von Holger Weiss*
In diesen Monaten der Flüchtlingsströme über die sog. Balkanroute nach Mitteleuropa, vor allem nach Deutschland, erleben wir einen markanten Gegensatz: Viele Menschen engagieren sich in der Willkommenskultur («Refugees welcome»). Dagegen aber steht die wütende, fremdenfeindliche Ablehnung hasserfüllter Menschen, die zum Umfeld von Pegida und der AfD stoßen.
Es geht hier nur oberflächlich um Pro und Contra Migration, es geht im Kern um einen tiefen Gegensatz zweier Mentalitäten. Beide sind in der menschlichen Seele angelegt, aber nicht gleichursprünglich und gleichwertig. Wir sind von Anfang an Beziehungswesen, die Spiegelneuronen zeigen das sogar neurophysiologisch. Wir sind sozusagen auf Mitfühlen programmiert, aber das ist keine unveränderliche Konstante, Mitfühlen kann schon Kindern abgewöhnt werden. Was treibt nun die Hasserfüllten um? Und was hat das mit der kapitalistischen Krisenentwicklung zu tun?
Elementare Beziehungserfahrungen
Die Unzulänglichkeit einer Psychologie, die den Menschen isoliert betrachtet, zeigt sich besonders deutlich, wenn es um das Verständnis rassistischer Einstellungen geht: Weder persönliche Erfahrungen mit Migranten noch die Anzahl von Ausländern am Wohnort sind entscheidend für die Entstehung rassistischer Einstellungen – die Suche in diese Richtungen lenkt vom Kernproblem ab und kann einer rassistischen Einstellung sogar Vorschub leisten: Als hätte es mit den Eigenheiten einer Minderheit zu tun, wenn sie zur Zielscheibe von Hassgruppen wird.
Nicht kulturelle Eigenheiten von Flüchtlingen sind das Problem beim Verständnis der Fremdenfeindlichkeit, sondern die Psyche des Ausländerhassers ist das Problem. Ein vertieftes Verständnis solcher Hasseinstellungen ist auf eine Psychologie angewiesen, die den Menschen von Anbeginn des Lebens als soziales Wesen begreift, das in seinem Erleben, Fühlen und Denken durch elementare Beziehungserfahrungen entscheidend beeinflusst wird. Dies betrifft sowohl unsere Früherfahrungen im familiären Mikrobereich wie unsere späteren Erfahrungen im Makrobereich ökonomischer und soziokultureller Strukturen und Einflüsse.
Kapitalismus ist generell ein System der Unsicherheit und Ungerechtigkeit für die breite Masse der Menschen; wenn es mal eine Zeitlang besser geht – wie in der Goldenen Nachkiegsperiode mit Vollbeschäftigung und sozialstaatlichen Reformen, die diesen Namen auch verdienten wie die Rentenreform von 1957 mit Lebensstandardsicherung –, dann kann Vertrauen wachsen in die Verlässlichkeit von Grundlagen für individuelle Lebensplanung und Zielsetzungen. Mit diesen psychischen Gesellschaftserwartungen geht es wie mit dem Sauerstoff zum Atmen: wie wichtig er ist, wird einem erst bewusst, wenn er knapp wird.
Solche sozialen Phasen sind im Kapitalismus aber immer nur Zwischenphasen, auf die wieder Krisenverschärfung und die Abwälzung von Problemen auf die breite Masse durch Massenarbeitslosigkeit und Einkommensverluste folgen. So war es in den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise 1929 und so ist es mit dem Neoliberalismus seit den 80er Jahren.
Die Tarnung sozialer Grausamkeiten mit Hilfe von «Reform»gerede ist spätestens seit der Großen Finanzkrise von 2008 endgültig am Ende, was bleibt ist ein sozialstaatlicher Niedergang ohnegleichen: sinkende Realeinkommen seit zwanzig Jahren, unsichere Arbeitsplätze, wachsender Niedriglohnsektor und Prekarisierung – alle 99% kriegen das irgendwie mit, vor allem die Hartz-IV-Geschädigten und die durch Angst vor Jobverlust und sozialer Ausgrenzung disziplinierten Beschäftigten. Alle spüren die gesamtgesellschaftliche Krise und es gibt keine überzeugend-übergreifende Perspektive, die Leitmedien machen in Alternativlosigkeit und Schönsprech, die Herrschenden wursteln sich durch, ein Beispiel ist die Euro-Dauerkrise, wo ein Krisengipfel den anderen jagt.
«Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit»
Wilhelm Heitmeyer hat mit seiner Bielefelder Arbeitsgruppe zehn Jahre lang die «deutschen Verhältnisse» – so der Titel der jährlichen Berichte – und die mit ihnen sich verändernden Einstellungen der Menschen untersucht. Ein zentrales Ergebnis war, dass in diesen Jahren eines «immer rabiateren Kapitalismus» (Heitmeyer) viele Menschen mit zunehmender sozialpsychologischer Verhärtung reagierten: Die zentrale Änderung in der Einstellung vieler Menschen angesichts dieser Entwicklung nennt Heitmeyer «Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit» (GMF).
Der Vorteil dieser unhandlichen Bezeichnung ist, dass sie das Spektrum von Einstellungen benennt, um das es bei dieser Mentalitätsentwicklung geht – nämlich den flexiblen hochaggressiven Kernbereich, der sich mal als Antisemitismus, mal als Homophobie, mal mehr als Fremden- und Migrantenfeindlichkeit oder Islamophobie äußern kann, ohne sich in seiner psychisch und sozial aggressiven Bedeutung wesentlich zu verändern.
Heitmeyers Forschungen haben die kollektiv-emotionale Ventil- und Ablenkungsfunktion von irrationalen Sündenbockkonstruktionen aufgewiesen und damit die ökonomische und politische Verursacherebene benannt.
«Suffering makes people bad»
Unsere Psyche hat verschiedene Möglichkeiten, auf Dauererfahrungen von Not, Ungerechtigkeit und Demütigung zu reagieren. Günstigenfalls kann sie, wenn sie mit relativ guten Widerstandskräften ausgestattet ist, die Erfahrungen aushalten, ohne innerlich einzuknicken, und sich aktiv damit auseinandersetzen: kognitiv nach einem Verstehen der Situation, ihrer Gründe, Veränderungschancen und Reaktionsmöglichkeiten suchend; emotional mit Angst, Beschämung und Wut umgehend, ohne sich davon überfluten und das Denken ausschalten zu lassen – eher helfend, die Gefühle auf die Ursachen zu richten und in Motivation zu widerständigem Denken und Handeln zu verwandeln. Dadurch lassen sich Wege zur solidarischen Verbindung mit anderen Betroffenen finden, denn die Erfahrung, nicht allein zu sein und gemeinsam zu überlegen und zu handeln, stärkt die realitätsorientierten Seiten der Psyche.
Andererseits kann, wer zu wenig Empathie erfahren hat, sie selber kaum empfinden und weitergeben. Als Kernaussage kann gelten, was der bedeutende Psychoanalytiker Michael Balint sagte: «Suffering makes people bad.» Suffering heißt: von Menschen zugefügtes Leiden in allen Dimensionen der menschlichen Existenz – durch Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Lieblosigkeit, Verächtlichmachung, soziale Ausgrenzung…
Viele Menschen schalten angesichts belastender und verwirrender Erfahrungen und Nachrichten ab und ziehen sich in die innere Emigration zurück, die vielleicht mit privatisierter Religion verbrämt wird. Wieder andere weichen zwar der Auseinandersetzung mit den Hintergründen und Perspektiven von Problemen und Krisen aus, halten aber Ohnmachtsgefühle, Angst und Hass angesichts ungelöster Probleme schwer aus und drängen nach rascher Gefühlsentlastung, indem sie sich an Sündenböcken abreagieren.
Stichworte von oben
Diese Art emotionaler Entlastung trägt primitiven, wahnhaften Charakter, sie ist zugleich eine große Ablenkung von den wirklichen Problemzusammenhängen. Gerade deswegen ist diese emotionale Abreaktion mittels Wut und Hass gegen stereotype Feindbilder bei den Herrschenden immer beliebt. Sie hilft ihnen, Verwirrung unter den Objekten und Opfern ihrer Politik zu stiften und diese gegeneinander aufzuhetzen. Sie praktizieren damit eine Variante der grundlegenden Beherrschungsregel: Teile und herrsche.
Geschichtlich und auch gegenwärtig können wir erkennen, dass das Hochkochen aggressiver Emotionen gegen Minderheiten grob der Kurve der kapitalistischen Krisenperioden folgt. Exemplarisch kann man das an der ansteigenden Woge des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich nach der sog. Gründerkrise, dem Platzen der Spekulationsblase nach der Reichsgründung 1871, sehen. Der prominente preußische Historiker Treitschke gab damals die Losung aus: «Die Juden sind unser Unglück», und bahnte der Wut und Angst vieler Menschen ein antisemitisches Ventil. Der Antisemitismus sollte die Menschen auch davon abhalten, in eine antikapitalistische Richtung zu gehen. Diesem Ziel diente auch das damalige Verbot der SPD.
