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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2015

Regierungskrise: Zwischen Tolerierungsabkommen und Diktat des Staatspräsidenten
von esquerda.net*

Am 8.November verkündete der Vorsitzende der sozialdemokratischen Sozialistischen Partei (PS) ein Tolerierungsabkommen, das die PS in separaten Verhandlungen mit dem Linksblock (Bloco de Esquerda) und der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP) ausgehandelt hatte. Die PS hat darin über 70 Maßnahmen zugestimmt, die sie in ihr Regierungsprogramm übernehmen will.
Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva von der liberal-konservativen Partei PSD hat sich jedoch lange geweigert, der PS den Auftrag der Regierungsbildung zu erteilen. Statt dessen beauftragte er zunächst die bisherige bürgerliche Koalition aus PSD und der rechtskonservativen CDS unter dem Vorsitz des bisher amtierenden Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho mit der Bildung einer Minderheitsregierung. Dieser sprach das Parlament allerdings am 10.November sein Misstrauen aus.
Angesichts wachsenden Widerstands gegen die Haltung des Staatspräsidenten, auch im bürgerlichen Lager, vor allem wegen der Verfassungswidrigkeit seines Vorgehens, hat dieser am 23.November den Generalsekretär der PS empfangen und ihm eine Liste von Bedingungen überreicht, die er zu erfüllen hat, bevor er mit der Regierungsbildung beauftragt werde. Am 24.Januar wird der Staatspräsident neu gewählt.
In der Note des Präsidenten heißt es: «Der Präsident der Republik hat den Generalsekretär der Sozialistischen Partei gebeten, förmlich einige Fragen zu klären, die in den Dokumenten, die einzeln und asymmetrisch von der Sozialistischen Partei, dem Linksblock, der Kommunistischen Partei und den Grünen unterschrieben sind, Zweifel an der Stabilität und Dauerhaftigkeit einer Minderheitsregierung der PS für die Dauer der Legislaturperiode wecken.» In der Note sind sechs Forderungen enthalten:
– die Respektierung der Haushaltsgesetze der Regierung, insbesondere des Haushaltsgesetzes für 2016;
– die Einhaltung der Regeln der Haushaltsdisziplin, die in allen Ländern der Eurozone gelten und vom portugiesischen Staat unterschrieben wurden, namentlich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, des Fiskalpakts, des Europäischen Stabilitätsmechanismus und der Teilnahme Portugals an der Währungs- und Bankenunion;
– die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen Portugals im Rahmen der Organisationen der kollektiven Verteidigung;
– die Verpflichtung zur Stabilität des Finanzsystems;
– die Respektierung des Ständigen Rats der sozialen Konzertation;
– die Unterwerfung unter Vertrauensvoten.

Das Tolerierungsabkommen
Das Tolerierungsabkommen hat folgende Schwerpunkte:
Renten und Löhne
Renten und Löhne im öffentlichen Dienst werden wieder auf das Niveau vor den Sparpaketen (vor 2011) angehoben. Für die Renten soll dies ab dem 1.Januar 2016 gelten, die Löhne und Gehälter werden das Jahr 2016 hindurch alle drei Monate angehoben, bis das alte Niveau erreicht ist.
Der Mindestlohn steigt auf 530 Euro 2016, 557 Euro 2017 und 600 Euro 2019. Beschäftigte, die unter die Armutsgrenze fallen, haben Anrecht auf ein neu eingeführte «Jahreslohn-Ergänzung».
Das Kindergeld, der Solidarbeitrag für Ältere und das garantierte Mindesteinkommen kommen wieder auf das Niveau von 2011.

