jahr erlitten hat, ist der Verlust des Hauptgrenzübergangs zwischen Syrien und der Türkei bei Tal Abyad, der im Juni von der syrisch-kurdischen YPG erobert wurde. Die Hälfte der etwa 900 Kilometer langen Grenze zwischen Euphrat und Tigris wird nun von der YPG gehalten, sodass der Zugang des IS zur äußeren Welt stärker eingeschränkt ist als zuvor. Die USA haben intensiven Druck auf die Türkei ausgeübt, damit sie dem IS und anderen salafistischen Jihad-Gruppen nicht erlaubt, die Grenze zu Syrien westlich des Euphrat zu überschreiten. Personen, die möglicherweise zuvor durch die Türkei gereist sind, um in Syrien zum IS zu stoßen, werden nun zu Hause bleiben und ein potenzielles Reservoir von Selbstmordattentätern bilden.
Der IS ist im Irak und Syrien einem bisher nicht gekannten militärischen Druck ausgesetzt, aber dies bedeutet nicht, dass er implodieren wird. Er kann sowohl in der Defensive als auch in der Offensive kämpfen. Es sieht so aus, als ob er in Schlachten, in denen feindliche Bodentruppen von russischen oder amerikanischen Luftstreitkräften unterstützt werden, nicht bis zum Äußersten zu kämpfen bereit ist. Es wird berichtet, dass IS-Kommandeure glauben, dass es ein Fehler war, so lange um Kobanê gekämpft zu haben, wo sie wohl infolge der US-Luftangriffe über 2000 Kämpfer verloren haben. Stattdessen wird sich der IS mehr auf Guerillataktiken in Syrien und im Irak verlegen und die Konfliktzone ausweiten, indem er im Ausland Terroranschläge durchführt – wie gerade in Paris erlebt.

* Quelle: http://www.counterpunch. org/2015/11/13/bombing-isis-into-the-heart-of-europe-the-new-face-war/.
Paul Cockburn ist Autor von The Rise of Islamic State. ISIS and the New Sunni Revolution.

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