Das Schema ist simpel, aber es funktioniert noch heute. Es sind die Stichworte von oben, die die dumpfen Stammtischstimmungen, die es überall und immer gibt, erst hoffähig machen. Man denke nur an Schröders «Faulenzer»-Angriffe auf die Arbeitslosen, mit denen er die Hartz-IV-Gesetzgebung flankierte, oder an die Hetze gegen die «faulen Griechen» in der Bild-Zeitung. Die Melodie ist dieselbe, sie kann je nach konkreter Situation im Piano gespielt oder bis zum Fortissimo gesteigert werden.
Kanzler Kohl hat sie 1992 fortissimo gespielt, als er zur Ablenkung von der Wirtschaftskrise nach dem Vereinigungsboom gegen die «Asylantenflut» wetterte und mit einem verfassungswidrigen «Staatsnotstand» drohte, falls die SPD nicht der faktischen Abschaffung des Asylrechts zustimmen würde, was sie auch tat.
Sarrazin und seine kruden Thesen von der genetischen Minderwertigkeit der Türken in Deutschland haben das Thema vor Jahren wieder angestimmt. Bezeichnend für die Rechtsentwicklung der sog. Mitte war die Aufwertung Sarrazins in Interviews und die Aufwertung seiner Thesen als sog. Diskussionsgrundlage durch Medien und Politiker.
Genauso machen sie es heute wieder mit den fanatisierten Massen von Pegida und AfD, «deren Sorgen man ernst nehmen müsse». Die soziale Situation, gerade im Osten, muss man ernst nehmen, nicht das sinnlose Gerede von der «Verteidigung des Abendlands gegen den Islam».
Offizielle Politik und Leitmedien spielen wieder mit dem Feuer: das kannte man schon aus der Weimarer Republik, auch damals hatte man viel Verständnis für die antisemitischen Hetzreden, auch wenn man sich vom «Radau-Antisemitismus» der Nazis vornehm distanzierte.
Mittelschichten unter Druck
Die verschärften xenophobischen Stimmungen und Ausschreitungen sind ein Signal, dass die Temperatur im Kessel gestiegen ist: Alle spüren, dass sie draufzahlen müssen, um das System, das als alternativlos hingestellt wird, ständig zu retten. Die Menschen in Deutschland spüren, dass es ihnen zwar besser geht als der Bevölkerung im verarmten Südeuropa, aber das hilft nicht auf Dauer: Die Menschen «fühlen» sich nicht nur «zu kurz gekommen», wie der Historiker Norbert Frei kürzlich in der Zeit schrieb, sie kommen tatsächlich zu kurz, und das bei zugleich exorbitant steigendem Reichtum der 1%!
Prominente neoliberale Ökonomen wie Prof. Sinn leisten hierzu einen typischen Beitrag, er heizt die xenophobe Stimmung noch an, indem er zur Förderung der Integration der Flüchtlinge die Abschaffung des Mindestlohns fordert. Auf die Idee, eine Reichensteuer dazu einzuführen, kommt er natürlich nicht.
Tatsache ist, dass vor allem die Mittelschichten, deren Status immer relativ instabil ist, immer mehr unter Druck geraten, die nun schon viele Jahre beschriebene Abstiegsangst der Mittelschicht hat sich durch reale Abstiegserfahrungen verschärft.
Die deutsche Mittelschicht neigt von ihrer Geschichte her zur autoritären Identifizierung, das Radfahrersinnbild des Untertans, der nach oben buckelt und nach unten tritt, besitzt nach wie vor Gültigkeit. So war es im Kaiserreich gewollt, als man die neue Mittelschicht der Angestellten mit einer eigenen Versicherung ausstattete, damit sie sich ja nicht mit der Arbeiterbewegung verbündete. Und es war vor allem die von den Herrschenden mitverursachte und nach rechts gelenkte «Panik in der Mittelschicht», die in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 die Nazis nach oben puschte.
In der heute wieder verschärften sozialen Entwicklung steht die Mittelschicht in Europa und in Deutschland vor entscheidenden Weichenstellungen: Entwickelt sie sich mental in die Richtung einer rational-realistischen Systemkritik – exemplarisch dafür steht Attac und die Berliner Demonstration der 250.000 gegen TTIP – oder lässt sie sich vor den Karren der rechten Rattenfänger spannen?
Dass die großen Flüchtlingsströme dieses Herbstes in Deutschland eine humane Hilfswelle auslösten zeigt aber auch, wie viele Menschen hier von Empathie und solidarischer Hilfsbereitschaft getragen sind und sich engagieren. So verbinden sich in der heutigen Situation Hoffnung und Warnung.
* Holger Weiss ist Psychotherapeut in Süddeutschland.
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