Prekarität und Tarifverträge
Eine Arbeitsgruppe soll ein Nationales Programm gegen Prekarität ausarbeiten. Die Gewerbeaufsicht erhält mehr Mittel und Personal, damit sie Missbräuche wie Scheinselbständigkeit und Kettenpraktika aufdecken kann. Neueingestellte sollen Tarifschutz erhalten.
Forscher mit Doktortitel, die bislang nur Lehraufträge erhielten, sollen ordentliche Arbeitsverträge erhalten, die ihnen sozialen Schutz gewähren, damit sie nicht gezwungen sind, im Ausland Arbeit zu suchen.
Die Aufstiegsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst werden wiederhergestellt. Sobald die Gehälter das alte Niveau erreicht haben, wird im öffentlichen Dienst die 35-Stunden-Woche wieder eingeführt und Neueinstellungen wieder zugelassen.

Selbständige und Kleinunternehmer
Die Beiträge zur Sozialversicherung werden für abhängig Beschäftigte, die weniger als 600 Euro verdienen, auf 4% reduziert. Bei Selbständigen, die derzeit monatlich fixe Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen haben (selbst wenn sie über kein Einkommen verfügen) richtet sich deren Höhe nach dem Einkommen der letzten Monate.
Um den Sozialstaat finanzieren zu können, wird eine «exzessive Rotation von Beschäftigten» bestraft; Unternehmen, die hauptsächlich auf der Basis prekärer Beschäftigung einstellen, müssen eine Zusatzsteuer bezahlen. Sie gilt auch für Unternehmen, die hohe Profite machen, aber nur wenig Beschäftigte haben.

Urlaubstage, Mehrwertsteuer, Privatisierungen…
Der Tag der Republik und der Tag der Unabhängigkeit werden ab 2016 wieder Feiertage; über die Wiedereinführung der religiösen Feiertage wird mit der Katholischen Kirche verhandelt.
Die Steuerprogression wird erhöht, indem mehr Steuerstufen eingeführt werden. Der Steueraufschlag soll 2016 halbiert, 2017 abgeschafft werden. Der Familienfaktor wird ersetzt durch einen Kinderfreibetrag. Die Steuer auf private Immobilien mit niedrigem Wert soll 75 Euro im Jahr nicht übersteigen.
Die Mehrwertsteuer von 13% für die Gastronomie wird wieder eingeführt. Die PS hat es aber abgelehnt, die Mehrwertsteuer auf Strom auf 6% zu senken, wie der Linksblock vorgeschlagen hatte. Familien mit niedrigem Einkommen sollen den Strom jedoch billiger bekommen; das betrifft 500000 Haushalte.
Verschuldete Haushalte werden vor der Verpfändung ihrer Eigenheime geschützt. Wenn die Schulden niedriger sind als der Wert des Eigenheims, wird auf die Steuereintreibung verzichtet. Für die Begleichung von Steuer- oder Beitragsrückständen sollen flexible Abzahlungspläne erarbeitet werden.
Die laufenden Privatisierungen des öffentlichen Nahverkehrs von Lissabon und Oporto werden eingestellt, ebenso die Wasserprivatisierung dort, wo sie gegen den Willen der Kommunen geschah. Die PS erklärt sich einverstanden, öffentliche Aufgaben nicht mehr in Lizenz zu vergeben und öffentliche Unternehmen nicht mehr zu privatisieren.

Bildung und Gesundheit
An öffentlichen Schulen wird die Lernmittelfreiheit wieder eingeführt. Die Klassen sollen verkleinert und jedermann der Besuch der Vorschule ermöglicht werden.
Die Ausbildung von Ärzten wird gefördert. Notfallpatienten müssen für den Krankenhausaufenthalt nicht zahlen, wenn sie von den zuständigen Stellen eingewiesen werden. Die Verschreibungsquote für Generika soll auf 30% erhöht werden. Chronisch kranke Patienten, die nicht im Krankenhaus behandelt werden, bekommen wieder Zuschüsse zu ihren Medikamenten. Die neue Regierung will alles tun, um die Wartezeiten in öffentlichen Krankenhäusern zu verkürzen.
Bestehende Öffentlich-Private-Partnerschaften werden von einer unabhängigen externen Kommission evaluiert.

* Quelle: www.esquerda.net/en

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